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Erster Brief.
Kein Volk, mein Freund, das je zu einiger Cultur gelangte, konnte bildlicher Vorstellungen entbehren; die Sprachen der Wilden selbst sind voll von Allegorien, d. i. von übertragnen Begriffen, von Versuchen, sich im Körperlichen das Geistige, im Besondern das Allgemeine abzubilden und zu bezeichnen. Die ganze Form der menschlichen Organisation und Denkart vermag es nicht anders.
Mit mancherlei Sinnen und Seelenkräften, die dem ersten Anblick nach unvereinbar scheinen, nehmen wir um uns ein ungeheuer vielartiges Weltall wahr und eignen uns dasselbe mit solcher Innigkeit zu, daß wir über die Kraft in uns, die sich aus und in Allem ein Eins schafft, erstaunen. Jeder Sinn vereint und sondert; aus allen vereint der innere Sinn, die Empfindung, und läutert, was ihm jene zuführen. Die schaffende Einbildungskraft (ein wunderbares Vermögen) entwirft und ruft aus allem Empfundenen neue Gestalten mit unglaublicher Schnelle und Leichtigkeit hervor, knüpft sie nach einem dunkel empfundenen Gesetz des Raumes, der Zeit und der inneren Thätigkeit zusammen, bis der Verstand sein göttliches Siegel des Erkennens, des Erfassens darauf drückt und nach seinem innigen Wesen, das Ursache und Wirkung zugleich ist, sie an das Band fortgehender Ursachen und Wirkungen knüpft. Wie nun diese mit mancherlei Namen genannten Kräfte in uns von einer Wurzel ausgehn und zum Gipfel emporstreben, so ist auch das Geschäft, an dem Sinn und Empfindung, Phantasie und Verstand unaufhörlich schaffen und wirken, nur ein Geschäft. Und welches ist dieses? Ins Chaos der Dinge Ordnung zu bringen, durch Selbstthätigkeit sich diese Ordnung zu schaffen, aus dem Unendlichen sich ein Endliches, aus dem Unermeßbar-Vielen sich ein genießbares Eins zu erwirken.
Dies uns errungne Gut bezeichnen wir mit Freude des inneren Sinnes und Geistes; wir nennen es unser mit Freude des Herzens und der Empfindung. Geschehe die Bezeichnung mit Umrissen des Sonnenstrahls und der Farben im Raum, oder durch Verknüpfung dreier Momente, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Zeit, oder mittelst der noch innigern Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die ganz geistig zur Geisterwelt gehört: allenthalben wird durch dies Geschäft Ordnung erschaffen, Genuß bereitet, und wir sind, selbst indem wir leiden, Selbstthäter, Schöpfer.
Alle allgemeine Begriffe, wie viel Mühe haben sie dem Menschengeschlecht gekostet! und wie freute sich jedes Volk der seinen! Wie Gottheiten betete es sie an, kleidete sie in Symbole ein oder drückte sie durch Geberden, Worte, Gebräuche aus und heiligte diese Worte.Wie schwer es z. B. den Aegyptern geworden, die Ordnung eines Jahres zu bezeichnen, festzustellen und im Andenken zu erhalten, entwickelt eine Schrift, die man als den ersten Schlüssel zur ältesten Sprache durch Symbole ansehen kann, Dornedden's »Phamenophis«, fortgesetzt in Eichhorn's »Allgemeiner Bibliothek«, Bd. 10. St. 2 ff. – H.
Glücklich, wenn von den Erfindern nur Wahrheit geheiligt und auch als solche von den Empfängern erkannt und genossen ward! Combinirte man unverständig, falsch, flüchtig, ließ man die Phantasie allein schaffen und wirken, so erfand man Träume und ging oft Jahrhunderte in Träumen einher. Natürlich wurden diese Träumereien sodann immer verworrener, weil das erste bedeutungsvolle Moment der Erfindung und Empfindung vorüber war und man jetzt unter ganz andern Umständen alte verlegene Worte nur nachlallte. Hatte selbst der Verstand übel symbolisirt und entweder zu verstehen geglaubt, was er nicht verstand, oder hatte er das Wohlverstandne kraftlos bezeichnet, so baute man dort auf Vorurtheilen und Irrthümern, hier auf schlaffen Ausdrücken fort und redete die Sprache des halben Sinnes und Unsinns weiter. Ein unerläßliches Geschäft ist's also dem fortwirkenden menschlichen Verstande, daß er sein altes, sein frühes Jugendwerk munter forttreibe, unverdrossen sich selbst ausarbeite und läutre. Die allgemeinen Begriffe einer Sprache sind leitende oder mißleitende Sterne, nach denen sich Alles kehrt und wendet, Irrwische oder Polarsterne. Jahrhunderte lang hat oft ein sinnloses Wort den menschlichen Verstand aufgehalten, bethört, betrogen; eine neue glückliche Combination, ein neues Wort schuf ihm eine Welt voll neuer Ansichten, es organisirte seine Begriffe zu hellerer Wahrheit.
