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Hat auch das Märchen seine Regel? Uebel, wenn es solche nicht hätte, da bei seiner tiefen Einwirkung auf die Seele des Menschen, bei seinem noch tiefern Grunde in unsrer Natur es ein ungeheures Mittel zu Bildung oder Mißbildung menschlicher Gemüther sein kann. Beides ist es, obwol nach verschiedenen Zeiten und Völkern verschieden, immer gewesen und wird es bleiben.
1. Staunend erwachen wir in die Welt; unser erstes Gefühl ist, wo nicht Furcht, so Verwunderung, Neugierde, Staunen. »Was ist das Alles um mich her? wie ward's? Es geht und kommt; wer zieht die Fäden der Erscheinung? Wie knüpfen sich die wandelnden Gestalten?« So fragt, sich selbst unbewußt, der kindliche Sinn; von wem erhält er Antwort? Von der stummen Natur nicht; sie läßt erscheinen und verschwinden, bleibend in ihrem dunkeln Grunde, was sie war, was sie ist und sein wird.
Da treten zu uns sie, die uns selbst aus dem Schooße der Natur empfingen und einst selbst so fragten; wie sie belehrt wurden, so belehren sie uns, durch – Sagen. Das gebildetste System der Geo- und Kosmogonie bleibt Sage; mehr noch mußten es die frühen Anfänge sein, die über das Woher und Wie der Dinge Rechenschaft gaben, ohne daß sie ihr Dasein selbst verstanden.
Daher die ältesten, die kosmogonischen Märchen aller Völker; sie waren Erklärungen der Natur in dem, was man täglich oder jährlich vor sich sah. Wo man nicht wußte, dichtete man und erzählte.
2. Die älteste Naturlehre konnte also nicht anders als Märchen werden; und sie ward's, hie und da auf eine rohe, oft aber und gewöhnlich mit der Zeit auf eine sinn- und verstandreiche, angenehme Weise. »Wie erhuben sich diese Berge? wie entstanden diese Blumen? Woher das mit sich selbst kämpfende Nordlicht? Woher der Blitz, der Donner, die Urne des Regens, der Hagel? In Blumenflocken fällt Schnee vom Himmel: wer streut die Blumen? Dort brüllt und tobt ein flammenspeiender Berg: wer ächzt unter dem Berge? Auf dunkeln Wolken hängt dort ein farbiger Bogen: wer hing ihn auf?« So fragte über alle Erscheinungen der Natur die jugendliche Neugier; allenthalben ward sie, wie man sie geben konnte, durch Sagen belehrt.
Insonderheit erweckten seltne Erscheinungen der Natur den Geist des Märchens. Manche Gegenden, sind sie nicht wie von diesem Geiste bewohnt? Hier dies romantische Thal, dort jener zauberische Brunn, dieser Fels, jene Brücke, diese Basaltsäulen, jene Höhle. Auf dieser Stelle des graunvollen Hains, auf jenem Scheidewege, ist's nicht, als ob dort und hier unsichtbare Besitzer, die zuweilen sich blicken lassen, wohnen? Pan, Nymphen hausen in dieser Höhle; Feen tanzen in diesem romantischen Thal; in jenem Zauberbrunn schwimmt eine Najade, in ihm wohnt Melusine. Gelegentlich hatte man vielleicht hie und da eine Erscheinung zu sehen geglaubt: in diesem langen Gange eine weiße Frau, ähnlich jener Gestalt in dem alten Bilde; im Walde dort einen wilden Jäger; in Klostergängen Mönche und Nonnen; in Kreuzwegen Hexengestalten. Oder man hatte alte Sagen, die der Phantasie vorschwebten, örtlich zu machen; wo, sagte man zu sich selbst, konnten sie füglicher vorgegangen sein als hier? Dies ist Fingal's Höhle, jenes Arthurs Berg; dort hielt er seine Tafelrunde, hier stand sein Palast. So häuften, so fixirten sich Märchen. Oft mischten sie sich, oft verjagte eins das andre. Keine Nation ist ohne dergleichen Geschicht- und Localsagen; in allen spiegelt sich ihr Land, ihr Geistescharakter. Sinnreiche Völker dichteten sinnreich, kriegerische kriegerisch, sanfte sanft; so verschieden wurden dann auch die Märchen, aus denen späterhin die Geschichte aufblühte, erzählt. Das alte Griechenland war voll dieser sogenannt heiligen Spuren; keine Provinz, kein Tempel, kein Heldengeschlecht war ohne Einwirkung der Götter und Genien aufgeblüht; Pindar's Gesänge, das Epos und Drama leben in diesem Zauberkreise heiliger National-, Local- und Familienmärchen.
3. Menschliche Begebenheiten und Charaktere sind indeß das, was, wie allenthalben, so auch im Märchen am Meisten anzieht; dies tritt uns hiedurch am Nächsten. Wie sonderbar spinnen und weben sich oft die Schicksale eines Menschenlebens! An wie kleinen Knoten hangt ihre Verwicklung und Entwicklung! Wer knüpfte diese Knoten? welche unsichtbare Hand leitete und verschlingt die Fäden? Sind's Genien? Schutzgeister? Alfen? gute und böse Feen?
Und da zuletzt doch an den Charakter des Menschen, oft an seine Gestalt, an eine Eigenheit seiner Person oder seines Benehmens, an eine Neigung oder Gabe sich Alles knüpft, wer gab ihm dieses Talent? diese ihm selbst oft unerklärliche, sonderbare Neigung? dies Auszeichnende seiner Gestalt? wer prägte seinen Charakter?
Und wenn gerade dieser Mensch, jener Ort, dies Geschäft oder Moment in Glück und Unglück über sein Schicksal entschied, mithin ihm wiederholt fatal wurde, wer führte ihn dahin? wer brachte diese Menschen, diese Umstände und Momente ihm entgegen, da er sie oft sorgsam vermied? Die Bildung oder Mißbildung menschlicher Charaktere, das Weben ihrer Schicksale sind also der reichste Stoff zu Märchen; denn nach Jahren, wenn wir uns im Spiegel anschaun und unser Leben überdenken, sind wir uns nicht selbst Märchen?
4. Die Schicksalsfabel sowol als das menschliche und das kosmogonische Naturmärchen sind von der Menschheit also fast unzertrennlich; die ersten beiden sind uns die unterhaltendsten; in den dunkeln Zeiten knüpfte sich beinah jedes ausgezeichnete Geschlecht an ein Familienmärchen, an ein Local, zuletzt an die Weltentstehung selbst, wenn man irgend so weit aufreichen konnte.
Und da in unserm Leben das Größte meistenteils am Kleinsten hängt, da Scherz und Spott, List und Intrigue, Lüsternheit und Rachsucht oft bewirken, woran der nüchterne Sinn kaum denkt; und da gerade diese Gattung Märchen Vielen die angenehmste ist, so ist sie auch natürlich die zahlreichste worden. Neuheit ist überhaupt die Seele der Erzählung, des Märchens Tod ist Langeweile.
