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XXIII. Husarenweg 28

Der Mann kam durch den Garten von dem südlichen Eingang, dem Tor, das dem Mayonnaise-Viertel zugekehrt war und das Detektiv Keller hinter sich offen gelassen hatte.

Als der Laufende aus dem Schatten der Bäume trat und der Sonnenschein auf seine Gestalt fiel, sahen die beiden Polizeibeamten, daß Metall auf seiner Brust glänzte.

»Uniform,« sagte Krag.

»314,« vervollständigte Keller.

»Richtig,« rief Krag, »jetzt erkenne ich ihn auch. Er scheint es furchtbar eilig zu haben.«

»Etwas Wichtiges muß sich ereignet haben,« sagte Keller, »sehen Sie nur, wie er läuft. Er wirbelt eine ganze Staubwolke auf.«

Es dauerte nicht viele Minuten, bis der Schutzmann den großen Garten durcheilt hatte. Diese Zeit benutzten die beiden Detektive, um sich über ihn zu unterhalten, als ob sie Zuschauer bei einem Wettrennen seien. Beide waren aufs höchste gespannt, welche Nachrichten der Schutzmann bringen würde, aus alter Gewohnheit aber verbargen sie ihre Neugierde unter gleichgültigen Worten.

Als der Schutzmann nähergekommen war, sagte Krag:

»Es ist ja derselbe, der an dem Morgen, als das Drama anfing, hinter den Verbrechern herlief. Es ist natürlich nicht passend, in einer so ernsten Sache zu scherzen, aber sieht es nicht aus, als ob er die ganze Zeit hinter der Lösung des Rätsels hergejagt sei und jetzt resultatlos zum Ausgangspunkt zurückkehrte? Bravo 314, was bringen Sie uns für Neuigkeiten?«

Schutzmann 314 blieb vor seinen beiden Vorgesetzten stehen und meldete stockenden Atems folgendes, was den beiden Detektiven wirklich einen Stoß gab:

»Habe zu melden ... einen Mord ... einen Mord auf dem Husarenweg Nr. 28.«

Krag und Keller fuhren in die Höhe und riefen wie aus einem Munde:

»Das ist Arnold Singers Haus!«

Tatsächlich hatte das neue Verbrechen in der Wohnung des verhafteten Gartenarbeiters stattgefunden. Und der, der diesmal von Mörderhand gefallen war, war Charlie – Clary Singers Bruder.

*

Was den beiden Detektiven zuerst zu denken gab, war der Umstand, daß 314 ausgeschickt worden war, um den verdächtigen Menschen, den sie das Gefängnisgesicht nannten, einzufangen und daß er nach einiger Zeit zurückkehrte und von einem Mord berichtete.

Es war darum nicht zu verwundern, daß sie das eine mit dem anderen in Verbindung brachten, und als die drei Männer im Auto saßen, das sie in sausender Fahrt nach dem Husarenweg 28 brachte, fragte Keller seinen Untergebenen:

»Haben Sie das Gefängnisgesicht zu fassen bekommen?«

»Nein,« antwortete der Schutzmann, »er entkam mir in den engen Gassen in der Nähe des ›Vergoldeten Pfaus‹.«

Der Schutzmann berichtete:

»Fast hätte ich ihn erwischt, als er aber in dem Mayonnaise-Viertel untertauchte, entkam er mir. Sie wissen, wie leicht es ist, sich dort zu verbergen, wo die dunklen Torwege so dicht nebeneinander liegen, wie Rattenlöcher in einem alten Speicher. Nachdem ich eine Weile dort herumgeschlichen war, erfuhr ich von einem Kollegen, der von einem Patrouillendienst zurückkehrte, daß eine Gestalt von dem Äußeren des ›Gefängnisgesichtes‹ sich just durch die Himmelsgasse geschlichen hatte, wo der ›Vergoldete Pfau‹ liegt. Da ich wußte, daß dieser Mensch im Pfau zu verkehren pflegt, nahm ich sofort ein Auto und fuhr dorthin. Als ich aus dem Auto stieg, wollte das ›Gefängnisgesicht‹ sich gerade aus dem Tor des ›Vergoldeten Pfau‹ schleichen. Mich sehen und wieder in das Tor zurückspringen, war eins. Und ich hinter ihm her.«

Als der Schutzmann, der offenbar ein gründlicher und zuverlässiger Mann war, in seinem Bericht bis hierher gekommen war, versuchte er, trotz des Rüttelns des Autos, etwas auf einem Stück Papier aufzuzeichnen. Krag aber hielt ihn davon zurück.

»Ich verstehe,« sagte er, »Sie wollen uns einen Riß von der Lage des ›Pfau‹ aufzeichnen, aber wir wissen schon Bescheid. Durch das Tor kommt man auf einen Hof, voll von altem Gerümpel, Treppen, Ecken und Winkeln.«

Der Schutzmann nickte.

