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XXXIV. Nummer 32. Hier.

An diesem Abend war der »Pfau« von Menschen überfüllt. Die Sensation von Abbé Montroses Verschwinden und die geheimnisvolle Mordaffäre waren eine riesige Reklame für das Lokal geworden. Dreimal mußten die Türen geschlossen werden, so groß war der Andrang von neugierigen Gästen. Dem Morgengewölk, der in seiner roten und weißen Fülle die Residenz hinter dem Bartisch wieder eingenommen hatte, gefiel dieser Andrang gar nicht, denn er verstand die Veranlassung sehr wohl. Einige Neugierige, die ganz naiv die Frage stellten, ob sie das Zimmer sehen könnten, wo der Professor ermordet worden sei, begegneten einem furchtbaren Blick aus den geschwollenen Augen des Gewittergewölks und einem heiseren, brummenden Laut, dessen Bedeutung nur Rudolf erfaßte. Der verständnisvolle Kellner eilte herbei und brachte die zudringlichen Frager draußen auf der Straße in Sicherheit.

»Verschwinden Sie, meine Herren, verschwinden Sie um Gottes willen. Er brummt nur einmal. Dann kommt es.«

»Was kommt dann?« fragten die hinausgeworfenen Gäste mißmutig.

Rudolf deutete mit sprechender Plastik an, was kommen würde, wenn die Gewitterwolke noch einmal brummte. Und diese Plastik war in Meister Rudolfs Darstellung so deutlich, daß die Neugierigen verstummten. Es war also nicht ratsam, dem Gewittergewölk heute zu nahen. Seine schlechte Laune lastete auch auf seiner Umgebung, den schönen, weißen Wolken in Tüll und Puder, die seinen mächtigen Korpus flankierten. Diese Verzagtheit im Wolkenreich gab indessen Veranlassung zu intimerem Gedankenaustausch. Der junge Herr mit der goldenen Kette fehlte auch an diesem Abend nicht. Er war ganz glücklich, weil seine Auserkorene, statt wie sonst herumzuschwärmen und mit den Gästen zu schäkern, still und ordentlich mit ihrer Häkelnadel dasaß. Wie sie dort so nett und häuslich mit niedergeschlagenen Augen saß, konnte sie für ein tugendreiches Edelfräulein aus vergangenen Zeiten gelten, während der junge Mann, der noch immer kein Wort sagte, sondern sie nur anstarrte und hin und wieder an seinem kleinen, grünen Glas nippte, das Stadium der unglücklichen, unerwiderten Liebe noch nicht überschritten zu haben schien. Die einzige, die etwas störend wirkte, war wie gewöhnlich Dora. Ihren feuchtglänzenden Augen konnte man ansehen, daß sie sich bereits reichlich mit den Flaschen beschäftigt hatte. Noch aber war sie weit von ihrem Höhepunkt entfernt, wenn sie mit zerzaustem Haar und gellender Stimme die Orgien im galanten »Pfau« anzuführen pflegte. Die anderen Mädchen machten ihrer verhaltenen Unruhe Luft, indem sie Puderdosen austauschten, gegenseitig an ihren Parfüms rochen und ihre Nägel und Handspiegel sorgfältig polierten. Und das Gewittergewölk brummte.

Für den aber, der in dem Gewimmel dieses Abends handelnd eingreifen sollte, war dieses Gedränge vortrefflich und willkommen. Es waren so viele fremde Gesichter da, daß keines von den neuen Aufmerksamkeit erweckte. Sogar der schärfste Beobachter konnte nichts anderes entdecken, als den Zustrom von Neugierigen und die augenfällige Unruhe über die unheimlichen Ereignisse. Und dennoch ging im Gewühl etwas vor, etwas Bestimmtes, etwas, was von geheimnisvollem Augenzwinkern, listigen Zeichen und hastigen Zuflüsterungen im Vorbeigehen begleitet wurde. Ein Mann mittleren Alters, mit einem harten, unsympathischen Gesicht, kam durch die Hoteltür. Er blieb eine Weile stehen, ganz unangefochten vom Gedränge, und spähte beobachtend durch die Menge. Dann ließ er sich mit einer heftigen Bewegung auf einem Taburett vor der Bar nieder und bestellte ein Getränk. Er kam gerade in dem Augenblick, als Dora sich eine ausgelassene Lachsalve gestattete. Sie hielt mitten im Lachen inne und sah ihn an, fuhr dann aber fort zu lachen, wenn möglich noch lauter. Auf seinem Gesicht war kein Zeichen des Wiedererkennens zu bemerken. Übrigens war auch niemand da, der seiner achtete. Es war ein Fremder, er hatte kurzes, kohlschwarzes Haar, das mit einer dicken Locke in die Stirn fiel.

Warum lachte Dora? Die arme Dora mußte ihren Ruf, die heiterste zwischen den Heiteren zu sein, aufrecht erhalten – sie lachte meistens über gar nichts. In ihrer halb betrunkenen Exaltation stimmte sie ohne die geringste Veranlassung muntere Lachsalven an, nur, um dem Morgengewölk zu beweisen, daß sie, was Fröhlichkeit anbetraf, eine einzig dastehende Anziehungskraft sei. Diesmal aber hatte sie wirklich Ursache zu ihrer Ausgelassenheit. Der kleine Vicomte, Pol, der Liebling aller Mädchen und aller Nachtkabaretts, war von einem kleinen Ausflug zurückgekehrt, er war eine Stunde fort gewesen und befand sich jetzt in einem Zustand, der höchst bedauerlich von Spiritus beeinflußt war.