Von Orient und Griechenland aus war also das Gebiet der Märchen von großem Umfange; es theilte sich bald in die verschiedensten Felder. Die ruhigen Morgenländer ließen und lassen sich gern erzählen; ihr Klima, ihre Lebensweise, ihre Neigung fürs Wunderbare, ihre unbequeme Schrift und andre Ursachen begünstigten das lebendige Erzählen; die Geschichte selbst, zuweilen eine unlängst geschehene Geschichte ward daher im Geist und Munde der Morgenländer selbst Märchen. Denn muß es nicht jede mündlich fortgepflanzte, oft erzählte Sage bald werden? Jeder Erzählende setzt zu und läßt aus, er verstärkt Umstände, er schmückt und hebt, legt dort und hier seinen Sinn, seinen Charakter hinein: er ründet. Nun wälze sich die Sage Zeiten hinab von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlechte: was kann der Morgenländer anders haben, als was er hat, Genealogien und Märchen? Der Bau seiner Sprache, seine Sitten und Gebräuche, oft die Namen der Personen und Sachen selbst sind dazu eingerichtet. Auch sind die morgenländischen großentheils die wahren, genialischen Märchen, aus der lebendigen Welt, wie ein Traum der Phantasie genommen, dem Ohr des Hörenden angemessen, frei vom Bücherstaube sowol als von zu feinen Speculationen. Sie gehen ihren großen Schritt zwischen Himmel und Erde.
Die Griechen gaben dem kosmogonischen sowol als dem genealogischen Götter- und Heldenmärchen den Gang und Klang des Epos; aus keiner andern Ursache ward der Hexameter ihr Silbenmaß, als weil er, ihrer Sprache natürlich, die verschiedensten, die freiesten Erzählungsweisen zuläßt. Das griechische Epos war seinem Ursprünge nach nichts anders als eine gesungene Sage; die Kunst daran mußte der zusammenfassende Sinn und Gesang des Erzählenden, mithin die Zeit formen.
Als aus dem Epos erzählender Sänger das Märchen aufs Theater trat, bekam es eine andre Gestalt, eine andre bei lyrischen und Idyllendichtern, eine andre in der Schule der Philosophen. Zuletzt, als es zur Prose hinabsank, theilte es sich in verschiedne Arten, unter denen natürlich die Liebe als Weberin und Verweberin menschlicher Schicksale die Oberhand gewann. Die Geschichte des Theagenes und der Chariklea, Klitophon's und der Leucippe, Daphnis' und der Chloë, der Anthia und des Abrokomas, des Chäreas und der Kallirrhoë, obwol in späten, zum Theil ungewissen Zeiten geschrieben,Von Heliodor, Achilles Tatius, Longus, Xenophon von Ephesus und Chariton. – D. wurden, ihrer Fehler ohngeachtet, Muster und Anfang einer zahlreichen Gattung von Erzählungen, die man späterhin Romane nannte. Das Muster aller griechischen Liebesschicksal-Romane war die Geschichte Amor's und der Psyche; diese wird auch auf alle Zeiten hinab ihr schönes Kunstvorbild bleiben.
Da es hieher nicht gehört, den Gang des Märchens und der Erzählung unter Morgen- und Abendländern, unter Juden, Heiden, Moslims und Christen, unter diesen in den dunkeln Jahrhunderten Europa's in Spanien, Italien u. s. w. zu verfolgen, so haben wir hier nur vorerst zu zeigen, wie sie das vorige Jahrhundert empfing, wozu im Zeitalter Ludwig's, das dem ganzen Europa Ton gab, auch das Märchen, die Erzählung, der Roman wurde.
Alles ward in ihnen galant und hofmäßig. Rein in der Sprache, licht in der Darstellung, rascher in der Erzählung, von alten Sittensprüchen wie von der abgekommenen Ritterrüstung entladen; dagegen einem Gesellschaftssaal, einem Gespräch- oder Besuchzimmer, gar etwa einer Liebeskammer nach damaliger Sitte angemessen; unterhaltende Artigkeit ward ihr Charakter. An Urfé's »Asträa« und ähnlichen Schäferromanen verlor man den Geschmack; »Zaïde«, die Romane der Villedieu, der Castelnau u. s. w. traten an ihre Stelle. Im heroischen Stil gingen Calprenède und die Scudéry allmählich unter; sogenannt historische Romane thaten sich dagegen in Menge hervor, und abermals waren Frauen, die Lussan, Durand, Laforce, Lafayette u. s. w., dieser Gattungen Meisterinnen und Muster.
Unselig, daß man allmählich, von diesem Geschmack geleitet und fortgeleitet, mit so vielen romantischen Memoires, ein Dritttheil Wahrheit, zwei Dritttheil Lüge, die Welt getäuscht hat! Die berühmtesten Namen des Alterthums sowol als der mittleren und neuern Geschichte, Pindar und Korinna, Sappho, Kleopatra, Artemisia, die Vestalen, Catull, Tibull, Horaz, Tullia, Eloise, Marie von Bourgogne, Margarethe von Valois, der Connetable von Bourbon, Admiral Coligny, Turenne, Colbert und so viel Andre,Les Amours de Pindare et de Corinne, de Sappho, d'Horace, Catulle, Tibulle, d'Abeillard et d'Eloise etc. etc. – H. Männer und Weiber, sind nach und nach mit dieser romantischen Schminke so geziert und verunziert worden, daß man beinah allgemein das Gefühl für die Heiligkeit der Geschichte verlor und allenthalben Roman wünschte. Fast kein wohlklingender oder ruhmvoller Name blieb von einer galanten Narrenkleidung frei, und da die benachbarten Länder mehrere dieser blanken französischen Rechenpfennige für baare, vollwichtige Münze annahmen, so ist auf den dichterischen sowol als den historischen Parnaß ein Wirrwarr gekommen, dem nach hundert Jahren seine Rechnung bei Weitem noch nicht in Allem gemacht ist. Das unaufhörlich fortgehende Werk der Zeit ist, daß, wie sie Geschichte zum Märchen macht, sie auch Geschichte vom Roman scheide.
Kein Name wird recht berühmt, ehe er zum Märchen wird; das Märchen ist die einschmeichelnd-geselligste Fama. Alexander dem Großen und Karl dem Großen haben ihre Unternehmungen, Eroberungen, Kriege und Siege, Gedanken und Entschlüsse zur Fortdauer ihres Ruhms nicht so geholfen als das Märchen; dies hat ihn befestigt. Ihre Geschichte mußte Gesang, Romanze, Roman werden; so ward sie Volksfama. Durch Namen der Jagdhunde und Kartenblätter ist Hektor den Nationen Europa's bekannter als durch Homer; Sokrates kennen sie minder als den großen Roland durch Bildsäulen und Märchen.