»Dann werden Sie auch begreifen,« sagte er, »daß es dem Kerl ein Leichtes war, sich vor mir zu verbergen. Es dauerte zehn Minuten, bevor ich feststellen konnte, daß er über eine Planke entkommen war, die den Hof des ›Pfau‹ von dem nächsten Hof trennt. Dieser Hof ist wenn möglich noch winkliger und schmutziger als der erste. Und von diesem führt abermals ein enger Gang zu den Resten eines alten Gartens, und von dort aus gelangt man wieder zu einem neuen Wirrwarr von Hinterhöfen und Bauplätzen, die an die kleinen Arbeiterwohnungen auf dem Husarenweg grenzen. Auf diese Weise kann man, wenn man all diesen Winkeln und Gängen folgt, durch die ganze stinkende Häusermasse gelangen, die die Himmelsgasse von dem Husarenweg trennt – jedenfalls, wenn man genügend Lokalkenntnis besitzt. Und das schien mein Mann zu haben, wie ich leider zugeben muß.«

»Es scheint ein Weg für Verbrecher zu sein,« bemerkte Keller bitter, indem er seiner eigenen Niederlage gedachte, »auf demselben Weg sind gestern schon zwei Mörder entkommen.«

Der Schutzmann fuhr fort:

»Als ich schließlich auf dem Hinterhof von Husarenweg Nummer 28 stand, konnte ich nur noch feststellen, daß das ›Gefängnisgesicht ‹ schon längst entkommen sein mußte. Meine Nachforschungen in dem Gewimmel der Hinterhöfe hatten mindestens eine Viertelstunde gedauert.«

Krag, der die Zeit feststellen wollte, fragte:

»Sind Sie sicher, daß das ›Gefängnisgesicht‹ fünfzehn Minuten Vorsprung hatte?«

»Mindestens,« antwortete der Schutzmann, indem er überlegte. »Vielleicht waren es sogar zwanzig Minuten. Und nachdem ich es festgestellt hatte, gab ich die Verfolgung auf. Da trat aber etwas ein, was mich auf die Spur des neuen Verbrechens brachte. Wie ich bereits gesagt habe, befand ich mich auf dem Hinterhof zu dem Hause Nummer 28 auf dem Husarenweg. Während ich noch stand und überlegte, ob ich zum ›Vergoldeten Pfau‹ zurückkehren sollte, um wenigstens etwas über das ›Gefängnisgesicht‹ zu erfahren, geschah etwas im höchsten Grade Überraschendes. Eine Frau, die ganz verstört schien, zeigt sich plötzlich in einem der offenstehenden Fenster des Hauses, streckt die Arme aus und ruft herzzerreißend um Hilfe. Es war eine junge und schöne Frau, die mit allen Anzeichen äußersten Entsetzens drauf und dran war, sich aus dem Fenster zu stürzen. Ich lief näher und sah die Ursache ihrer Verstörtheit: Auf dem Sofa im Zimmer lag die Leiche eines ermordeten Mannes.«

»Und die Frau war Clary Singer?« fragte Krag.

»Ja,« antwortete der Schutzmann, »und der Ermordete war ihr Bruder. Jetzt aber sind wir am Ziel, meine Herren, hier ist Husarenweg Nummer 28.«

Das Auto der Polizei wurde gleich von einer glotzenden, neugierigen und verängstigten Menschenmenge umringt. Die Neuigkeit hatte sich bereits in der Nachbarschaft verbreitet. Viele Menschen waren versammelt. Vor dem Gitter des kleinen Gartens stand ein leerer Doktorwagen. Die Gittertür wurde von einem grobgliedrigen Polizeibeamten in einer engschließenden Uniform bewacht. Da waren Menschen in allen Altern, von jenem bestimmten Kleine-Leute-Typ, der immer herbeiströmt, wenn etwas Ernstes geschieht, eine Feuersbrunst, ein Verbrechen, oder wenn ein Kind überfahren ward. Da stand der barfüßige Straßenjunge mit seinem Kreisel, ernst, mit aufgerissenem Mund, von kleineren Kindern umgeben, die kaum miteinander zu flüstern wagten, rotbäckige Weiber, die dicken, bloßen Arme über dem Leib gefaltet, Arbeiter vom Neubau in der Nähe, einige mit ihrem Werkzeug in der Hand, andere ohne Hüte, ein Beweis von der Eile, mit der sie ihre Arbeit verlassen hatten. Ferner sah man die Typen zufällig Vorbeigehender, wie man sie bei Aufläufen auf der Straße anzutreffen pflegt: Den feinen graubärtigen Herrn im Zylinderhut, der auf einem Spaziergang begriffen war, den Telegraphenboten, der von seinem Rad gestiegen ist, die verstörte alte Dame, die bereits ihr Taschentuch gezogen hat, der Herr im Rollstuhl, der unbarmherzig seinem Schicksal überlassen worden ist – alle vermischten sich ohne Standesunterschied zu einer flüsternden, erschreckten, fragenden Menge. Weit, weit hinten in der Straße aber sieht man einen Mann auf Flügeln von Staub dahergeeilt kommen, einen Boten aus entlegenen Stadtteilen, wo die Neuigkeit bereits hingelangt ist.

Die Luft war neblig geworden, und ein kalter Wind, der Regen prophezeite, zerrte an den Bäumen des kleinen Gartens. Die geöffneten Fenster von Nummer 28 erschienen unnatürlich schwarz und gähnend, mit jenem drohenden Ausdruck, den Fenster in einem Haus haben, wo ein Unglück geschehen oder ein Feuer gerade gelöscht ist. Drinnen im Zimmer aber flatterten die Gardinen wie dunkle Schatten.


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