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Der alte Gnom

Der König war tot, und im ganzen Lande läuteten die Kirchenglocken, nicht am wenigsten in Kopenhagen, wo alle Glocken zu bestimmten Tageszeiten durcheinanderbimmelten, von den allerältesten Methusalemsglocken mit ihren Grabesstimmen bis zu den kleinen, eifrigen Schellen in den neuen Gemeindehäusern. Ein jeder erinnert sich der grauen, hoffnungsverlassenen Alltage, als es nichts anderes als Regen und Glockengeläute gab, hin und wieder ein wenig Frost, dann wieder Nässe, aber keine Sonne, und gegen Abend immer das schwermütige Miauen der nassen Glocken, als finge eine alte Wunde von neuem zu bluten an, als stolpere das Jahr kopfschüttelnd und todmüde vorwärts, ohne nach Hause finden zu können. Der Winter war so hart in diesem Jahre, so naß und so dunkel.

Eines Nachts aber, nach Sturm und Tau und abermals Frost und ersticktem Glockengeläute während der langen Dämmerung, wurde es plötzlich still. Der Vollmond kam hervor und machte den Himmel blau, eine Milde in der Nacht zehrte an dem Schnee, der den Dächern wie Tränen in den Augen saß. Es wurde so still, daß nichts anderes als das Dachgetröpfel über der weiten Stadt zu hören war, und es klang wie ein trostreiches Geflüster zwischen den Häusern, daß alles jetzt wieder gut werden würde.

Eine schwarze Wolke schien über den Ruinen des Christiansburger Schlosses zu lagern. Es war aber ein alter Gnom, der vom Lande gekommen war und sich zwischen den öden Ruinen niedergesetzt hatte, einer von den echten, jetzt ziemlich seltenen Erdgnomen, die sich das Auge mit einer Garbe auswischen, wenn sie einen Tannenzapfen hineinbekommen haben. Er saß in einer müden, gebeugten Stellung auf der Kolonnade im Schloßhof, der Mond beschien die bemoosten Feldsteine, die aus seiner Kopfhaut hervorsahen, und seinen mit Heidekraut bewachsenen Buckel.

Sagte er etwas – oder war es nur Spuk, der zwischen den hohen, kahlen Schloßmauern und in den leeren Fensterhöhlen seufzte? Er hatte gewiß irgend etwas gebrummt, denn als der Mond jetzt den verfallenen Kamm der Ruine erreichte und in den Schloßhof schien, zeigte es sich, daß er bei dem uralten Basilisken aus Absalons Brunnen saß und ihm sein Herz ausschüttete.

Es ist tatsächlich nicht mehr zum Aushalten, sagte der Gnom und schüttelte vergrämt den Kopf. Ich habe Glockengeläute nie recht vertragen können, aber dies hier ist zu arg. Ich habe seit Harald Blauzahns Tagen ein wenig geschlafen, und plötzlich erwache ich durch Ohrenreißen – und höre ein Gebimmel über das ganze Land! Man kann nicht mal mehr ruhig in der Erde liegen …

Hier versank der alte Gnom in Gedanken. Er sah ganz verkommen aus, Schneewasser saß ihm in den Brauen, und seine Beine waren sumpfig von Regen. Ihn fror von seinem Winterschlaf.

Ja, zischte der Basilisk mit einem hysterischen Versuch, humoristisch zu sein – ja, isss … jetzt läuten sie ihre Glocken mit Elektrizität … sss … sss …

Und der Basilisk streckte seinen gekrönten Kopf weit aus dem Brunnen, so daß man im Mondschein deutlich seinen dünnen Hals sehen konnte, der von jahrhundertaltem Hausschwamm und Brunnengift zerfressen war. Fette Mauerasseln krochen ihm in den Mundwinkeln, und seine Augen waren vor Alter gebrochen. Dennoch schickte er sie fleißig hin und her, um alles Hervortretende mit dem Erdboden gleichzumachen.

Ich bin zu zeitig geweckt worden, seufzte der alte Gnom und fiel dann von neuem in tiefe Gedanken, während ihm der Kopf auf die Brust sank.

Der Mond schritt durch einen leichten Wolkenschleier und kam dann wieder lächelnd zum Vorschein, leuchtete in den öden Raum zwischen den Schloßmauern hinein, wo noch Spuren von Stockwerken und Scheidewänden zu sehen waren, wie die Reihen entschwundener Könige. Tropf, tropf, fiel das Tauwasser von den kahlen Gesimsen.

Die Ratten erzählen mir, daß die Ruine heruntergerissen werden soll … sss … sss, flüsterte der Basilisk und warf den widerlichen Hals in infamem Entzücken hin und her. Es soll wohl ein neues Schloß gebaut … sss … und ich in einem Museum versorgt werden, ich und die Horneule und die Kellerkröte. Jetzt bist du wohl vom Lande gekommen, um das alte Schloß wieder aufzubauen.

Und hier krähte der Basilisk spröde und fast unhörbar, wobei ihm einige Flammen aus dem Hals schossen.

Neue Zeiten … sss … fast könnte man glauben, daß die Zeit vorwärtsschreitet!

Das tut sie auch, flüsterte die Dachtraufe, die sich in aller Stille zu einem neuen Tempo entschlossen hatte und bescheiden aber taktfest und bestimmt mit jedem Tropfen vorwärtstropfte.

Der alte Gnom ließ seinen Kopf ganz in seinen Schoß sinken und schlummerte ein. Der Basilisk zog sich in den Brunnen zurück, um seine Zunge etwas mit Fäulnis zu befeuchten. Plötzlich aber schoß sein gezackter Kopf wieder hervor, und er richtete seine blinden, ohnmächtigen Augen nach oben, zum Mond hinauf … was war das?

Eine spröde Musik erklang hoch oben in der nassen Luft, ein Harfenton, alt wie die Sündflut, aber frühlingsartiger als irgend etwas in der Welt, und im silberweißen Mondlicht konnte man eine Schar Wildgänse sehen, die in einem Keil über die Ruine hinzogen und in der veilchenblauen Nacht verschwanden.

Kaum war der luftige Wandergesang in dem Nachtdunst verhallt, als ein neuer Klang über der Stadt ertönte, stark und durchdringend.

Der alte Gnom zuckte zusammen, und er blickte sehr mißtrauisch zum Turm hinauf – blieb aber doch sitzen.

Und die Rathausglocken fielen ein, sie klangen taubenetzt in dieser Tauwetternacht.

Alles vergeht.
Alles vergeht.
Liebst du mich?
Ich liebe dich.

Da hob der alte Gnom den Kopf. Er lachte seltsam verlegen, so daß seine Schultern Erdstöße verursachten. In verändertem Tonfall, ehrlich wie ein alter Mann, sagte er zum Basilisken, der während des Glockenspiels in Schweigen dahingewelkt war:

Sieh doch nur mal her. Ich hab lange gemerkt, daß es gejuckt hat – sieh nur mal her!

Und indem er mit seinen erdigen Händen die grauen Borsten auf seiner Brust auseinanderbog, zeigte er dem Basilisken, daß ihm dort ein Huflattich wuchs, die erste Blume des Frühjahrs.


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