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In der Jugend ist man einsam. Ach, es gab ein schlankes Spinnenmännchen, das meinte, es sei das einzige in der Welt. Er war ein Jüngling wie alle anderen Spinnen, mit gutem Appetit und gesund in jeder Beziehung; er hätte sich in dem ersten besten daunigen und starken Spinnenmännchen widerspiegeln können, das in seinem nagelneuen Gespinst saß und betaute Fliegen verzehrte. Aber unser Spinnenmännchen meinte nun, daß eine Vorsehung gerade ihn zwischen allen Spinnen der Welt erwählt und ihn so groß und einsam gemacht hätte. Das war schön, aber auch schwer. Ach, es war süß, aber niederdrückend, so gottbegnadet zu sein, ohne zu wissen woher, weshalb oder wohin, das machte einen so edel und wehmutsvoll.
Man muß es aus sich herausspinnen! Sonst kommt eine Zeit, wo man zu eingesponnen wird. Auch die Stunde unseres Spinnenmännchens schlug. Er hatte sich durch seine erste Jugend gesommert und viel gelitten, die Sonne hatte nicht für ihn geschienen; jetzt neigte das Jahr sich dem Herbst zu, alle Dinge reiften …
Es war in den schönen, klaren Septembertagen, als das Spinnenmännchen sich aufwärts schwang. Er konnte nicht mehr auf der Erde bleiben; er bestieg erst einen Grashalm und dann einen anderen und sah sich von dessen höchster Spitze mit solch fiebernder Sehnsucht um, daß er die weite Welt zum Beben brachte. Er stürzte sich von einem Halm aus recht beträchtlicher Höhe herab, um zu sterben, hatte sich aber vorher, ohne es selbst recht zu wissen, durch einen Faden festgebunden, so daß er nicht umkam, sondern glühend von Dankbarkeit, Scham und Gesundheit wieder nach oben kroch. Schließlich kehrte er der Bodenerhöhung, wo er geboren und die seine Heimat war, den Rücken, einem kleinen Wiesenstück mit bescheidenem Grasboden, in dem ein alter Regenwurm hauste, der blind dem Leben zweier Laufmilben gegenüberstand, die trotz Purpur in Nahrungssorgen waren; wo ein einsamer Löwenzahn prangte, stets in zartem Zwiegespräch mit der Sonne, der er ähnelte, und wo eine kleine Familie von Hundsgras sich zu einer gewaltigen Höhe emporgeschwungen hatte, ohne indessen etwas zu tragen – das Spinnenmännchen nahm Abstand von dieser Bodenerhöhung und wanderte aus. Endlich kam er zu einem großen Baum, den er bestieg.
Und das war eine lange Geschichte. Er wanderte Tage und Nächte, immer aufwärts, er stieg und stieg, höher, höher, er mußte hinauf, obgleich er sich so schwer in den Gliedern fühlte. Es kamen auch verhältnismäßig ruhigere Zeiten, wenn er längs eines Astes wanderte, der nicht so steil war, sondern in sanfter Schrägung aufwärts führte, bis er dann wieder zu einem Zweig kam, an dem er lotrecht in den schwindelnden Raum hinaufsteigen mußte. Man beachte, daß das Spinnenmännchen sich noch nicht ein einziges Mal umgesehen und zurückgeblickt hatte; das tut man nicht bei Bergbesteigungen; man versagt sich mit großer Willensstärke jeglichen Rückblick, bis man den Gipfel erreicht hat. Das tat unser Spinnenmännchen auch, aber er fühlte, daß er unendlich hoch oben sei, ihm war so schwindlig und wild zumute, und es sauste in seiner Brust. Endlich erreichte er ein Blatt, das höchste, das letzte …
Und sah sich um.
