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Der August setzt mit dunklen Abenden und Sternen ein. Es weht von einem zyanblauen Himmel herab, weht, daß die Bäume sich mit umgedrehten Blättern in langen, brausenden Überholungen neigen, die an das dunkle Schwellen der Wogen auf dem Ozean erinnern. Der Sturm kommt ruckweise und drückt sich gegen die schwarzen Scheiben, betastet das ganze Haus, daß es durch die Decken seufzt, er geht wie ein Brand über die Pappeln hin und entlockt ihnen ein langes, helles Geflüster, das langsam wieder hinstirbt, wie der salzige Schaum zwischen den Sturzseen auf offenem Meer, der atmet und wieder zerfällt. Die Laternen in der Stadt brennen grünlich wie große Berylle und flackern zwischen den unruhigen Ästen der Bäume. In diesen düsteren Nächten weht reife Frucht herab, und das Korn trocknet. Es ist Erntezeit. Damit haben wir den größten Teil dieses Sommers hinter uns.
Ein Zeugnis wollen wir ihm lieber nicht geben, es genügt, daß er vorbei ist. Ja, fast fällt es einem schwer, sich noch einmal umzuwenden und zu sehen, daß die paar hellen Monate, an deren Kommen wir fast verzweifelten, unweigerlich entschwunden sind. Ist das, was wir kaum gespürt haben, wirklich schon Vergangenheit? Schachtelhalme und Kibitze, des Löwenzahns märchenhafte Schätze von Gelb auf den Feldern und längs der Gräben, an denen wir vorbeiradelten, die blauen Funken der Kornblumen im Roggen, die Äpfelbäume, der Ginster, Syringen, Flieder, ja, alles das war und jetzt ist es vorbei. Wo ist der frühlingsschwangere Augenblick geblieben, als wir sahen, wie das junge Roggenfeld sich wie ein Grasteppich kräuselte und mit den breiten Blättern blinkte, während ein Schaf im Sonnenwind blökte und das Unaussprechliche uns wie ein blendender Blitz durch den Kopf schoß? Dieser Augenblick hat Frucht angesetzt und hängt wie die volle, gewichtige Ähre des Roggens unter dem Zeichen des August, und wir selbst sind auch reifer, schwerer geworden. Alles ist ein Ton, alles wandert. Die Vögel, der Frühlingszug, der uns eines Nachts im April erschauern machte, ja, er kam, hat Eier gelegt, gebrütet und gefüttert, und jetzt sind die Jungen flügge und reisefertig.
Es spazierten zwei junge Störche auf dem Felde, erst kürzlich dem Nest entflogen, sie glichen frischgebackenen Diplomaten mit ihren langen, aristokratisch dünnen Beinen und den Flügeln, die elegant gefaltet waren, wie vom Schneider gebügelte Frackschöße; sie bewegten sich in langsamem Rhythmus und fingierten ein ennuyiertes Gähnen, wie es vornehmen Vögeln geziemt. Aber die noch schwarzen Schnäbel verrieten die Konfirmanden, die Augen sahen so ausgeschlafen aus, voller Schelmenstreiche, recht lange konnten sie den Anstand nicht bewahren, mitten drin schlugen sie mit den Beinen aus und machten Anläufe zu einem höchst absonderlichen Stelzentanz zwischen den gepflügten Furchen, oder sie öffneten die nagelneuen, fehlerfreien Flügel und flogen in die Höhe, um nur einen Augenblick frei in der Luft zu schweben und zu fühlen, daß sie es konnten; es sah aus, als brenne der Boden ihnen unter den Füßen. Es juckte ihnen in den jungen Flügeln, sie hoben sie immerwährend und reckten sie, spreizten alle Schwungfedern und falteten sie wieder zusammen, während sie sie mit behaglichem Wackeln an den Körper legten; mit demselben Schauder grimmiger Zufriedenheit reckt ein Lümmel sich in seinem neuen Anzug und legt den Nacken zurück, um die Ärmellöcher zu prüfen. Jugend ist Jugend. Oben im Nest auf einer turmhohen Pappel beim Bauerngehöft fleht die Storchenmutter und sieht auf die beiden Jungen herab, die zum erstenmal vom Nest geflogen sind (sie hat sie selbst unter fürchterlichem Geklapper hinausgeworfen) und freut sich über ihre Wichtigtuerei. Denn es sieht ja so aus, als ob das Nest gar nicht mehr für diese beiden Gentlemen existierte, sie sind frei und selbständig, können fliegen, wohin sie wollen, sie sind eine unabhängige Firma, Störche durch und durch. Ja freilich. Aber noch merkt man an dem schmutzigen Gefieder der Mutter und an ihrem Brustknochen, der wie ein Stück Holz geworden ist, daß diese beiden Junker die Blüte ihrer harten Mühe sind. Sie hat sie ausgebrütet bei einer Hitze, die geradeswegs von dem inneren Feuer der Erde abstammt, deshalb wurde die Brust so verhärtet, und dann hat sie sie den ganzen Sommer hindurch gefüttert. Niemand ahnt, was das sagen will. Man konnte es den beiden Modeherren nicht ansehen, was sie den Eltern an Jagden und Spürgängen in Sümpfen und an Flugtouren hin und her gekostet hatten, bis sie so schön wurden; jetzt, wo sie großgezogen und fein waren, gehörte es der Vergangenheit an, wie unappetitlich sie ernährt worden waren, was für tägliche Schrecken von allerhand Gewürm sie verschlungen hatten, lebendig und unbesehen, Frösche, Kreuzottern, Mistkäfer, alles war ganz und ungekaut denselben Weg verschwunden.