Ein ausgewanderter Frankreicher, Prémontval, halbwitzig, halbvernünftig, warf die Frage auf: wer wol der bekannteste und zugleich bemerkteste Name des Alterthums sein möchte. Er entschied für Pontius Pilatus. In allen Glaubensbekenntnissen der Christen von allerlei Secten komme er vor, und zwar mit dem merkwürdigen Attribut, daß jeder Buchstabirende, Knaben und Mädchen, bei ihm das Ponti, dem gelernten ABC zuwider, wie Ponzi aussprechen und eben dadurch die Vernunft unter die Regel der Observanz gefangen nehmen müßten; daher denn das »Gelitten unter Pontio Pilato« ihnen fortan oft durch ihr eignes Leiden das Eindrücklichste des Symbolums werde und bleibe. Alexander, Sokrates, Christus selbst stehe weit hinter Pontio Pilato. Dies Prémontval. Mit andern eingebleiten Namen der Geschichte und des Märchens geht es kaum anders. Rotte Jemand das Märchen des König Blaubart's und der Xanthippe aus, er hat die Amme und Fibel gegen sich, seine Müh ist verloren. »Aus der Hölle kann ich Euch nicht erlösen!« sagte der Papst zu jenem Cardinal, den Angelo Buonarotti unter den Verdammten kenntlich gemacht hatte. Er mußte, wer er war, bleiben.
Um so sorgsamer, denkt man, sollte Märchen und Gedicht bei Namen der Geschichte verfahren, deren Verstand und Treue sie auf ewige Zeiten hin übergeben worden; welches aber der Fall nicht immer sein möchte. Das Märchen nimmt den Wortschall seines berühmten Namens meist aus einem dumpfen Gerücht; der Fibelroman kleckt sich entweder an die Namen der Geschichte, die er nach seiner Weise verhandelt und mißhandelt, oder er kleckt sie mißgünstig und günstig an sich an. Der elendeste Verleumder endlich ist der erbettelnde Roman, der hie und da Züge hascht, sie einwebt und mit Anekdoten fortbreitet, ein armer Pfuscher der Charaktere lebendiger Schöpfung.
»Du sollst nicht leumunden!« sagt das moralische nicht nur, sondern auch das Kunstgebot. Besteht Deine Kunst darin, einer ehrbaren Gestalt, die Dir kein Leides zufügte, unvermerkt in der Gesellschaft oder auf dem Markt ein Papierchen an den Mantel zu heften: wenn Dir die Gesellschaft es verzeiht, verzeiht der Beleidigte es Dir leicht. Geschähe es auf der Straße, so weißt Du, was Dir gebührt.
Außer solchen Romanschreibern, den Verstümmlern historischer Charaktere, hat sich eine zärtlichere Gattung an sie gemacht, Fledermäuse, die ihnen mit sanftem Munde das Blut entsaugen, Verfasser der sogenannten Heroiden. Ovid war ihr witziges Vorbild; sein galanter Liebesbrief der Sappho an Phaon, sein stürmiger der Ariadne an Theseus sind das Non plus ultra dieser Gattung Schriftstellerei, die dadurch noch unsinniger ward, wenn der Feder die Feder stürmig oder zärtlich antwortete, mithin den Liebesfederkrieg fortsetzte. Welche Romane sind auf diesem Amboß, dem Liebesbriefepult, geschmiedet! und in mehreren Sprachen wie würdige Namen gemißbraucht worden!
»Pope, der nicht leicht den geringsten Umstand übersah, woraus sich eine Schönheit ziehen ließ, hat in seinem Briefe der Eloise an Abälard eine so schöne Scene und so vortreffliche Situation gewählt,« sagt Warton, »daß, wenn wir die ganz besondern Unglücksfälle dieses Paars mit dazu nehmen, unter allen alten oder neuen Geschichten vielleicht keine einzige geschickter ist, den Stoff zu einer Heroide herzugeben, als diese.« Leben denn die Menschen dazu, um Euch den Stoff zu witzigen Liebesbriefen herzugeben, Ihr tändelnden Reimer? Und wenn Ihr die Charaktere verstümmelt, wenn Ihr Alexander zum Roland, Eloise zum seufzenden Klosterkätzchen macht,Ihr wahrer Charakter liegt in ihren Briefen offen da. Berington in seiner »Geschichte Abälard's und der Eloise« hat sie redlich und noch nicht vollständig gebraucht. – H. [Vgl. Herder's Werke. II. S. 191-209. – D.] denkt Ihr dann weder an die Geschichte noch an Horaz?
Velut aegri somnia vanae
Fingentur species, ut nec pes nec caput uni
Reddatur formae. »Pictoribus atque poëtis
Quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.«
Scimus et hanc veniam petimusque damusque vicissim,
Sed non ut placidis coëant immitia . . .
Descriptas servare vices operumque colores,
Cur ego, si nequeo ignoroque, poëta salutor? –
Aut famam sequere aut sibi convenientia finge. –
Sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino,
Perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.A. P., 7–12, 86, 87, 119, 123, 124. – D.
»Wie aber, wenn Pope gewagt hätte, eine neue Person (personam novam) zu dichten, der er den Namen Eloise beilegte?« Warum legte er ihr keinen andern bei? warum dichtete er diese neue Person in Abälard's weltbekannte Geschichte, Eloisens Charakter zuwider?
»Pope kannte das weibliche Herz? Wie, wenn Eloisens Briefe selbst nicht ächt wären?« Daß sie ächt sind, weiß Jeder, der sie zusammt Eloisens geistlichen Fragen an Abälard gelesen; aus ihnen kennen wir ja nur Eloise. Aus zwei mißdeuteten Stellen derselben in einer romantischen französischen Übersetzung nahm ja Pope selbst den Stoff seiner Nonnenheroide, außer welchem historischen Quell er seine Heldin nicht kannte. An ihr das weibliche Herz zu schildern, wie es Pope sich dachte – war Eloise dazu geboren oder geeignet? Begegnete sie ihm in jener Welt, sie schriebe ihm keinen Brief zurück:
Eloisa to Mr. Pope,
nicht wie Dido dem Aeneas einmal,Bei Virgil, Aen. VI. 450–476. – D. ginge sie ihm vorüber.
»Popens Gedicht ist aber doch entzückend schön!« Desto schlimmer, wenn es ohne Wissen, aber mit unauslöschlicher Wirkung ein verleumdend Gedicht ist, da Pope als ein katholischer Christ sich um den Charakter seiner Religionsverwandtin etwas mehr hätte bekümmern können. Große, würdige Namen gehören der Geschichte, nicht der Laune oder dem Wohlbehagen eines Poeten, der aus ihren Situationen »Schönheiten seiner Art« zieht, wie er sich das weibliche Herz denkt und an ihm seine Verskunst übt.
Hinter Ovid und Pope, wie tief hinab ist diese sogenannte Heroide gerathen! Zum Briefroman weiblicher und männlicher Infirmitäten.
