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Darwin und der Vogel

Noch liegt Schnee auf der Erde, aber der Frühling ist nah. Die Sonnenwende macht sich mit jedem Tage mehr geltend, der Himmel drängt sich hell und hoch zwischen den Wolken hervor; bevor wir uns besinnen, haben wir warme Nächte.

Dieses launenhafte, nasse und strahlende Wetter ist echt dänisch. Kein anderes Land ist in dem Maße unter freiem Himmel bloßgelegt wie Dänemark. Bald scheint die ganze Ostsee sich über die Straßen von Kopenhagen zu breiten, mit nasser Seeluft, niedrig ziehenden Wolken, rauhem Nebel, der dennoch nach Wachstum schmeckt; bald strahlt die Sonne über der Stadt wie eine werbende Gottheit.

Hier wird das Frühjahr gebraut, von hier kommen Wankelmut und Leichtgläubigkeit, bald Blindheit und bald visionäre Delirien, hier auf diesen niedrigen Inseln ist der Frühling nun einmal zu Hause.

Eine der Stellen, wo der Frühling zuerst zu hausen beginnt, ist draußen auf dem westlichen Kirchhof. Es ist so offen und hell auf dem hochgelegenen Begräbnisplatz, der sich mit der einen Seite den Türmen und kompakten Kasernen der Stadt zuwendet und mit der anderen dem unbebauten Land, dem Strand und dem fernen Horizont. Von hier oben gesehen liegt das Meer jenseits der Insel Amager immer in blendender Verschmelzung mit dem Südhimmel. Auf den Wegen und Gräbern, wo die Sonne hinscheint, taut die schwarze Erde auf, und das verwelkte Gras dampft kaum sichtbar unter dem kalten Sonnenschein, im Schatten aber, hinter Tannen und Hecken, liegt die Erde noch hart wie Eisen, mit einem feinen Überzug von knisterndem Reif. Wie still ist es hier. Der kleine Teich dort hinten starrt mit seinem Schild von geborstenem Eis, – als ich zum letztenmal hier war, lag er wie ein brodelnder Topf da, in dem das klare Wasser sich mit der Sonne vermischte, während die Kröten auf und niedertauchten. Alles das kommt nun, bald ist es gewesen. – Noch aber ist es hier winterlich stumm. Ein einziger Vogel singt in der Trauerweide, fühlt sich mit einer kleinen flötenden Note vor, die ebenso hell und kalt ist wie der frühzeitige Sonnenschein.

Einige junge, hohe Weidenschößlinge recken sich mit weißen Knospen dem weißblauen Himmel entgegen, und die blanke Rinde ist mit Licht übergossen; sie schwanken voll schimmernder Grazie wie ein Bund Speere und scheinen feine Blitze von Sonnenlicht in den blauen Raum hinaufzusenden. Ein geringes Spiel, aber es wiederholt sich in jedem Frühjahr, und es schadet niemanden, wenn er eines Tages allein sitzt und es beobachtet, und leise mit einem Freund spricht, der tot ist und dennoch so nah: Lenau.

Ringsherum breiten sich die Gräber, die Monumente in einem fernen, ernsten Stil, die kleinen Zypressen und die mit Absicht verkrüppelten Trauerpappeln, diese ganze Stadt en miniature, in die sich zu begeben eine Art abenteuerliche Reise ist. Liegt doch ein eigener Humor, eine Tiefe von bezaubernder Unwissenheit, darin, daß eingeborene Kopenhagener diese Stadt im Kleinen als ein Abbild für eine Welt errichten, die nicht existiert. Sind es uralte Vorstellungen vom Süden, die spuken und nicht sterben wollen, müssen darum die Zypressen herhalten und die »abgebrochenen« Säulen und die ganze klassische Landschaft in einem Blumentopf? Oder ist es noch lächerlicher, noch liebenswürdiger heidnisch, ist es eine blinde, unauslöschliche Erinnerung an die Periode vor der Eiszeit, als das Klima im Norden tropisch war, ist es diese verlorene Welt, die noch bruchstückweise auf unseren Kirchhöfen umgeht? Wie dem auch sei, die Liliput-Stadt des Kirchhofs hat ihren eigenen Kolossalstil in Verkleinerung, der unsere Sympathie wachruft. Hier ruht H. P. Hansen und R. Messerschmidt usw. Wir meinen sie gekannt zu haben und empfinden nur Freundschaft für sie. Die Zeit steht still über der Stadt der Gräber – – –

Die Sonne aber flammt in weißer Majestät am Himmel, funkelt, pflanzt fort. Wenn man zu ihr aufsieht, ist es, als ob sie Sonnen und immer wieder Sonnen herabtropfen ließe, wie Odins Ring. Und die Wärme, die von der Sonne durch die Frostluft hinabdringt, von der ungeheuer fernen und über allen Verstand gewaltigen Feuersphäre, von der wir schwindelnde Dinge wissen und doch nicht wissen, diese Wärme ist so geheimnisvoll, daß man von einem Grauen geschüttelt wird, das ursprünglich ist wie das Leben selbst und darum süß und von einem Glücksgefühl schwindelt, das verletzt, weil es den Gedanken an den Tod in sich birgt.