Wie war die Welt unendlich tief und schön! Das kleine Spinnenmännchen hing mittendrin, als sei er selbst der verwunderte Mittelpunkt der Welt, vom Sonnenschein geblendet, von dem freien Raum berauscht, und als sich nun eine wilde Sehnsucht wie ein loderndes Feuer seiner bemächtigte, ein Verlangen nach dem Raum selbst, nach der Sonne, nach dem Unsagbaren, da geschah es, daß er sich in die Lüfte erhob. In seiner tiefen Not, in dem Drang, seinem Wesen Ausdruck zu verleihen, spann er nämlich einen Faden und klammerte sich an den äußersten Rand des Blattes, auf dem er saß. Er goß ein langes, feines Gewebe durch die Luft, der Sonne entgegen, eine Fangleine nach der Unendlichkeit – man konnte sie in der klaren Septemberluft wie eine unendlich feine, schwebende Silberfiber unterscheiden, wie einen winzigkleinen Silberblitz in der blauen Luft –, und da das Spinnenmännchen immer weiterspann, so daß der Faden von der Brise weit durch die Luft getragen wurde und leicht und dünn im Äther schwebte, kam natürlich der Augenblick, in dem das Gewebe stärker wurde als das Spinnenmännchen, oder man kann es auch so ausdrücken, daß die Art, wie er seine Lebenssehnsucht auszudrücken gezwungen war, ihn überwältigte, und bevor es ihm selbst zum Bewußtsein gekommen war, hatte er in seliger Schöpferlaune den sicheren Boden mit allen vier Paar Beinen losgelassen und war durch sein eigenes lockendes Gespinst in den Raum hinausgezogen worden.
Die Spinne war zum fliegenden Sommer geworden.
Wie war es herrlich. Er zog lange durch die blaue, ätherreine Luft dahin und fühlte sich allein mit der Sonne. Er stieg höher und höher auf den spurlosen Bahnen der Septemberbrise, und das Gewebe, das ihn trug, flog durch die Luft wie ein Sonnenstrahl, der durch das Blau des Himmels schwimmt. Die welkenden Wälder tief drunten sahen aus wie eine Schicht Rost auf der Erdoberfläche, und in weiter Ferne brach sich die Sonne wie in einem klaren, funkelnden Ring; das war wohl das Meer und das Ende der Welt.
Lange, lange flog das Spinnenmännchen so dahin. Die Brise trug ihn wieder näher zur Erde, und er sah viele seltsame Dinge. Wenn das Gewebe nicht mehr recht tragen wollte, goß er nur einen neuen, feinen Faden durch die Luft, der dann von einer anderen Brise gefangen wurde, und damit fuhr er fort, bis er in einem ganzen Schleier von Fäden saß, einem losen, seidenweißen Schleier, der wie ein kleines, sonnenbeschienenes Segel droben in dem klaren Septemberhimmel trieb. Von diesem federleichten Luftschiff im Äther, das weißer war als ein Berggipfel und einen freieren Flug hatte als irgend ein beschwingtes Wesen, wurde das glücklichste Spinnenmännchen getragen.
Wie groß aber war das Erstaunen und das Mißvergnügen des Spinnenmännchens, als er mehr von diesen windgetragenen Luftschiffen rings umher in der Luft entdeckte! Als er so nüchtern geworden war, daß seine Sinne wieder ihre Schuldigkeit taten, sah er erst eines und dann noch eines und dann viele! Jeder Luftzug trug weiße Gewebe, und eines kam ihm so nah, daß er den Passagier darauf erkennen konnte, ein kleines behaartes, dickhäutiges Spinnenmännchen, das ihm auffallend ähnlich sah. Was sollte das heißen? Der ganze Himmel schien ja voll von fliegendem Sommer zu sein! Er war also nicht allein mit der Sonne! Wie armselig. Das bedeutete, daß die ganze übrige Spinnenjugend sich auch auf einen Luftflug begeben hatte. Ein ganz gewöhnliches Wettrennen also, das wahrlich niemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen brauchte, da diese lenkbaren Schiffe etwas ganz Alltägliches zu sein schienen. Nichts als Sport, Luftschifferei der vereinigten Spinnen. Ein Wettsegeln natürlich, bei dem es galt, am höchsten zu steigen und die meisten Augenbrauen zu brechen … nein, unsere Spinne bedankte sich!