Was im Reich der Wahrheit gilt, gilt kräftiger noch im Reiche des Rechts und der Sitten. Geboren, treten wir in eine gebildete oder mißbildete Gesellschaft ein; unsre ersten Begriffe über sittliche Gegenstände und Verhältnisse empfangen wir, da sie ihrer Natur nach unsichtbar sind, durch Worte. Wie mächtig wirken diese sittlichen Worte! Unauslöschbar bleiben sie im Gemüth und formen Charaktere, Gewohnheiten, Sitten, auf immerhin bildend oder mißbildend. Zaubertöne sind die Laute: »Das ist schön, edel, honnet, rühmlich!« oder gegentheils: »O wie häßlich, wie schändlich!« Eine widrige oder verachtende Geberde sowie bei anständigen Dingen ein Laut der Bewunderung, ein billigendes Wohlgefallen – vorm Auge der Unmündigen, im Ohr der Kinder sagen sie mehr als lange Collegien über die Moral. Den Geist ganzer Gesellschaften, Familien, Aemter und Stände bilden oder mißbilden sie, an ihnen erhält sich die schönste Zier der Menschheit, die moralische Grazie, oder wird durch sie verscheucht, verunziert, abgeschmackt, verderbt. Was folgt hieraus? Zuerst dieses. Jede Bemühung des menschlichen Verstandes, allgemeine, besonders sittliche Begriffe von Unsinn zu reinigen, sie in ihrer wahren Bedeutung festzustellen und zum bessern Gebrauch liebenswerth einzuführen, ist für unser Geschlecht Wohlthat, eine Wohlthat für die entferntesten Zeiten. Wer die Nußschalen leerer Worte aus der Philosophie wegkehrt, nicht etwa der Schule allein, dem Verstande der Nation selbst leistet er damit Dienste; denn alle diese Hohltöne kommen früher oder später durch Umgang in die gemeine Rede, oder sie sind ihr gar entnommen und werden sophistisch mißgebraucht. Rüstig gehe der Fleiß unsers Volks im Dienst der Wahrheit fort, Spinnweben und Unrath aus ihrem Tempel zu fegen! er folge darin andern Nationen, die der Philosophie, Kenologie, Matäologie, d. i. der kahlen Leerweisheit, längst ihr Kenotaphium bauten!
Zweitens. Aus Wissenschaften, Functionen und Gewerben verbanne man mit jenen leeren Worten auch die leeren Formeln, aus denen der Geist ihrer Erfinder längst entflohen ist, noch mehr solche, an denen Unsinn oder Aberwitz haftet; denn eben sie machen den leeren Kopf zu einem desto lauteren Schwätzer, zum Heuchler und Formulanten. Wie bannt man sie aber am Kräftigsten? Durch neue Formeln nicht, sondern dadurch, daß man ihren Ursprung, ihre erste Bedeutung enthüllt, sie also entweder sinnvoll erneut oder ihre Entbehrlichkeit thätig darstellt. In der Rechtswissenschaft sowol als in der Theologie (ja, wo nicht sonst?) giebt's dergleichen Aloga, d. i. entbehrliche, verschraubte, ihres ursprünglichen Sinnes beraubte Wortformeln die Menge; oft verdrängte in ihnen ein leeres Formular das andre. Jedesmal aber fing die Wiederherstellung wahrer Wissenschaft damit an, daß sie den abgetragenen Buhlerschmuck der alten Babylonerin wegwarf und den Menschensinn in Freiheit setzte.Die Kunstsprache der Theologie z. B. wimmelt von mißverstandnen Ausdrücken, die man als gellende Töne beibehält und fortbreitet. Luther, Melanchthon, Grotius, Teller u. A. haben sich durch Musterung dieser Töne Verdienst erworben; die Arbeit ist aber bei Weitem noch nicht vollendet, vielmehr kommen immer neue Mißgeburten an den Tag, die der Prüfung bedürfen. – H.
Drittens. Unter allen Classen der Menschen giebt es eine Philosophie des gesunden Verstandes, aus der alles Abergläubige, Bethörende hinweg sollte. Es wohnt in Sprüchen und Sprichwörtern sowol als in angenommenen, sich vererbenden Gebräuchen, denen man auch in Vorurtheilen gläubig folgt. Zu Anfange des verflossenen Jahrhunderts erschien ein Buch gegen diese Irrsale, dessen unfeiner Titel aber auch seine unfeine Behandlungsart zeigt;»Die gestriegelte Rockenphilosophie«, Chemnitz 1718. Des Engländers Thomas Brown's Pseudodoxia epidemica sive examen errorum popularium, die in mehrere Sprachen übersetzt ist, behandelt ihren Gegenstand feiner, ob sie ihn gleich für alle Nationen nicht erschöpft. – H. (Ueber den Verfasser Joh. Georg Schmidt vgl. Gosche's »Archiv für Literaturgeschichte«, I. 105 ff., 490 f. – D.) der Gegenstand, zu dem viel vorgearbeitet ist, verdiente eine angenehmere Bearbeitung. Wie nämlich entstanden diese Vorurtheile, diese abergläubigen Gebräuche? Wie führten sie sich in die Sprache, in den Geist der Nation ein? Offenbar sind viele im Scherz, andre aus Wahn und Betrug entstanden: diese hat der Zufall geboren, aus dem man eine Regel machte, bei andern ist eine verständige Absicht in einen albernen Gebrauch verkleidet; diesen behielt, jene vergaß man. Zahlreiche Bemerkungen über die Stärke und Schwäche des Geistes und Urtheils einer Nation, einer Provinz, einer Zunft und Gesellschaft, in der solche Grundsätze und Bräuche herrschen, über ihre Eigenheiten und Lieblingsfehler würden sich dabei ergeben, so daß Nachforschungen der Art eine bildende Nationalschrift würden. Es trete ein Arzt dieser theoretisch-praktischen Populär-Pseudodoxie auf! Seine läuternd-erläuternde Untersuchung nutzte mehr, als wenn man über Sprichwörter blos predigt.In vielen deutschen, auch jetzt erscheinenden Blättern sind Beiträge zu diesem Werk vorhanden; andre (z. B. das »Noth- und Hilfsbüchlein«) arbeiten dergleichen Vorurtheilen praktisch entgegen. Fast jede Provinz Deutschlands kann sich eines oder mehrerer Schriftsteller rühmen, die ihren Vorurtheilen entgegenstrebten. Die wirksamsten unter ihnen sind die, die den Unterricht dagegen in die Erziehung selbst einführten. In der Folge dieser Schrift werden manche dieser Namen und Beiträge mit Ruhm genannt werden. – H.