Aura an Zephyr.
Zephyr an Aura.
Z. Aura, Du wehest so sanft! A. O Zephyr, wie wehest Du lieblich!
Z. Mildere Deinen Hauch! A. Zephyr, o stärke mir ihn!
Z. Aura, Du wandelst Dich. A. Du, Zephyr, wehst wie der Nordwind –
A. Z. Da kommt Boreas selbst, welcher uns Beide begräbt.
Ungefähr ist dies der kurze Inhalt der Heroiden, einer Spielart, die das ältere Griechenland nicht kannte. Nicht im Epos allein, auch im Trauer- und Lustspiel, im Idyll und Roman sprechen die Geschlechter des Alterthums gegen einander anders.
Wie der Verfasser des ersten griechischen Romans, Heliodor, ein christlicher Bischof war, so hat sich diese Gattung immer auch an die Spiritualität gehalten. In dunkeln Zeiten spielten Christus und Belial, Joseph und Barlaam nebst der zahllosen Menge der Heiligen im Himmel und auf Erden ihre Legenden. Als vor der Flamme der Kritik, die seit der Reformation auch Blondel, Launoy u. A. beherzt schwangen, sich mancher Heilige alter Zeiten ins Dunkel zurückzog, traten dagegen die neuen Heiligen, eine Guyon, Bourignon, der Marquis De Renti, Rancé und so manche schöne Büßerin an den Platz; ihre Leben wurden Legenden. Endete Bussy-Rabutin nicht selbst mit der Lehre des Prediger Salomo in der vollkommensten Manier: »Alles ist eitel,« und kann je ein Wollüstling anders enden? Die letzten Zeiten Ludwig's zogen die Spiritualität hoch hervor, meistens zwar nur aus leidenschaftlichem oder ohnmächtigem Ekel vor einer abgestorbnen Welt; indeß auch diese schmerzhafte Veranlassung, benähme sie etwas der Sprache der Wahrheit? Eben diese naiven Herzensbekenntnisse, diese geistigen Romane mit Gott und Christus – dem Aufmerksamen bieten sie einen reicheren Schatz der Warnung und Unterweisung dar als manche andre Verirrungen des Geistes und des Herzens.Les égaremens de l'esprit et du coeur, Histoire de passions etc. – H. Nur wisse man sie zu lesen! Wo diese Geschichten das Herz ergreifen und in sich kehren, sanft oder schmerzhaft, wer wäre es, der nicht solchen geistlichen Erfahrungen und Wanderschaften einen innigern Werth gäbe als Allem, was blos von außen die Phantasie malt?
Einige Ritter und Damen beklagen es, daß mit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts die alten Ritterromane allmählich unter die Erde gegangen seien, an denen sich ihre Vorfahren Jahrhunderte hinab standesmäßig-langweilig erbaut hatten. Als Denkmale und Gemälde der alten Zeit sind sie nicht untergegangen; die Kunstcompositionen, die Pulci, Ariosto, die beiden Tasso, Cervantes und andre große Dichter aus ihnen webten, werden wie Raphael's Teppiche beschaut und verehrt; sie bleiben unsterblich. Als fortwährende Geschichte der Zeit aber oder gar als Regel der Denkart diese alten Sitten und Trachten, eine abgestorbne Denk- und Lebensweise, fortzuführen, wäre ebenso widersinnig gewesen, als in unsrer Zeit sie anbetend erwecken zu wollen, kindisch. Wir wohnen nicht mehr in jenen Ritterthürmen und fänden es äußerst unbequem, darin zu wohnen; wir reiten nicht mehr in dieser Rüstung und finden es besser, darinnen nicht reiten zu dürfen. Der Abstand zwischen den Ständen, der damals herrschte, trifft uns, wo wir ihn noch in Resten erblicken, schmerzhaft, und wo wir den Rittergang der Ideen mit Spieß und Schild, den Mönchsgang der Ideen unter Tonsur und Kutte, den Stillstand aller Ideen endlich beim Volk unter solcher Verfassung entdecken, da schaudern wir mitleidig und lassen unverständige Knappen die abgekommene Rüstung, Mönchsjünglein die Wegschaffung gemalter Kirchenscheiben und der ihnen ähnlichen Schriften. Buchstaben u. s. w. bejammern. So ungeheure Fehler das galante Heldenthum des achtzehnten Jahrhunderts an sich haben mochte, mit jenem ältern, roheren ist es nicht zu vertauschen.
Selbst die Poesie jenes Ritterwesens mußte so gewaltig modificirt werden, daß kaum mehr als ein Traum der vorigen Zeiten in ihr zurückblieb; denn sind die Gedichte Ariost's und der Tassos etwas Anders als selbstgeschaffene Träume? Diese fortzusetzen, wehrt uns Niemand; nur bringe man in ihre alten Schlösser eine neue Haushaltung der Dinge, d. i. für uns eine annehmlich-poetische Wahrheit!
Die Feenmärchen waren eine der feinsten Einkleidungen, die mit dem Anfange des verflossenen Jahrhunderts in Gang kamen. Schicksalsgöttinnen, Alfen, Feen u. s. w. hatten alle europäische Nationen aus Sagen der Kindheit in Gedächtniß; in mehreren Dichtungsarten waren sie längst und trefflich angewandt worden; Märchen sind ihr Vaterland, in Märchen thun sie eine sehr angenehme Wirkung. Da finden bei der Wiege oder in entscheidenden Augenblicken des Lebens sich Alfen, Feen, Genien ein; sie bestimmen und wenden das Schicksal, sie geben und nehmen Geschenke. Diese Gestalten des Glaubens der alten Welt mit Vernunft anzuwenden, giebt die interessantesten Erzählungen; denn wem begegneten nicht Feen in seinem Leben? wem spannen und wanden sie nicht sein Schicksal?
In den Feenerzählungen aus Ludwig's Zeiten erscheint uns freilich im Meisten eine ausgestorbne Welt; die Prinzen und Prinzessen, die Denkart und das Vergnügen mancher damaligen Stände sind (Dank sei es der Zeit!) nicht mehr die unsern; manche Delicatesse der Madame la Comtesse d'Aulnoy, sowol in ihren »Feenmärchen« als in ihrer »Spanischen Reise«, lesen wir kaum anders als mit Verwunderung, wie man so delicat sein konnte! Daß nicht aber selbst in verstand- und zwecklose Erzählungen dieser Art Verstand und Zweck gebracht werden könne, wer wollte daran zweifeln? Die Blume der Arabeske steht da, laß aufsteigen aus ihr schöne Gestalten! Keine Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so seine Dinge so fein zu sagen als der Roman und vor allen Romanen das Feenmärchen. In ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz, als eine Zauberwelt ganz unser. Nur sei man selbst ein von der Fee begabter Glücklicher, um in dieser Zauberwelt ihre Geschäfte zu verwalten! Nirgend mehr als in ihr wird das Gemeine abgeschmackt, häßlich, unerträglich. Die Capricen und Launen dieser Welt fordern den feinsten Verstand, die unerwartetste Wendung.