Pol und Dora saßen an einem polierten Marmortisch und steckten die Köpfe zusammen. Pol erzählte. Er war in einem heimlichen Spielklub gewesen.

»Erst setzte ich hundert«, sagte er, »und verlor. Da setzte ich zweihundert und verlor. Da setzte ich dreihundert und verlor. Dann setzte ich eintausend und gewann, bravo. Da setzte ich nochmals tausend, und gewann wieder. Da setzte ich nur hundert, und verlor zweihundert. Verlor. Da setzte ich tausend und gewann, bravo.«

Dora lachte ungewöhnlich laut.

»Lassen Sie mich mal sehen,« sagte sie. Pol zog eine Handvoll Scheine und Gold aus der Tasche. Dora schrie nach Champagner. Zwei Champagnerpfropfen knallten. Pol trank und verschüttete das meiste auf den Marmortisch. Dora trank und verschüttete noch mehr, worauf sie wie zufällig die eine Flasche unter dem Tisch verschwinden ließ und zwei neue Flaschen unter zunehmender Munterkeit bestellte. Und Pol erzahlte:

»Ich gewann beständig. Da kam der Wirt, ein sehr feiner Herr, Whiskers, englischer Lord, eine goldene Uhr mit Wappen in der einen Tasche, ein falsches Kartenspiel in der anderen. Hm, hm. Es freut mich, Ihr Glück im Kartenspiel zu sehen, sagte der Wirt, ein Glas, mein Herr. Nein, danke, sagte ich, aber eine Zigarre, dadurch kann man nicht betäubt oder vergiftet werden, sagte ich. Darauf setzte ich tausend und gewann. Da weinte der Wirt, keine Tränen, sondern Whisky. Dann kamen Damen, schöne Damen, bravo. Gib mir einen Schein von deinem Gewinn, sagte Leonora, du kennst sie gewiß. Zwei, sagte ich, zwei Scheine, und dann stopfte ich sie ihr in die Taille, weißt du, hier, versuchsweise, schrei doch nicht so verflucht, Dora ...« Sie aber schrie überglücklich und behielt die Scheine, indem sie noch dazu die Hand auf ihre Brust legte.

Der arme Pol wurde indessen immer betrunkener, einmal schlummerte er sogar ein, den Kopf auf der Marmorplatte, wurde aber unbarmherzig von Dora geweckt, die ihm eins auf den Kopf gab. Da hob er seinen Kopf wieder, er war bei dem elegischen Stadium angelangt, er hatte Tränen in den Augen und vertraute Dora flüsternd seine heiße Liebe an. Während er vergeblich vom Stuhl auf die Knie zu fallen versuchte, wechselte Dora verstohlen Blicke mit dem unsympathischen Fremden. Er zündete sich gerade eine Zigarre an, und durch Zigarrenrauch blickten seine Augen verschlagen, kalt und befehlend.

Weder diese heimlichen Zeichen, noch Pols unglückselige Betrunkenheit oder Doras Heiterkeit hatten indessen Aufmerksamkeit geweckt. Dazu waren derartige Auftritte viel zu alltäglich im »Pfau«, außerdem wimmelte das Lokal von Menschen, so daß es nicht möglich war, bei all dem Lärm ein Wort zu verstehen. Der Mann mir der schwarzen Stirnlocke bezahlte und ging und ein neuer Gast nahm seinen Platz ein.

Es war ein ältlicher Herr, einer jener Typen, die man häufig in dergleichen Lokalen sieht, traurige Ruinen ehemaliger Lebemänner. Sein Gesicht war rot geschminkt, einige Haarsträhne lagen ihm über der Stirn, wie die leeren Strohhalme einer eingefahrenen Heuernte, und wenn er sich bewegte, knackte es hörbar in seinen podagrakranken Gliedern, außerdem legte er einen von Gehirnerweichung zeugenden Mangel an Beredsamkeit an den Tag. Aber er war entzückt über die Gegenwart der Schönen und kniff unaufhörlich das Monokel ins Auge, um hinter den Schenktisch zu sehen. Und wenn er etwas Amüsantes entdeckt zu haben meinte, sagte er: »Äh ... äh ... äh ...« und lachte.

Dieser ältere Lebemann nahm später Pols Platz ein, als der berauschte Spieler nach einer flüsternd geführten Unterhaltung mit Dora schwankend das Lokal verließ.

Die muntere und robuste Dora hatte ihm offenbar ganz den Kopf verdreht.

Der Marmortisch sah traurig aus nach Pols Orgien.

»Pfui,« sagte der ältere Herr.

Gleichzeitig aber legte er seine flache Hand auf den Rand des Tisches und dort ließ er sie die ganze Zeit liegen.

In dem Marmor waren einige fast unsichtbare Zeichen eingeritzt, und diese Zeichen bedeckte der ältere Herr mit seiner Hand.

Dort stand:

»Nummer 32. Hier.«

Und das hatte Pol mit seinem Diamantring eingeritzt.


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