Viertens. Alles was zur Aufhellung und Empfehlung moralischer Begriffe dient, sei uns werth und heilig; mit jedem rein bearbeiteten Begriff dieser Art hat man dem Verstande und Herzen eine kostbare Gemme geschenkt. Wer die Mythologie und Bilderlehre der Griechen in einer reinen Gestalt philosophisch, historisch, ethisch zeigte, wer uns nach dem Fortgange der Zeiten eine Ikonologie der Künste des Schönen, eine Symbolik menschlicher Begriffe überhaupt gäbe: welch ein lehrreiches Werk lieferte Der! er belauschte den menschlichen Geist in seiner geheimsten Werkstätte, wo er liebevoll erfindet, formt, nennt und bezeichnet, er belauschte ihn aber auch auf seinen Lust- und Irrgängen, in denen er sich oft zu lange anmuthig verweilte.
Fünftens. Rohen, den Geist und das Herz einer Nation entehrenden Gemeinsprüchen kündige man entschlossen den Krieg an! Wo Niederträchtigkeit spricht, oder wo Rache schnaubt, Sprüche, die mit sophistischer Kunst das Recht verkehren oder mit knechtischem Nachgeben sich über Entehrung trösten, sollten aus der Sprache menschlicher Gesinnungen ebenso verbannt sein als kecke Aussprüche des anmaßenden Stolzes. An keiner dieser Sprucharten fehlt es den Deutschen; sie sind, wo nicht Gemälde hie und da herrschender Sitten, so gewiß Ueberbleibsel alter roher Zeit. Längst ward den Deutschen von mehreren Völkern Schuld gegeben, daß ihr gutmüthiger Gehorsam sich in ein schläfriges Nachgeben, ihre Scheu der Hoffart in Niederträchtigkeit, ihr bedachtsames Wesen in eine Kopflosigkeit verliere, die nie das Ende zu finden weiß; Aussprüche, die für Axiome des Rechts und der Wahrheit gelten, d. i. Gemeinplätze und Sprichwörter, sollen diese Nationalfehler weder unterstützen noch rechtfertigen. Alles Niedrige, Platte, Schlaff-Complimentirende, nie zur Endschaft Kommende werde wenigstens von den Musen gehaßt, so sehr Manches auch von unsrer Verfassung und Lebensart begünstigt werde! Kein Schriftsteller erlaube es sich, eine Niederträchtigkeit, wem sie auch zugehören möge, zu begünstigen, und wer sie begeht, Herr oder Knecht, Schriftsteller oder Nachdrucker, er stehe dem Fuß der Nemesis preis! So will's die Wahrheit!
Antwort.
Wir sind einiger, als Sie glauben. Ihr Brief führt ja selbst die Ursachen an, warum wir Deutsche (dem Gemeinen und der Menge nach, denn edle Ausnahmen giebt es und wird solche geben) das nicht sind, was wir unserm Charakter nach sein sollten und waren.
Welche Nation in Europa hat ihre Sprache wesentlich so verunstalten lassen als die deutsche? Gehen Sie in die Zeiten der Minnesinger zurück, hören Sie noch jetzt den lebendigen Klang der verschieden, zumal west- und südlichen Dialekte Deutschlands und blicken in unsre Büchersprache! Jene sanften oder raschen An- und Ausklänge der Worte, jene Modulation der Uebergänge, die den Sprechenden am Stärksten charakterisiren: da wir Deutsche so wenig öffentlich und laut sprechen, sind sie in der Büchersprache verwischt oder werden einförmig gedehnt und in ewige Ausgänge von N-n-n, in schleppende Ge, in zischende S oder Sch verwandelt. Keine Nation hat das Nennen und NemmenDiese mundartliche Form soll wol statt des zweiten »Nennen« stehen, das in der Adrastea sich findet. – D. das Sprechen und Schreiben selbst dem Laut dieser Worte nach so charakteristisch, d. i. so langweilig-fleißig ausgedrückt als wir hart- oder weichbenannte Deutsche und Teutsche. Unser Name verräth uns. Langsame Trochäen sind unsre liebste Versart, je länger, je besser; sie gehen abwärts oder laufen wie ein Spulrad von selbst ab und hinunter. Worte, die in andern Sprachen ein fröhlicher Aufruf sind: Amòr, onòr, pietà, honestàd u. s. w., sind bei uns ein- und zusammensinkende oder gar wispernde Namen: Liebe, Ehre, Frömmigkeit, Ehrlichkeit u. s. w.. Das I und E auf den Lippen, das S und Sch an Gaum und Zähnen sind unsre Lieblingslaute geworden, und wer der Sprache aufhelfen will, spricht öhrlich, Oehre, daß man hinweglaufen möchte. Affectirt setzt man das Ge vor die Worte und läßt das En und En zischend ausgehn. Wo ist in dieser Zurichtung die Kraft- und Heldensprache, auf die unsre Vorfahren so stolz waren?