Das Kapital des Frühlings, das einzige, das man sich zurücklegt, besteht darin, daß man der Natur näher kommt, je älter man wird, bis man unzweifelhaft mit ihr verschmilzt. So traurig ist das Leben nicht, daß man mit dem Alter den Sinn für Wind und Wetter, für Pflanzen und Sonnenschein und Farben verliert, im Gegenteil, je mehr die Kräfte und Leidenschaften abnehmen, desto mehr verfeinert man sich nach jener Richtung. Das sah ich an einem dunklen Tage vor mir, als ich das Bedürfnis hatte, mir ein Symbol zu bilden, in dem Schönheit und Ernst, Dauer, vorhanden waren. Da sah ich den Frühling und Darwin.

Es war draußen in einem Walde, an einem Vorfrühlingstag, der Waldboden war weiß von Anemonen und die Buchen trugen junges Laub. Es war eigentlich nur eine blendende Musik von Farben, grünen und blauen Farben, dieses vom Sonnenschein durchglühte Laub und das Wunder des Himmels von Blau in Blau. In diesem Meer von jungen, herzerfreuenden Farben standen die Buchenstämme mit ihrer frischen, schiefergrauen Rinde wie lebende Säulen. Erst sah ich nichts weiter als diese Einmütigkeit von Farben, das wachsende Laub und das Bad von Sonnenlicht und Himmelsblau, in dem sich alles so frühlingsmäßig vertiefte.

Plötzlich aber unterscheide ich ein Gesicht an einem alten, dicken Buchenstamm, von einem zarten Laubzweig halb verborgen, der tief unten an dem alten Stamm hervorgesprossen ist. Es ist Darwin. Man wird seiner nur schwer ansichtig, denn seine bleichen Greisenzüge und der weiße Bart sind fast eins mit der grauen Rinde des alten Baumes und das Laub fällt mit seinem langen, verblichenen Mantel zusammen. Nur wenn man es weiß, sieht man die bekannten Züge im Walde. So mit der Natur verschmolzen ist der alte Mann, so verborgen schreitet er im Winter seines Lebens mitten in den Frühling hinein, er, dessen ganze Seele das schönste Beispiel von genialer mimiyry war, das die Menschheit jemals gekannt hat.

Er sieht ganz still, und man fühlt, daß die Ruhe, die über seinem schönen Haupte schwebt, durch die Liebe zur grünen Erde erworben ist. Man sieht, daß Leben und Weisheit nur Aufmerksamkeit sind.

Seine Augen sind seitwärts auf eine bestimmte Stelle gerichtet, zögernd, mit einem Blick, der voller Nahrung ist, er beobachtet etwas, sieht wie derjenige, der die Prüfungen eines Lebens hinter sich hat und erst jetzt die Fähigkeit zu wissen besitzt, indem er ungesehen dasteht und beobachtet.

Und indem ich der Richtung seines Blickes folge, entdecke ich in der Krone eines Haselbusches einen ganz kleinen Vogel. Ich hätte ihn sonst nicht gesehen, da er ganz still zwischen dem Laub beschäftigt ist und eine Farbe hat, die sich zwischen Schatten und Blättern verliert. Er baut sein Nest, hat ein langes Pferdehaar im Schnabel und legt den Kopf bald auf die eine, bald auf die andere Seite, während er ganz leise auf dem Ast hin- und herrückt und die Anbringung des Pferdehaares im Nest überlegt, das halb fertig zwischen zwei Ästen sichtbar ist. Er fühlt sich so sicher, schlüpft so sorglos zwischen Blättern und Sonnenflecken ein und aus, obgleich er allein ist, denn er ist ja überall zu Hause und immer mit seinem winzigkleinen Schicksal vertraut. Der Tag blaut, das Laub trinkt die warme Luft.

In diesem Frühlingstag voll Süße und Jugend sehe ich den großen Kenner so behutsam dastehen und sich mit dem Dasein des Vogels eng verbinden, selbst fast von der Natur, die ihn umgibt, ausgelöscht, betagt und gebrechlich, aber mit der Unsterblichkeit in seinen milden Augen. Er sieht so bemoost aus, mit tiefen Runzeln in dem erdgrauen Gesicht, er hat, mit Verlaub, eine Warze auf der Nase, der Bart wallt wie ein Bündel feiner und verbleichter Flechten herab. Er gleicht einem alten Gewächs. Die Farbe der blauen, allweisen Augen aber fällt mit der des Frühlingshimmels zusammen. Man muß genau zusehen, um ihn im Walde zu unterscheiden.

Wie er dort steht, führt er die Gedanken zu dem Mann Gottes im Märchen, der nur eine Stunde im Hain verharrte, um dem Gesang eines Vögelchens zu lauschen, und der tausend Jahre fort gewesen war, als er aus seiner Verzückung erwachte. Auch Darwin steht dort und ist gleichzeitig fort, viele tausend Jahre, denn er sieht nicht allein den Vogel im Busch, er erfaßt auch, daß es ein gefiederter Vierfüßler ist, dessen fischartige Vorfahren einst aus dem Meer an Land krochen. Periophthalmus murmelt er vielleicht, während seine Gedanken irgendwo in den Tropen weilen, im Mangrovehain, wo er den Fisch an Land gehen sah. Hier und beim Vogel und unten in der Juraperiode hat der alte Vergleicher und Wiedererkenner seine Gedanken.

Ist er denn tot – ist es nicht eher wahr, daß er bis in alle Ewigkeit leben und stets mitten im Frühling zu finden sein wird?

So wie Darwin das Dasein empfing, gerührt und in tiefster Ehrfurcht, so hinterließ er es, nachdem er selbst mit der Erde verschmolzen worden war.

Der Frühling kommt zu mir in seinem Namen, wie die Strahlenwärme der Sonne durch Frostluft zwischen Gräbern.


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