Auch neue Kindermärchen kamen mit dem Anfange des Jahrhunderts auf; oder vielmehr die uralte Volksart, dergleichen zu erzählen, trat in den Gang einer neuen Mode. Perrault's »Märchen der Mutter Gans«Contes de ma Mère l'Oye. – H. bekamen einen Ruf, einen Umlauf, der beinah an Pascal's »Provinzialbriefe« reichte. »Habt Ihr die Märchen der Mutter Gans gelesen?« fragte Jeder den Andern. »Vortreffliche Märchen, an die nichts im Alterthum reicht!« Besser, dünkt mich, hätte man sie Märchen des Vater Gansert nennen sollen; denn eine Mutter Gans hätte sie ihren Küchlein zweckmäßiger erzählt. Die Wendungen, die Sprache, die Einfalt des alten Kindermärchens sind in ihnen, nicht aber die Vernunft der Alten. Was sollen Kindern Schreckgespenste von Wüthrichen, Wölfen, Ogers u. dgl.? Erscheinen die Bestialitäten vollends, um die Keuschheit des Gänschens zu sichern, damit es schreie: »Der Wolf kommt!« – verfehlter Zweck des Märchens! Die wahren Ogers erscheinen nicht also; dem Rothkäppchen werden sie in solcher Schilderung nicht kennbar. Ueberhaupt ist nichts ungesalzener und grausamer, als die Phantasie eines Kindes durch schreckende Truggestalten zu verderben. Wären diese überdem ebenso verstand- und zwecklos als schrecklich und häßlich, Vater Gansert selbst würde sie schwerlich erzählen. Und doch haben sich diese Märchen ein Jahrhundert hin erhalten; und wie viel taube Eier dieser Art und Kunst hat die französische Mutter Gans durch die Brut ihrer Nachfolgerinnen gelegt!
Wer an der Heiligkeit einer Kinderseele zweifelt, sehe Kinder an, wenn man ihnen Märchen erzählt. »Nein, das ist nicht so,« sprechen sie, »neulich erzähltest Du mir es anders.« Sie glauben also dem Märchen poetisch; sie zweifeln an der Wahrheit auch im Traum der Wahrheit nicht, ob sie wol wissen, daß man ihnen nur ein Märchen erzählt. Und wird in diesem ihr vernünftiger oder moralischer Sinn beleidigt, empfangen Laster und Tugend im Fort- und Ausgange der Dichtung nicht ihr Gebühr, Lohn oder Strafe, unwillig horcht das Kind und ist mit dem Ausgange unzufrieden. »Das Märchen gefällt mir nicht; erzähle ein andres!« Wie? und diesen heiligen Horchenden wollten wir Fratzengestalten, häßliche Larven vorführen, die weder in sich noch mit der Welt Bestand haben? In sie wollten wir Phantome der Furcht und des Schreckens lagern, die sie vielleicht lebenslang nicht loswerden, die in Krankheiten, in Situationen der Geistesschwachheit ihnen wiederkommen und dereinst ihr Alter, wol auch ihren Ausgang aus dem Leben stören? Denn wunderbar hängt unsre innigste Phantasie an diesen Jugendträumen; sie bilden oder mißbilden mehr als alle Eure trocknen Lehrsysteme. Wer von den Eigenheiten seiner Denkart, von seinem verborgnen Glauben und Aberglauben, vom geheimsten Schatz seiner Träume und Speculationen Rechenschaft geben sollte, wird vom Meisten den Grund davon in Eindrücken der Jugend finden, in der uns Alles wie ein Märchen vorkommt. Viele setzen diesen Märchentraum fort bis zu ihrer letzten Lebensstunde.
Selbst der Glaube an einen bösen Genius, als ob dieser mit uns ginge, um unsern besten Entwürfen immer einen Fleck anzuhängen, einen Querstrich zu machen und sich dessen zu freuen, selbst dieser Glaube scheint der edleren Menschennatur nachtheilig, wie gern ihn auch die neueste Philosophie in Schutz nehmen möchte. Die Menschheit muß einmal dahin gelangen, daß sie, ihrer selbst gewiß, einsehen lerne, wie auch die Querstriche unsers Schicksals von Keinem als der großen und gütigen Mutter der Dinge nach ihren ewigen Gesetzen gezeichnet wurden, und daß die Fehler, die wir selbst, die Bosheiten, die Andre gegen uns begehen, Verirrungen des menschlichen Verstandes, Krankheiten des menschlichen Herzens seien, die unsre heilende Pflege erwarten. In diesem Licht die Natur betrachtet, verschwindet aus ihr der große böse Dämon, sein Reich ist zerstört. Die kleinen Daemunculi in unserm und Andrer Herzen sollen, selbst im Märchen, nie Mitregenten des Weltalls oder unsers Lebens sein, sondern, als Fehler und Phantome aufgedeckt, sollen sie verstummen und schweigen.
Eine reine Sammlung von Kindermärchen in richtiger Tendenz für den Geist und das Herz der Kinder, mit allem Reichthum zauberischer Weltscenen sowie mit der ganzen Unschuld einer Jugendseele begabt, wäre ein Weihnachtsgeschenk für die junge Welt künftiger Generationen;Zum Weihnachtsfest des Jahrs 1802 wird ein solches erscheinen. – H. denn eben in dieser heiligen Nacht sind ja die Schrecknisse der alten Urwelt durch den Glanz eines Kindes verjagt, das die Gewalt böser Dämonen zerstört hat. An diesem ehemaligen SonnenfesteDas Weihnachtsfest ward auf das Fest der wieder emporsteigenden Sonne gelegt. – H. ist das Reich schreckender Nachtlarven in ein Reich der Güte und des Lichts verwandelt:
Some say, that ever 'gainst that season comes,
Wherein our Saviour's birth is celebrated,
The bird of dawning singeth all night long;
And then they say, no spirit walks abroad;
The nights are wholesome, then no planets strike;
No fairy takes, no witch hath power to charm;
So hallowd and so gracious is the time.»Man sagt, daß immer, wenn die Jahrszeit kommt,
In der des heil'gen Christ's Geburt man feiert,
Die ganze Nacht durch singe dann der Hahn,
Der Morgenvogel. Dann geh' auch kein Geist
Umher, die Nächte sei'n gesund, es schade
Kein Stern, es fange keine Feerei,
Und keine Hexe habe Macht zu zaubern.
So gnadenvoll und heilig ist die Zeit.« – H.
Shakespeare.Hamlet, I. 1. – D.