Welche Nation in Europa hat sich die Anrede der Menschen und Stände an einander erschwert und verkünstelt wie die deutsche? Nicht nur die langweilig-abgeschmackten Titulaturen, mit denen wir ein Spott aller Nationen sind, und deren wir dennoch nicht entrathen mögen, sondern der ganze Bau unsrer öffentlichen Anreden, Zuschriften, Verhandlungen u. s. w. zwingen uns in Knechtsfesseln, zu sinnlos heuchelnden Knechtsgeberden. Unsre demüthigen Bittschriften und die gnädigen oder allergnädigsten Resolutionen darauf, wer kann sie ohne Lachen, ohne Verdruß und Scham lesen? Und die förmlichen Expositionen unsrer Rechts- und Staatssachen, die Devotion, mit der wir verharren und ersterben, die krausen Züge, die dabei gemalt, die Papierballen, die Menschenleben, die mit und zu dieser unseligen deutschen Kunst verschwendet werden, die kopflose Steifheit, der Formelnstolz, die pedantische Grobheit und Seelenschläferei, die daher ganzen Ständen, Collegien und Aemtern zur zweiten Natur werden: wer kann und darf diesen Wust ausfegen? Und doch ist der gerade Vortrag der Wahrheit so auffallend leichter und lichter, indeß die Verkünstelung und Verwirrung so viel Zeit, Mühe, Geld und Papier kostet! Doch war die alte römische, die alte deutsche Rechtssprache so kurz und bestimmt, so edel dreist und (fast möchte ich sagen) erhaben, daß sie für einen Spiegel des scharfen Verstandes sowol als biedrer Redlichkeit gelten konnte. Länder, Stände, Städte, Menschen leiden unter dieser langweilig-hochpeinlichen Verkreiselung: wer kann und mag sie ändern? Im gesellschaftlichen Umgange sogar ist Jemanden bei seinem Namen zu nennen Schimpf, Titel und Würden bei Männern und Weibern dürfen allein genannt werden; dem Ohr wie dem Auge wollen wir nur in der Livrei erscheinen. Wie leicht haben sich andre Nationen dies alte Joch gemacht oder es gar abgeworfen! der Deutsche trägt's geduldig. Das Kind schon lernt die Titel »gnädiger Herr Papa, gnädige Frau Mama« stammeln; Titel und steife Würden gelten uns mehr als selbst die kindliche, bräutliche, herzliche, brüderliche Liebe.
Den gewöhnlichen Troß unsrer Predigten halte man gegen Kaisersberg's, Luther's Reden ans Volk! In diesen springt Leben aus jedem Wort, dort singt und dämmert die langweiligste Kirchen- und neuerlichst gar die schlaftrunkne Kathedersprache. Welche Nation hat sich, und zwar in Zeiten der größten Gefahr und Noth, an metaphysischen Hirngespinsten und Träumereien, am kritischen Somnambulismus wie die deutsche erlabt? Von hier aus hoffte sie Heil und spazierte zum Monde hinauf langsam fort auf den Dächern.
Welcher Nation ist das öffentliche Urtheil, laut ausgesprochene Ehre und Schande, offene Gewaltthätigkeit, unbefugtes Unrecht, schamlose Niederträchtigkeit und dummfrecher Frevel – welcher Nation sind diese öffentlichen Mißhandlungen und Missethaten gleichgiltiger als der deutschen? Errichte ein Habgierig-Frecher ein schriftstellerisches Tribunal, von dem die Würdigsten der Nation mißhandelt werden: wer wird, sobald er Stirn genug zur Unternehmung hat, es ihm wehren? Arbeiter, Beihelfer, Leser wird er dazu finden; je pasquillenartiger sein Gerichtshof ist, desto neugierig-freudigere Leser. Daneben errichte er einen Streitplatz, auf dem die mißhandelten Schriftsteller mit ihren maskirten Mißhandlern öffentlich baxen: der Mißhandelte zahlt sogar Geld für den Platz, um von der Maske neue Schläge oder Nasenstüber zu erbeuten, und das deutsche Publicum lacht gähnend. Wer sonst nichts liest, liest unwürdig-unbillige Kampfscenen, damit er doch wisse, wie es auf dem deutschen Parnaß hergeht. »Pasquille bringen jetzt allein Geld ein,« sagte ein junger deutscher Autor; »die bezahlt der Verleger, die liest man begierig.«
Und sie werden geschrieben. Welche Nation hat mehr geheime und öffentliche Krambuden schlechter Anekdoten, zweckloser Schmähungen der Regenten, die durch dies Pasquillenwesen (daher sie es auch nicht stören) über Lob und Tadel hinausgesetzt sind, als die deutsche? Keine Nation als die unsrige hat ein stehendes Heer von Schriftstellern, die mit stolzer Verachtung aller Brauchbarkeit im Dienst des gemeinen Wesens von Maculatur leben. Sie haben genau berechnet, wie mittelmäßig ein Buch sein müsse, damit es, wie sie sagen, interessire, d. i. allgemein gelesen werde; denn ganz guten Büchern, heißt es, geschieht dies nicht. Und sie werden gelesen, sie unterhalten und verderben den Geschmack der Nation weiter.