Großer Gott, was für eine Unersättlichkeit von dem Augenblick an, wo sie nackt aus dem Ei gekrochen waren und wie zwei krokodilartige Wesen auf den Beinen im Nest gesessen hatten, mit Schnäbeln wie ein doppelter Schläger und mit kleinen Flintaugen, die Funken sprühten, während sie unaufhaltsam nach Nahrung spähten! Sie wuchsen wie bösartige Geschwülste; ganze Beete von blauen Dornen brachen aus ihrer Haut, die sich öffneten und zu Federn wurden, sie wuchsen so schnell, daß man es mit jedem Tag sehen konnte, und dieses unheimliche Wachstum mußte mit einem ununterbrochenen Strom von allem möglichen Lebenden genährt werden, der durch die gierigen Schnäbel verschwand, die immer bis weit in den Hals hinunter geöffnet waren. Der Sommer der Storchenmutter war damit hingegangen, diesen beiden starrenden Ungeheuern Nahrung zu verschaffen, es war eine mühevolle Zeit gewesen, und sie hätte sie wohl nicht durchgehalten, wenn sie nicht gleichzeitig ihr eigenes Herz genährt hätte, während sie sich für ihre verfressenen Sprößlinge plünderte. Wie sie wuchsen! Gleich dem zunehmenden Mond, gleich der Zeit, die vergeht! Sie fraßen sich im Laufe des Sommers durch alle Urstadien der Vögel hindurch, von dem nackten Reptil bis zum vollendeten Flieger; es war, als ob die Natur ihnen alle möglichen Tiere in den Rachen warf, um ein neues zu bilden. Und jetzt war es geglückt, das Hungerfieber hatte die Form von zwei erstklassigen Störchen angenommen, die Jungen waren groß geworden, während die hellen Nächte über dem Nest kamen und gingen.
Es beglückt die Storchenmutter, auf einem Bein im Nest zu stehen und zuzusehen, wie die Jungen dort unten auf dem Felde mit ihren Fertigkeiten kokettieren, wie sie tanzen und sich mit Luft unter den Flügeln kitzeln. Sie versuchen alles, nur des Versuches wegen, der eine jagt mit einer blitzschnellen Krümmung des Halses den Schnabel bis an die Augen in die lockere, schwarze Erde, nicht weil ein Wurm da war, sondern weil man es so macht; der andere legt den Kopf nach hinten, als ob er gurgelte, er will ein Klappern hören lassen, der Schnabel aber ist noch weich, und es klingt ziemlich knorpelig. Das kann die Storchenmutter oben im Nest nicht anhören, ohne ihrem Jungen zu zeigen, wie man klappern muß. Und sie versteht's, sie hat noch alle geschmeidigen und musikalisch hingebungsvollen Halsbewegungen ihrer Mädchentage, sie klappert zum Himmel hinauf und ins Weite, ein feuriges Geknatter, das keinen Zweifel übrig läßt, daß sie sich ihres Wertes voll bewußt ist, und sie gibt sich einem leiseren, sanften Geklapper hin, indem der Kopf nach hinten sinkt, bis sie sich wieder aufrichtet und mit vollem Spektakel geradeswegs zur Sonne hinauf und in alle vier Windrichtungen klappert. Und in der Ferne antwortet eine männliche Knarre, einen Augenblick später etwas näher, sie kommt von einem schwebenden Punkt dort hinten überm Moor, das ist der Storchenvater. Er kommt mit langen, starken Flügelschlägen in gerader Linie auf das Nest zu, er landet mit Sausen und Pfeifen der Federn, und er und die Storchenmutter stehen beide schwindelnd hintenübergebeugt und klappern zweistimmig, knarren nach Herzenslust. Die Jungen unten auf dem Felde simulieren mit Erfolg, daß es durchaus keine Verwandten von ihnen sind, die sich dort oben in der blauen Luft so laut und albern benehmen.
Die Alten sind natürlich auch in Gala; aber, Gott, wie derangiert; unwillkürlich drängt sich einem der Gedanke auf, daß Frack und weiße Binde ja sowohl von Dienerschaft wie von Herrschaft getragen werden.