Welche reiche Ernte von Weisheit und Lehre in den Dichtungen voriger Zeiten, in den geglaubten Märchen der verschiedensten Völker zu einer bessern Anwendung für unsre und die Nachzeit in Keimen schlummre, weiß Der, der die Felder der menschlichen Einbildungskraft mit forschendem Blick bereist hat. Es ist, als ob die Vernunft alle Völker und Zeiten der Erde habe durchwandern müssen, um nach Zeit und Ort jede mögliche Form ihrer Einkleidung und Darstellung zu finden. An uns ist es jetzt, aus diesem Reichthum zu wählen, in alte Märchen neuen Sinn zu legen und die besten mit richtigem Verstande zu gebrauchen. So neugeschaffen und neugekleidet, welch herrliches Werkzeug ist ein Märchen! Zwar nur ein Traum der Wahrheit, aber ein zauberischer Traum, aus dem wir ungern erwachen und zu unserer Seele sagen: »Träume weiter!« Nicht etwa nur von Zeit und Ort binden uns wahre Märchen los, sondern von der Sterblichkeit selbst; wir sind durch sie im Reiche der Geister.
Und wie in Träumen empfinden wir auch bei ihnen unser doppeltes Ich, den träumenden und den Traum anschauenden Geist, den Erzähler und Hörer. Streng beurtheilend horcht dieser und richtet die erscheinenden Gestalten.
Wunderbares Vermögen im Menschen, diese unwillkürliche und doch mit sich selbst bestehende Märchen- und Traumdichtung! Ein uns unbekanntes und doch aus uns aufsteigendes Reich, in dem wir Jahre, oft lebenslang fortleben, fortträumen, fortwandern. Und eben in ihm sind wir unsre schärfsten Richter. Das Traumreich giebt uns über uns selbst die ernstesten Winke. Jedes Märchen habe also die magische, aber auch die moralische Gewalt des Traumes.
Ein Gespräch mit dem Traume.
A. Holde Gestalt, wer bist Du? Dein Antlitz glänzt wie das Mondlicht,
Und von Sternen ein Band schmücket Dein dunkeles Haar.
Aber des Jünglings Körper umhüllt wie heilige Dämmrung!
Und in der Linken ein Kranz? und in der Rechten ein Stab?
Bist Du –?
T. Der Traum bin ich und schling' um die Schläfe den Kranz Dir,
Nachtviolen und Mohn. Frag! ich antworte Dir treu!
A. Sage, wo kommst Du her? wohin gehst Du?
T. Wär' ich ein Traum wol,
Wenn ich's wüßte? Du darfst fragen nur, was sich geziemt.
A. Lieblicher! nun, so sage mir an, woher die Gebilde?
Deine Blumen woher, voll von ambrosischem Thau?
Pflücktest im Monde Du sie? Entwarfst Du Deine Gestalten,
Wo in Elysium sich Schatten und Wesenheit mischt?
T. Nicht im Mond, ich entwarf Dir näher diese Gestalten;
Kennst Du Dein eignes Herz, kennest Elysium nicht?
A. Kaum geschlossen des Wachenden Aug', eh noch es in Schlaf sinkt,
Schwebten ihm Bilder vorbei, hellere, dunklere jetzt,
Fröhliche, trübe Gestalten, in langsam-schnellerem Zuge;
Halten konnt' ich sie nicht, leise zerflossen sie nur.
T. Und sind Deine Gedanken denn andre Gebilde? Der Weltgeist
Strahlet sie ab in Dich, wie sie der Spiegel erfaßt.
Was ich im Schlummer Dir bin, ist er dem Wachenden; Heil Dir,
Wenn er Idole Dir giebt, Bilder zu Freuden und Glück.
A. Mächt'ger als er umfassest Du mich. In wie tiefere Welt sinkt
Ein meine Seele, sobald süß sie der Schlummer ertränkt!
Heller, o Traum, sind Deine Beglänzungen, Deine Gestalten
Lieblicher, als jemals, je sie das Auge gesehn.
Himmlisch Deine Töne, die Stimmen mir unvergeßlich!
Sag, o sage, mit Dir bin ich in höherer Welt?
T. Aus Dir nahm ich die Farben und Tön' und Gestalten der Dinge;
Achtest Du minder sie, weil ich in Dir sie erschuf?
Unter Zerstreuungen sonst, im Gewühl der Sinne verloren,
Samml' ich Dich ein in Dich; und Du erwachetest – Dir!
Horch!
(Er berührete mich mit dem Stabe. Da wurden Gestalten,
Auen und Blumen umher, Stimmen um mich und Gesang.
In Elysium ging ich; ich schwebt' in Lüften, im Mondglanz,
Ueber Sternen.)
A. Wohin hebst Du, o Genius, mich?
T. In Dich selbst.
A. Doch sage, wer knüpft die Zaubergestalten?
T. Du. Kein Anderer! Könnt', könnt' es ein anderer Geist?
Du in Dir selber erschaffst Dir Welten und Zaubergefilde;
Du in Dir selber erspähst Deine geheimeste Kraft,
Deinen geheimsten Fehl. Du bist Dir Lehrer und Lerner,
Warner und Feind; Du bist Lohner und Peiniger Dir.
Ich nur schließe Dir auf des Herzens Tief' und des Geistes;
Was sich der Sonne verbarg, zeigt sich dem inneren Licht.
Offen dem Auge der Nacht und allen glänzenden Sternen,
Dem Unermessnen thut Dein Unermessnes sich auf.
A. Traum, was lehrest Du mich? Bin ich mir selber ein Räthsel?
Ich, ein Schatte des Seins, bin ich der Bildungen Quell?
T. Nur ein Tropfe des Quells, in dem die Sonne sich spiegelt,
Jene! (Der Genius glänzt' heller und heller empor.)
In Der alles Vergangene Jetzt und das Kommende Jetzt ist!
Herrlicher, seliger Geist! Und in Gebilden ein Traum.
A. Freilich! Alles Vergangene ruht und steigt wie ein Traum auf
In mir! Wirkliches ist auch im Genusse mir Traum.
Störet das Werkzeug mich? bin ich der Sinne nicht Meister?
Wird mir Pein der Gewinn und die Erquickungen Müh?
T. Aber entfesselt – (Er legt' den himmlisch glänzenden Sternkranz
Auf mein Herz: mir ward Alles ein geistiges Sein.
Alles belebte sich; Herz in Herz und Seelen in Seelen
Flossen zusammen. Ich sprach Ahnung im Inneren aus.)
Ahnung nennest Du es? Ich öffne der Ahnungen Welt Dir;
Ahnung ist Band und Geist, Ahnung ist Seele der Welt.
A. Zaubernder Gott! Doch sind nicht nichtig Deine Gestalten?
Was ich erwünscht und ersehnt, blieb es so oft nicht ein Traum?
T. Irre Dich nicht! Mein Strahl bricht nur im gebrochenen Spiegel;
Reinen Gemüthern ward nie ein verführender Traum.
Wachend im Traume musterten sie die Täuschungen, kannten
Mich, den dämonischen Gott, mich, den belehrenden Freund,
Dessen Stab die Natur verjüngt, der Seelen und Herzen
Einet; Raum ist ihm nichts, Zeitenentfernungen nichts.