Welche Nation ist's, die ihren eignen Namen als Schimpfwort nicht nur duldet, sondern selbst ausspricht! »Ich will es Dir deutsch sagen« heißt: »ich will es Dir platt und grob sagen, daß Du es fühlst; ich will es Dir verdeutschen«. Und gewiß, die schönsten Schriften, die zartesten Charaktere andrer Nationen haben die Deutschen sich verdeutscht. Von alten Zeiten her, was ward die Aeneïs in Beldeck's, was ward Rabelais in Fischart's, was ward Quevedo in Moscherosch's Händen gerade durch die deutschen Zuthaten, die sie ihrer Urschrift gaben? Diese Verdeutschungsgabe durch eigne Zuthat ist nicht ausgestorben; Cervantes, Le Sage, und wer nicht? zumal die humoristischen und Theaterschriftsteller der Ausländer haben es entgelten müssen. Verdeutscht mußten sie werden; dann wurden sie als deutsche Originale gepriesen. Ein deutscher Bauer mußte Sancho, der edle Held von Mancha ein Unsinniger werden; jetzt waren sie nationalisirt. So nehmen unsre Nachbarn das Wort nicht, wenn sie vom Francisiren, vom Anglisiren sprechen; und doch ist unsre Sprache und Denkart so biegsam, so gefällig, daß sie sich ohne gewaltsame Verrenkung jeder alten und neuen Sprache sowie jedem Charakter derselben fast unübertreffbar anschließt, sobald nur Hände da sind, die sie anzufügen wissen, und die leichtsinnige Frechheit des deutschen »Bessermachens« aus dem Spiel bleibt. Fast an allen Nationen haben wir uns, zu eignem Schaden, durch solche Nach- und Ueberstümpereien versündigt.
Sie gestehen selbst, mein Freund, daß unsre besten Schriftsteller ungekannt oder vergessen sind, und wie viel haben Sie damit eingestanden! Wecken Sie nun die noch ältern auf, lassen Sie Lehrdichter und Minnesinger, den Freidank, Renner, Waldis, und wen sie wollen, im besten Gewande hervortreten, Caviar to the general,»Unschmackhaft für die Menge«. – H. [»Hamlet«, II. 2, im Gespräch mit den Schauspielern. – D. wie Hamlet sagt: sie werden, wie die schon erschienenen, Ladenhüter bleiben. Denn wer nimmt an Dingen solcher Art, an unsrer älteren Sprache und Denkart Antheil? Unser »Bragur« wird bald verstummen, wie so manche Unternehmungen zur Ehre der Nation vor ihm erlagen: »Wir Deutsche sind Deutsche«, sagt Luther. Der wackre Mann kannte sein Volk und hat es mehrmals mächtig geschildert.
Gehen Sie Ihre deutschen Sprichwörter und Blumengärten unparteiisch durch: neben den vortrefflichsten Gewächsen des deutschen Witzes und Scharfsinns, der deutschen Biederkeit und Rechtsliebe werden Sie eine Menge so zäher Sprüche, so hinlässiger, niederträchtig duldsamer Sentenzen finden, daß man wider Willen an den Ausruf jenes biedern Deutschen denken muß: »Ein Hundsf–, der Ehre im Leib' hat! Herz muß man haben!« Schon in den Kreuzzügen war der tapfere furor Teutonicus, »Herz im Leibe« ohne Verstand und Ehre im zwecklosen Angriff, ein Sprichwort; die deutsche Geschichte hat die Querelles Allemandes ohne Kopf und Ende sowol als die folgsame Herzhaftigkeit ohne Zweck und Ehre auch gnugsam bewährt. Sprichwörter der Art, sobald sie sich mit Niederträchtigkeit trösten oder den Kopf schütteln und mit einem endlosen »Kommt Zeit, kommt Rath« hinter dem Ohr suchen, was nicht da ist, wünschte ich ausgetilgt und verworfen. Dagegen gebt uns muntre oder aufmunternde Sprichwörter, römische oder spanische refranes, deren wir sehr bedürfen! sie athmen Ehre und Anstand, Abscheu vor Niederträchtigkeit und ehrlosem Gehorsam. Daß dieser Brief nicht von einem Thersites seiner Nation geschrieben sei, soll, wenn Sie ein geduldiger Deutscher sind, ein andrer Brief bezeugen.