Aber was ist das? Der Storchenvater hat einige wohlbekannte Krümmungen mit der Kehle gemacht – windet sich dort oben zwischen den Zweigen im Nest nicht etwas Langes, Lebendiges? Die beiden jungen Störche sehen sich an, spähen zum Nest hinauf, und die Augen haben den alten stieren Flintglanz bekommen. Sie hüpfen unruhig: Was schlängelt sich dort oben? Ob ein Abstecher nach Hause jetzt nicht ganz angebracht wäre, eine kurze Visite bei den Alten? Gott – jetzt krümmt das Ding dort oben – Schlange? Aal? – sich ja rein aus dem Nest heraus, obgleich sowohl Vater wie Mutter mit dem Schnabel nach ihm hacken – Himmel, wenn es verloren gehen sollte! – und jetzt machen beide Junge schwere Sprünge über das gepflügte Feld, sie wissen selbst nicht, daß sie fliegen, der Appetit zerrt sie ohne weiteres bei den Federn in die Höhe, sie segeln davon, machen einige unsichere Schwingungen und landen im Nest. Großes Konzert, eifriges, knorpliges Geklapper der Jungen beim Fressen, und milde, elternhafte Teilnahme der Alten, die sich nichts gönnen. So gut kann man es dennoch in Dänemark haben.
Jetzt aber beginnen die großen Flugübungen, erst in der Umgebung des Nestes mit den Eltern zusammen, später in größerem Umkreis in Gesellschaft von Vögeln andrer Brut; die jungen Störche machen Bekanntschaften, und sie, die den ganzen langen Sommer über im Nest gesessen und dieselbe Horizontlinie gesehen haben, sie sollen nun entdecken, was sich dahinter verbirgt, sie sollen sich in mächtigen, schwebenden Spiralen unter den Federwölkchen strecken, sollen, ohne die Flügel zu rühren, umherkreisen und den Raum besitzen und auf die weite, herrliche Welt herabschauen, die sich den jungen Störchen in immer größeren und weitergreifenden Ringen öffnet.
Und endlich reisen sie. Der Storch, der dänischste von allen Vögeln, ist Kosmopolit und wohnt im Winter tief im innersten Afrika, am Äquator, am Ufer des Kilimandscharo, in Jagdnachbarschaft mit dem Löwen und der Hyäne, Tür an Tür mit dem Nilpferd und dem Krokodil. Weshalb bleibt er nicht immer in dieser vornehmen Gesellschaft und in diesem paradiesischen Klima, das ihm den Frosch in heißem Schlamm mit Blasen von darunterliegender Verwesung serviert? Weshalb reist er jedes Jahr all die Hunderte von Meilen nordwärts, um seine Eier zu legen und sie auszubrüten? Weil dort die entschwundenen Wälder gestanden haben. So treu ist das Blut. Die Alten kennen die Route. Und jetzt sollen die Jungen in das Märchen eingehen, das immer näher rückt, je mehr die Augustnächte sich schließen und je dunkler sie werden. Der Wind braust durch den Wald und erzählt von dem offenen Meer. Gut, daß man Flügel hat. Bald offenbart das Märchen sich den jungen Störchen, die schwindelnd freie Welt, von der H. C. Andersen so wunderbar in der »Sumpfkönigstochter« gefabelt hat.
Es ist keine Alltagssache, sich die Luftreise der jungen Störche durch Europa, über die Alpen, das Mittelmeer und die Sahara vorzustellen. Vielleicht wird es den Menschen auch noch einmal vergönnt sein, die Reise auf dieselbe Weise mit der Flugmaschine zu machen – wenn die Welt dann nur noch etwas Neues hat, wohin es sich zu fliegen verlohnt! Nie aber liegt es in eines Menschen Los, die Welt so zu sehen, wie die jungen Störche sie auf ihrem ersten Zug nach Süden erblicken, es wird nie aufgeklärt werden, was unterwegs durch das unentwickelte, aber leuchtend frische Vogelgehirn geht. So niedrig die Störche auch stehen, so besiegen sie dennoch überlegen den Sturm, der uns andern die Luft verbietet, in der wir atmen; wie blind das Seelenleben auch sein mag, mit dem sie ausgerüstet sind, so müssen sie dennoch auf die eine oder andre Weise die Wunder, über die sie hinfliegen, in sich aufnehmen, die großen Städte, die wie murmelnde Lichtnebel in der Augustnacht unter ihnen liegen, das ewige Eis der Alpen. Rom, Gibraltar, die Pyramiden, das Meer, das tief unten wandert und tönt. Wer doch auch einmal nur einen Moment lang die Welt mit den Augen der jungen Störche sehen, wer doch zum ersten Mal reisen und neue Sterne sehen könnte!