A. Nun, so bahne den Meinigen denn den Weg in die Zukunft,
Meinen Geliebten!
T. Gewiß! Glaub es dem himmlischen Traum!
A. Wenn ich mich je verlor, es zerriß mich wilde Verstreuung.
T. Unter den Sternen der Nacht samml' ich und bilde Dich neu.
A. Wenn ich mir selbst nachblieb, o gieb mir Schwingen!
T. Du kennst ja
Jenen ängstenden Traum, da man nur suchet und sucht.
A. Balsam hast Du für jede Wund' und Kränze der Hoffnung,
Du, der den Blöden kühn, muthig den Zagenden macht,
Herzen und Herzen vereint und Seelen ebenet Seelen.
T. Freund, erkenne Du mich, Deinen verlangenden Geist!
Politische Romane und Märchen sind die undankbarsten von allen. Gemeiniglich sträubt die Materie sich der Form entgegen; dann wird jene in dieser unkenntlich und hat eines belehrenden Commentars nöthig. Wie beschwerlich aber wird uns ein nur mittelst langer historischer Noten verständliches oder genießbares Märchen! Bleibt der Roman der Geschichte zu nah, so amüsirt er selten; entfernt er sich von ihr, so entstellt er diese, ohne doch selbst ein reines Gewächs der Einbildungskraft zu werden. Ueberdem wurden von Pallavicino und Boccalini an die meisten politischen Romane ihren Urhebern schädlich, wie auch in dem Jahrhundert, von dem wir reden, Swift's »Märchen von der Tonne«, Rabutin's Histoire des Gaules, selbst des vortrefflichen Fénélon's »Telemach«, dies leider bezeugen.
Als historischer Roman betrachtet, ist Swift's »Märchen von der Tonne« nichts weniger als ein guter Roman, ebenso parteilich in Zeichnung der drei bekannten Charaktere seiner Hauptpersonen als im Gewebe ihrer Begebenheiten gemein. Um Kleidung und Achselbänder sollte sich die Geschichte der Religionsparteien nicht drehen, sondern ganz um etwas Anders. Ohne Rückblick aber auf die Geschichte, als ein rein gedichtetes Märchen erzählt, wird es ein Ding, dem Swift selbst keinen Ausgang zu geben wußte. Was ihm aushilft, ist des Verfassers scharftreffender Witz, seine verstandreichen Einschaltungen und Digressionen; übel aber, wenn ein Werk sich durch etwas aufhilft, was eigentlich nicht zu ihm gehört.
Ebenso mangelhaft sind »Gulliver's Reisen«, als reine Dichtung betrachtet. Die Wirthschaft der Huynhms besteht dem sinnlichen Anblick nicht; der Bau ihres Körpers selbst widerspricht ihm. So ist in Laputa, in der Akademie zu Lagado u. s. w. Vieles ohne sinnliche Consistenz und Anmuth. An dieser war dem Dichter auch am Wenigsten gelegen, der mit seinem Buch, weil ihm weh war, der Gattung, zu der er gehörte, weh thun wollte. Den Zweck hat er mit einer unglaublichen Geistes- und Geniusmacht erreicht.
In Frankreich traten dem »Telemach« zwei sehr bekannte politische Romane nach, Terrasson's »Sethos« und Ramsay's »Reisen des Cyrus«, unstreitig in einem edleren Geschmack geschrieben, als der in Britannien damals herrschte. Terrasson war ein schätzbarer Denker, dessen »Philosophie des Verstandes und der Sitten«,Ins Deutsche, wiewol schlecht übersetzt in Gottsched's Schule, 1762. – H. die d'Alembert nach seinem Tode bekanntmachte, aufmunternde Aussichten giebt. Auch in seinem »Sethos« sind treffliche Stellen, Aussprüche reiner Vernunft und Honnetetät. Uns aber durch einen Roman einen Traum schaffen zu können, dahin reichten des honneten Terrasson's Kräfte nicht. Ramsay's ebenso wenig, so begeistert er aus und für Fénélon war, so genau er, wie der gelehrte Fréret zeigt, das chronologisch-historische Costüme beobachtet hatte. Beide Bücher werden indeß als wohlgedachte und wohlgeschriebene Schriften insonderheit der Jugend immer wohlthun; in Ramsay ist sogar ein Funke jener Begeisterung aus der sanften Flamme Fénélon's, der das Herz mit keinem unwürdigen Feuer erwärmt. Das schon ist ein gutes Zeichen, daß diese Gattung Romane, die gleichsam auf classischem Boden lebt, fortan nicht ausgegangen ist, wahrscheinlich auch nicht ausgehen wird, bis ein neues Griechenland aufblüht.
Uns näher schloß sich der Roman an Stände des bürgerlichen Lebens an; aus Spanien über Frankreich kamen uns in dieser Gattung romantische Muster. Gilblas von Santillana, der Baccalaureus von Salamanca, Guzman von Alfarache u. s. w. Die kleinen Erzählungen in ihnen und sonst einzeln, Novellen genannt, werden noch lange gelesen werden. Wie das Märchen den Morgenländern, so, möchte man sagen, gehört der eigentliche Roman den Spaniern. Ihr Land und Charakter, ihre Verwandtschaft mit den Arabern, ihre Verfassung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in Manchem, worauf die europäische Cultur treibt, macht sie gewissermaßen zu europäischen Asiaten. Die Verwicklungen, das Abenteuerleben, von dem ihre Romane voll sind, macht ihr Land hinter dem Gebirge, die schöne Wüste, unsrer Phantasie zu einem Zauberlande. Ruhe sanft, Cervantes! und Du, der uns so viel Schönes über die Pyrenäen zubrachte, Du, der auch, wie Cervantes, dürftig starb, Le Sage,Verfasser des Gilblas de Santillana, Bachélier de Salamanque etc. – H. ruhe sanft!
Der Geschmack an Verwicklungen und Abenteuern in Romanen mußte natürlich den Liebesabenteuern den Vorzug geben. So fand denn auch jene Classe, die nicht aus Spanien, sondern aus Italien ihre Ahnen herschrieb, vollen Wuchs; die Gattung nämlich, die man gewöhnlich Contes nennt, in der Boccaz ein so reicher Schatz ist. Auch in ihr hatte ein Geistlicher, der nachher Papst ward, Aeneas Sylvius, die Ehre, Europa früh ein Beispiel zu geben; der Cardinal Poggio, mit ihm viele andre bepurpurte Väter haben zu Erfindung, Sammlung und Verbreitung dieser Gattung Märchen viel gethan. In Materie und Form ist sie Aebten und Geistlichen viel schuldig, wovon unter der glorreichen Regierung des Herzogs-Regenten von Orléans und Ludwig's XV. die Rede sein wird.