Zweiter Brief
Der Deutschen darf ich mich annehmen; die Fehler, die im vorigen Blatt getadelt wurden, lagen ursprünglich am Wenigsten in ihrem Charakter; ihre Sprache und ihre alten Sprichwörter, der Spiegel der Denkart einer Nation, sind deß Zeuge. Kühn und kräftig war ehemals die Sprache der Deutschen, nicht schleppend und schleichend; ihre Sittensprüche sind bieder und wahr, dazu oft so scharftreffend, so kurz und rund, daß sie mit jeder andern Nation nicht nur wettlaufen, sondern im Wettlauf über manche andre als Siegerin erscheinen könnte. Gehe man Agricola's, Pistorius', Hertel's und Andrer Sammlungen von Sprichwörtern, Sebastian Frank's »Paradoxa«, Lehmann's »Florilegium«, Zincgref's »Apophthegmen«, Luther's, Kaisersberg's, Moscherosch's und Andrer Schriften durch: welch einen Schatz reiner Lehren, auf Recht und Wahrheit, auf Ehre und Tugend, auf Billigkeit und Treue gestellt, enthalten sie! Und wie ächt deutsch vorgetragen, in wenig Worten gediegenes Gold! Schade nur, daß jetzt wenig Deutsche diesen Reichthum ihrer Vorfahren an Weisheit und Rechtlichkeit schätzen und kennen! Sie kennen ihn nicht, weil sie ihn nicht schätzen; sie schätzen ihn nicht, weil er ihnen unbekannt ist.
Lehrhafter und lehrbegierigerLehrbegierig schreiben auch Wieland, Ramler u. A. Adelung erkennt es an neben »lernbegierig« und »Lernbegierde«. – D. war von je her wol keine Nation wie die deutsche, allenthalben ging sie in die Schule und lernte. Und wie Manches haben andre Nationen von ihr gelernt, dessen sie sich als des Ihrigen rühmen! Fast in Allem schritt sie in ihren glücklichern Zeiten andern Nationen an kühnen Versuchen vor; leider aber mußten es bei ihr meistens nur Versuche bleiben. In unsrer ältesten Dichtkunst z. B. ist der Lehrsinn der Deutschen nicht unverkennbar? Eine überfeine Kunst der Erdichtung, ein himmelhoher Flug der Empfindungen sind nicht ihr Verdienst, wohl aber ein muntrer, fester, ruhiger Geist voll treuer, oft naiver und zarter Wahrheit. Mehrere, unrecht so genannte, Minnesinger, »König Tirol«, »Der Winsbeke«, »Freidank«, »Der Renner« und so viel Andre sind seiner Lehrsprüche voll, und als das Licht der Wissenschaften mit Erasmus, mit Luther die Reformation, mit Opitz eine neue Epoche der Dichtkunst anbrach: worin waren wir reicher und glücklicher als in Lehre? Lehrdichter sind unser dauernder Ruhm; unsre schönste epigrammatische, lyrische, selbst epische Poesie ist Lehre.
Zum Spruch gehört die Fabel; er will in einer Begebenheit dargestellt, in einem wirklichen Fall sichtbar gemacht sein, und wie reich sind wir an treffenden Fabeln! Oft sagt nach deutscher Weise in wenig Worten das Sprichwort die Fabel selbst oder citirt, treu wie ein Referent, die Veranlassung, bei welcher und von wem das Sprichwort gesagt ward; es giebt uns also auf einmal Frucht und Blüthe. Der alte Geist der deutschen Erzählung ist so ganz der ächte Geist der Fabel, daß ich glaube, Aesop selbst würde manche nicht anders als unsre alten Deutschen erzählt haben, so ruhig-heiter, so treu und ernst, oft so schalkhaft-witzig, im Ganzen aber so gemüthlich. Auch hier mögen Boner's Fabeln, mancher Minne- und Meistersänger, Burkhard Waldis und in neueren Zeiten wie Viele, Viele für den feinen ruhigen Lehrsinn der Deutschen reden! Nur daß zumal in der neuesten Zeitkrise dieser Reichthum gering geschätzt, das Gold aus dem Staube nicht hervorgesucht wird, indem wir unsre Pilpais, Lokmans und Saadis, Hagedorn, Gellert, Gleim, Lichtwehr u. s. w. vergessen und verachten. Boner ist uns unverständlich, Waldis ist in Keines Hand mehr. Gehe man diese Fabeln durch: ob man den Charakter der Deutschen eines Mangels an Biederkeit und Ehrgefühl oder der Sophisterei, Ziererei, niedriger Unterwerfung mit Recht beschuldigen werde? Von andern Nationen kam die süße Falschheit, das langweilige Cerimoniel, der gedunsene Formularstil zu uns herüber, dem deutschen Charakter eigentlich zuwider. »Ein Wort ein Wort, ein Mann ein Mann« ist unser Spruch. Eher sind wir Araber in unsrer Denkart, Geschichte und Dichtkunst als complimentirende Chinesen.