Er goß keine schwimmenden Sonnenstrahlen mehr in den wogenden Äther, nein, meine Herrschaften, das überließ er anderen. Er hatte genug. Was die Sonne anbelangte, so war er ihr jetzt so nah gewesen, daß er ruhig auf sie verzichten konnte. Und außerdem war seine Sehnsucht nach ihr ein Mißverständnis gewesen, eine falsche Deutung seines inneren Verlangens; denn die Sonne, die trug man ja in seinem eigenen Herzen. Jede höhere Sehnsucht entspringt einem inneren Drang, den man begeistert dem Himmel verehrt, der aber trotzdem unser ureigenstes Eigentum ist … ein innerer Drang …
Oh, und das Spinnenmännchen war außerdem sehr hungrig! Eine kleine Fliege, frisch gefangen, an allen Beinen gefesselt, aber sonst springlebig … wer weiß, wenn man so hoch geflogen wäre, daß man den Himmel erreicht hätte, ob man dann nicht einen Engel in diesem Ballongewebe fangen und sich an höchstdemselben hätte gütlich tun können? Unsinn, aber essen mußte man! Am liebsten eine blaue, ruchlose Schmeißfliege, die starblind genug war, um sich trotz ihrer riesigen Augen in dem Netz zu verfangen, oder einen recht großen Brummer, so daß man den Mund ordentlich voll nehmen konnte … Ach ja!
Das Spinnenmännchen kam auf sehr natürliche Weise auf die Erde herab. Er zog nach und nach sein Gewebe mit den Beinen ein, bis es nicht mehr trug, und dann sank er herab, sank und sank und kam wohlbehalten unten an. Als er noch einige Zoll von der Erde entfernt war, konnte er das letzte Stückchen nicht mehr abwarten, sondern sprang von dem Rest des Netzes herab, warf sich geradeswegs ins Gras und klammerte sich mit allen acht Beinen an die gesegnete Erde, ohne auch nur ein einziges Mal nach oben zu blicken, nach seinem verlassenen Schiff. Er sah überhaupt nie wieder nach oben.
Er war nämlich noch keine zehn Schritte gekrochen, als er zwischen einer abgeblühten Schafgarbe und einem Timotheusgras eines großen, soliden Fangnetzes ansichtig wurde, in dem mehrere Skelette von verschiedenen Insekten hingen, und in dessen Mitte das wunderschönste Spinnenweibchen saß, das seine Augen je geschaut hatten!
Sie wurde sein Schicksal. Sie war so lieblich und so stark, ein Weib durch und durch; sie war so nachgiebig und schlug dabei um sich wie ein Hammer. Außerdem war sie ein großes Fanggenie, das an allem Geschmack fand, worin Saft enthalten war, ob es nun Ameisen waren, so hart, daß man Glas damit schneiden konnte, oder eine Stabheuschrecke, die ihr Leben in Gestalt eines Blitzableiters sicher dahinzuschleppen wähnte; sie fand in allem einen nährenden Tropfen und hängte die Dinger nachher vor ihrer Tür auf. Dazwischen verzehrte sie natürlich gewöhnliche Nahrung, Fliegen, Motten, hin und wieder eine galauniformierte Libelle, oder was sonst an flügellosem Getier, Maden und Kohlraupen in ihr Netz plumpste oder sich auf der Erde überraschen ließ. Frau Spinne hatte eine stillschweigende Art, sich auf die verfressenen Wehrlosen zu stürzen und ihnen den Giftstich zu geben, und sie war, wie gesagt, nicht wählerisch. Das war eine der Eigenschaften, die unser reizendes Spinnenmännchen am meisten entzückte, und ihn zum feurigen Anbeter machte. Sog sie mit Gier eine Kohlraupe aus, so versank er in Bewunderung über diese süße Barbarei, dieses prachtvolle heidnische Renaissancetemperament; machte sie sich mit Behagen daran, ekelhafte Schleimtierchen von den Graswurzeln abzusaugen, die sie vorher mit Ameisensäure befeuchtete, so erschien ihm dies wie höchste Verfeinerung, wie edle, große Kultur!