Ist das Ideal des Märchens sowol als aller Romane der Traum, so zeichnet dieser ihnen auch mit seinem Kranz und mit seinem Stabe den Umriß ihrer Kunst vor. Morpheus heißt er, der Gestaltenbildner. Also:
1. Umfasse uns der Traum ganz; halb wachen, halb träumen, ist ein ermattender, rastloser Zustand. Wem die Gabe zu bezaubern versagt ist, wolle nicht zaubern; er lehre wachend, nicht träumend. Noch minder störe der Dichter sein eigen Werk, indem er uns mitten im Traum aufrüttelt, und daß es nur ein Traum sei, ungeschickt belehrt. Wie oft geschieht dieses! und durch wie manche unselige Künste! Nicht immer weiß der Dichter sein eigen Gebilde gnugsam zu schonen und zu ehren; sofort verfliegt der Zauber.
2. Die in uns wirkende, Vieles zu Einem erschaffende Kraft ist der Grund des Traumes; sie werde auch Grund des Romans, des Märchens. Fehlt es diesem an Einheit, an Verstand, an Absicht, sowol im Ganzen als in Fortleitung der Scenen, so ist's ein kranker, gebrechlicher Traum. Nichts foltert im Schlummer uns mehr, als wenn wir suchen und nicht finden; man erwartet uns, und wir sind nicht fertig, werden es auch nicht bei aller Mühe und Arbeit; oder wir kommen nicht weiter, klettern in dunkeln Gemäuern auf und nieder; man verfolgt uns, und wir wissen nicht, wer uns verfolge – unselige Träume! Dergleichen Angst treiben uns Erzählungen ein, in denen wir auch auf- und niedersteigen, ohne fortzukommen; wir suchen und finden nicht, kleiden uns an und werden nie fertig. Und der häßliche, auf nichts ausgehende Traum jagt uns gar, wie Udolfo's Geheimnisse der Miß Radcliffe,The mysteries of Udolpho. Lond. 1794. – D. um zuletzt ein Cadaver zu sehen, aus Bänden in Bände! Böse Zauberer und Zauberinnen, Ihr kocht Macbeth'sche Hexengerichte.
3. Ueber das grobe Gewirr des wachenden Lebens hebt uns der Traum; er zeichnet feiner. So hebe uns auch über die gemeine Welt der Roman, das Märchen. Alltägliche Dinge sehen und hören wir täglich; wozu, o Dichter, trägst Du den magischen Stab und die Krone, als daß Du uns in eine andre Welt zaubern, uns magisch erfreuen und belehren sollst? Mit trivialen Geschichten, mit Fratzengestalten willst Du uns wie ein Alp erdrücken und tödten? So reiche uns lieber mit Deinem Buch den vollen Mohnkopf oder das Opium selbst dar, daß wir Dir entschlummern, um uns von Dir zu entträumen!
4. Das Wunderbare des Traums ist sein süßester Reiz. Je zarter es Märchen und Romane wie ein koischer Flor webt und überwebt, desto anmuthreicher sind sie, dagegen alles grobgesponnene, mühsam erdrechselte Wunderbare uns wunderbar wegscheucht. »Hält man uns für Kinder,« ruft man, sobald man den Betrug wahrnimmt, »und für so blöde Kinder, die Bande und Stricke nicht zu sehen, mittelst welcher diese hölzernen Puppen spielen?« Gemeiniglich ist dies der Fall, wenn das Wunderbare zu grob und gemein auf die körperliche Welt wirkt, wenn es Berge versetzt und den Mond spaltet. Zu Wunderthaten dieser Art gehören große Hebel und auch in der Seele des Dichters große Kräfte. Jedes Wunder muß necessitirt werden, so daß es jetzt und also nicht anders als erfolgen kann, oder man verlacht den Dichter mit seinem feingeschnitzten Gebets- und Glaubensstabe. Gäbe er sich vollends Mühe, das Wunderbare uns zugleich nichtwunderbar, d. i. natürlich zu machen, warum gab er sich denn Mühe, den Wunderschrank zu zimmern, in welchem er uns gemeines Spielwerk zeigt?
5. Im Traum endlich sind wir uns die schärfsten Richter. Aus dem tiefsten Grunde holt er die Heimlichkeiten und Neigungen unsers Herzens hervor, stellt unsre Versäumnisse und Vernachlässigungen ans Licht, bringt unsre Feinde uns vor Augen und weckt und warnt und straft. So thue es auch unablässig und unvermerkt der Roman, das Märchen. Hiedurch gewinnen sie ein magisches sowol als moralisches Interesse, an welches, außer dem Drama, keine andre Dichtungsart reicht. Der Traum macht uns Personen kenntlich, und sie sind's doch nicht; ähnlich und doch nicht dieselben: er zeichnet im Mondlicht. So auch der Roman, das Märchen. Sie strafen Laster und Thorheiten, aber an schwebenden Gestalten, unbekannt mit der Knotengeißel des Satyrs. Die Vergangenheit wie die Zukunft stellen im Zauberspiegel der Ahnung sie dar, unendlich, unvollendet; unsre Seele soll sie vollenden. Wünsche des Herzens endlich – der Traum bildet schöner als Praxiteles und Lysipp; er malt schöner als Raphael und Guido, vorzüglich geistige Gestalten; die Stimmen in ihm sind von magischer Kraft und Wirkung. Ihr Dichter, fühlt Euren Beruf! Voll Geistes der heiligen Götter, träumt glücklich! Um also zu träumen, seid nüchtern!
Und Du, Morpheus-Apollo, vertreibe die bösen, die wie Nachteulen um uns flattern, und schaffe uns göttliche, glückliche Träumer!
Als Adam einst im Paradiese matt
Und müde sich gesehn, und müd' und matt
Als Herr der Schöpfung an die Dienenden
Sich ausgesprochen hatte, sprach der Schöpfer:
»Erquickung will ich dem Ermatteten,
Dem Suchenden den Wunsch des Herzens geben,
Den wachend er nicht fand. Er schlummere!«
Einschlummert er; da stiegen aus des Herzens
Geheimsten Tiefen, zart und zarter jetzt,
Unausgesprochne Wünsch' empor; ihm ähnlich
Und auch nicht ähnlich stand vor ihm ein Traum.
»Sie werde!« sprach der Schöpfer, und sie ward.
Aus seiner Brust erhob sich das Gebilde
Des leisen Sehnens, blickt' ihn an, und er –
Erwachte. »Bist Du«, sprach er, »Traum,
Bist Du ein Wesen? Du mein bestes Ich,
In meiner Brust entsprossen, sei fortan
Mir untrennbar, o Mutter alles Lebens,
Mein Traum, der Menschheit schönere Natur!«
Des Menschen erster, hochbeglückter Traum,
Du Vorbild aller Dichtung, aller Schöpfung
In Kraft und Schönheit, werd ihr Ideal!
Wie seines Herzens Traum behandele
Der Mann sein Weib, der Dichter seine Schöpfung,
Und Lebens Fülle blüh' aus ihr empor!