Nur daß seit der Trennung der Religionen, noch mehr seit den öftern Einbrüchen fremder Völker in unser armes offnes Land, am Meisten seit der Errichtung so vieler Ludwigshöfe in hundert Residenzstecken und Dörfern u. s. w. Deutschland freilich sich selbst so fremde, seinem bürgerlichen Charakter, seiner Tugend und Sprache so abtrünnig werden mußte, daß wir uns aus ältern Geschichten erst selbst müssen kennen lernen. Die neuere Verwirrung Europa's endlich hat eine Menge deutscher Köpfe so verdreht, daß wir an uns selbst beinahe verzagen. In manchen Provinzen dürfen die Geist und Herz erhebenden Namen Freiheit, Gleichheit (Isonomie), die unsre Vorfahren in so viel republikanischen Städten gründeten, vertheidigten, bewahrten, nicht ausgesprochen, vor den Ohren Andrer die Worte Aristokratie, d. i. Regierung der Besten, Patriot, d. i. Freund des Vaterlandes, u. s. w. nicht genannt werden, blos weil andre Völker diese ehrwürdigen Namen gemißbraucht haben und man seiner eignen Zunge nicht traut. Die nachdrücklichsten Bezeichnungen unsrer Vorfahren von Tugenden und Lastern, von Gesinnungen, Eigenschaften, Aemtern und Geschäften, selbst von Zusammenkünften, Freundschaftserweisungen, Geschlechtsverbindungen und Geschlechtern haben wir aufgegeben und nennen sie, als ob wir dadurch geehrt würden, in andern Sprachen. Einst war dem nicht also.
Antwort
Unbegreiflich, was Sie an den Sprichwörtern haben, die doch nur Eselsbrücken, gemeine Marktplätze der Koch- und Kellerweisheit sind, bei denen sich kein Mensch von höherem Beruf aufhält, Krautkrämereien!
Perrault schon hat mit vollem Recht die alten sieben Weisen Griechenlands als ianorante Pedanten und pedantische Ignoranten verabschiedet, weil sie Sinnsprüche, und zwar jeder nur einen, z. B. so einfältigen als: »Nichts zu viel!« »In Allem bedenke das Ende!« u. s. w. im Munde führten. Wer einen Spruch der Art sagt und ihn oft, sogar als Weisheit sagt, was ist er? was wird er? Seine Vernunft verkriecht sich endlich in diese Worte wie in eine leere Schale und – vertrocknet.
Trauen Sie nie Menschen, die Gemeinplätze im Munde führen! Eben bringen sie solche aus, damit sie nach Belieben handeln mögen. Um die Hände frei zu haben, beschäftigen sie das Auge mit einer weiten, großen moralischen Aussicht; sie wissen, was sie dabei zu thun haben.
Und wie beschränkend ist ein solcher Spruch! Je allgemeiner, desto beschränkender ist er. Er fesselt an hohle Ausdrücke, an leere Worte; er spricht von einer großen Heerde Löwen, Schafe oder Ziegen, ohne daß Du ein einziges vor Dir siehest; gehe nun hin und suche Dir Schafe und Ziegen, damit Du bei dem Reichthum im Allgemeinen, wo Du Alles und nichts hast, doch auch im Besondern etwas wirklich habest!
Zudem, wer ans Allgemeine denkt, vergißt meistens das Besondere. Wer eine Gemeinregel im Kopf hat, übersieht meistens Umstände des Falls, der ihm vorliegt, besondre Umstände eines besondern Falls, die vielleicht eine andre Regel, also auch eine neue Ansicht erfordern, als ob keine Regel da wäre. Sprichwörter machen die Seele stumpf; man verläßt sich auf alte, gelernte Weisheit, um selbst weder zu hören, noch zu denken. Die Fibern des Gehirns, einseitig gerührt, werden stumpf bei solchen zuletzt ohne Sinn wiederholten Klängen, indeß die andern Fibern schlummern und der innere Sinn, der über alle wachen und sie alle melodisch beleben sollte, schläft. Dazu ist der Spruchrichter meistens ein stolzer Richter; er hat gesprochen, und es gilt, wenn sein Spruch gleich aus Weiß Schwarz, aus Schwarz Weiß machen sollte. »Wann Du zu Recht stellest,« sagt eine altdeutsche Handschrift, »so mußt Du einen Mann heischen allzeit; so giebt Dir der Vogt einen. Darnach heische noch einen zur Besserung, so giebt er Dir einen zur Besserung. Wann dieselben Männer aufgestanden, so sage ihnen, worauf Deine Sache stehet, und wann Du kannst ein Sprichwort anhängen, so thu es; denn nach Sprichworten pflegen die Bauern gerne zu sprechen!«Haltaus' Glossarium Germanicum medii aevi, p. 1710. – H. So weiland Sancho Pansa. Gehaben Sie Sich wohl!
Gegenantwort.
Für die Fibern Ihres Gehirns sorgen Sie nicht bei Anwendung der Sprichwörter; denn jede Anwendung will einen neuen Fall. Dieser muß übersehen und in allen Umständen erkannt werden, sonst ist das Sprichwort ein blinder Laut, den allenfalls auch der Esel sprechen könnte. Eben die genaue Anwendung auf den gegebenen Fall, die Verknüpfung des Allgemeinen und des Besondern, sie macht die Kunst des Sprechenden aus und setzt gewiß, falls Ihr Ohrgedächtniß vom Verstande nicht ganz getrennt ist, alle zur Sache gehörigen Verstandesfibern in Bewegung. Der Spruch wird, wie die altdeutsche Rechtssprache lautet, nach Erkenntniß der Sache gefunden.
Hartsinnig werden Sie also bei diesem Finden auch nicht werden; denn nur der Suchende findet. Oder wir müßten der ganzen menschlichen Sprache uns nicht bedienen; denn auch in ihr schaffen wir nicht, sondern wir finden. Längst erfundene Worte suchen wir auf zu Auslegung unsrer Gedanken, je gerechter, um so treffender, sonst müßten wir neue Worte und in jenem Fall neue Sprichworte erdenken; wer wehrt uns solches?