Frau Spinne war bildschön von Gestalt. Sie hatte eine Taille, so schlank, fast nur wie ein Faden zwischen Ober- und Unterkörper. Das deutete auf eine alte, vornehme Familie. Oh, sie war so zart, daß sie leicht durchbrechen konnte; man mußte sich sehr in acht nehmen, mußte ihr sanftes Wesen schonen (daß sie eine kräftige, kerngesunde Person war, die ihren Korpus mit Hilfe von Stricken und handgreiflicher Kraft zweiteilte, das konnte unser Spinnenmännchen nicht sehen, geblendet wie er noch war von der Sonne und dem weiten Raum). Sie hatte acht taugliche Beine, wie das Pferd Wotans, der Giftmund saß ihr am rechten Fleck, sie spann vorzüglich und war selbst eine Spindel, das Zeichen des Kreuzes trug sie sichtbar auf dem Rücken.
Aber nun kommt das beste. Sie war Mutter. In einer Erdhöhle neben den Wurzeln der Timotheusgräser hatte sie einen hübsch gehäkelten Sack verborgen, und der war voll von Eiern, die Beine bekommen hatten, drei Dutzend lebenden Spinnenbabys, so klar und so gleichmäßig wie Mettropfen. Sie waren allerliebst, Frau Spinne liebte sie (anderer Kinder fraß sie), und wenn sie satt war, glänzte sie als Mutter, indem sie den Sack in die Sonne hinaufschleppte und seinen Inhalt lüftete. Die jungen Spinnen zappelten mit unzähligen zarten Beinchen durch die Maschen des Sackes, als verlangten sie einstimmig, sofort groß zu werden und davonzufliegen. Es mag hier bemerkt werden, daß die Spinnen einst vor vielen tausend Jahren wie andere Insekten Flügel hatten, aber daß sie sie in einer materialistischen Welt zusetzten; deshalb werden noch heute alle jungen Spinnen mit noblen Fluggelüsten geboren.
Seht, dieser Sack mit Spinnenjugend rief die tiefsten und edelsten Instinkte unseres Spinnenmännchens wach. Es wurde ihm endlich in einer letzten inneren Eingebung klar, daß hier die wahre Wirklichkeit zu finden sei, von der seine unendliche Sehnsucht nur ein Abbild gewesen war. Das, was ihn in die Welt hinausgetrieben hatte, war das tiefinnerste Verlangen nach der Familie, der Wunsch, sein Leben in einer Generation fortgesetzt zu sehen! Jetzt galt es, Seelenstärke genug zu besitzen, seinen Traum in der Wirklichkeit, die vorlag, und in keiner anderen, wiederzuerkennen, seine innere Idee mit der ὑλη in Einklang zu bringen … das war sicher Platons Meinung gewesen. Und war es nicht seine Meinung, sollte man darum fortfahren, auf diese weise, wenn auch drüsenlose Spinne Rücksicht zu nehmen, die ihr Leben in einem Keller dahingelebt hatte? Was war das Richtige? Dort war Platon … aber hier war die Generation!
Sie heirateten.
Am Hochzeitstage fraß Frau Spinne ihren neuen Gemahl und hängte sein Skelett oder richtiger seine Hülle vor ihrer Tür auf. Dort hing er im Netz und wehte bei der geringsten Brise hin und her, so federleicht war er geworden. Auf den ersten Blick schien es unser vollständiges Spinnenmännchen zu sein, aber er war hohl, die Beine waren hohl, der Körper war eine verblichene Hülle, er war nur noch die Schale seiner selbst.
Ein Tausendfuß, der als Junggeselle unter einem Stein in der Nähe wohnte und Zeuge dieses ehelichen Dramas wurde, erzählte später, aber er war ein Zyniker, daß er selten den Ausdruck einer so tiefen Glückseligkeit gesehen habe, wie bei dem jungen Idealisten, als er gefressen wurde. Er sah wie die personifizierte Seligkeit aus, sagte der Tausendfuß, als er in die Allnatur aufging und mit ihr verschmolzen wurde. Nach überstandener Trauung war er zuerst sehr stolz gewesen, darauf überkam ihn eine unerklärliche Angst, die ihn immer mehr mit sich gerissen hatte, bis sie in das vorhin erwähnte Glück des Todes überging.
Der Tausendfuß krümmte sich vor Lachen wie ein S und spreizte seine Kneifzange, als wollte er einen Nagel aus der Himmelswölbung ziehen. Und der Laufkäfer, dem er das Gesehene erzählte, eilte wie ein Schiff auf hoher See durch das Gras davon, um diese unbezahlbare Geschichte weiterzuberichten.