Da indeß viele Regeln menschlicher Denk- und Sittenweise da sind, scharf ausgedrückt und durch die längste Erfahrung bewährt, warum sollten wir uns den Gebrauch dieses vorhandenen Seelenreichthums versagen? Werden wir doch unvermerkt durch Regeln, meistens durch Aussprüche und Dicta erzogen und erziehen uns selbst durch solche. Daß also Kindern, Jünglingen dergleichen zu rechter Zeit, nie ohne den Fall der Anwendung gesagt, d. i. aus ihrer Seele gerufen werden, wer könnte dies tadeln? Nicht gelehrt werden sie ihnen, sondern erweckt in ihrer Seele, und wenn sie ihnen in Lesebüchern, in Vorschriften vorgedruckt, vorgeschrieben werden, noch sind sie nur Erinnerungen. Und warum sollte man sie nicht an das Beste, das in ihnen liegt, am Angelegensten erinnern?
Unbewußt oder bewußt handeln wir Alle nach Sprüchen und Sprichwörtern, oft nach sehr abergläubigen und falschen. Oft stehen wir wie Buridan's Esel zwischen zweien, wendend den Kopf zur Rechten und Linken. Das Urtheil unsers Verstandes und Gewissens giebt uns allein einen festen Weg zwischen beiden. Daß im gemeinen Leben Sprichwörter selten angeführt oder ausgedrückt werden, hat keinen andern Grund, als daß wir das Bekannteste, Gewisseste voraussetzen, nicht aber buchstabirend anführen. In unserm Innern liegen diese Machtsprüche des Verstandes und Herzens als unwandelbare Axiome, nach denen wir handeln, ob wir sie gleich nicht predigen, wie ja jeder organische Bau von außen nur das Aeußere, Organe der Mittheilung zeigt, das Innere aber, die wirksamen Triebfedern unsers lebendigen Seins, verbirgt.
Was Perrault über die Sprüche der sieben Weisen sagte, war Unverstand der Sache und Zeit. Wer berichtete ihn denn, daß sie diese Sprüche immer im Munde geführt, daß sie nur diese und keine andern gesagt haben? Und dann, da sie Gesetzgeber, Volksleiter waren, wer mit dem mindesten Aufwande das auszurichten vermag, was Andre mit vieler Anstrengung zu erreichen nicht vermögen, ist er nicht der größere Ausrichter? In der wahren Weisheit des menschlichen Lebens kommt es gewiß nur auf sehr Weniges an; nur daß dies Wenige strenge befolgt werde. Ist der Mittelpunkt und Radius gegeben, ziehe ich den Zirkel. Fénélon kehrte sich also an Perrault nicht, da er seinem königlichen Zöglinge die trefflichen Aussprüche der griechischen Weisen bekannt machte; kein Kenner des menschlichen Geistes und Herzens wird sich daran kehren. Alle moralischen Gemüther fanden an sinnreichen Sprüchen der Art ihr inniges Gefallen, und von Pythagoras an haben treffliche Menschen sie thätig eingeschärft. Sie enthalten, wie Steuchus sie nennt, die perennirende Philosophie (philosophia perennis),Des Steuchus »De perenni philosophia« neun Bücher erklärte Julius Scaliger für das beste Werk nach der Bibel. – D. Samenkörner, die sich in jedem neuen Boden, in jeder neuen Jahrszeit neu beleben. Die Sammlungen, die Erasmus und Grotius, Neander, Brunck u. A. aus Griechen und Römern gemacht haben, sind, wie sie sich auch nennen, goldene Werke, den heitersten Stunden der Jugend mit Recht und aus Liebe zu empfehlen, aufs ganze Leben süße Geschenke.
Nicht aber von Griechen und Römern allein, von allen Nationen der Erde wünschte ich ihre Sprichwörter und Weisheitssprüche gesammelt. Von den meisten morgenländischen Völkern hat man derer bereits eine unschätzbare Ausbeute, die auch uns nicht unbenutzt bleiben sollen; aus andern Welttheilen enthüllen uns oft wenige derselben den Charakter der Nationen mehr als lange Erzählungen ihrer Besucher. Sie zeigen den Compaß ihrer Lebensführung, und da Wahrheit, Recht und Güte in allen menschlichen Gemüthern zwar eins, ihr Anblick und ihre Anwendung aber tausendfach verschieden sind: wer wird sich nicht freuen, denselben Edelstein auf so mancherlei Art brillantirt zu sehen, als es Zeitumstände, Organisation und Klima zu fordern schienen. Die europäischen Nationen sind in Sprüchen dieser Art unsrer Denkweise näher; auch ihrer Cultur waren sie Leiterinnen, sowol in den Künsten der Rede als in Bildung ihres Charakters. Der spanischen Poesie (und welcher andern nicht?) gaben die refranes Ziel und Weisung. Sancho mit seinen Sprichwörtern hätte seine Insel weiser und glücklicher regiert als manche Politik mit ihren abgefeimtesten Kniffen und Staatsregeln, die meistens ein falsches Einmaleins sind, das zuerst dem Betrogenen, zuletzt dem Betrüger selbst schadet.