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Der Kanarienvogel

Ein junges Paar kam mit dem Kopenhagener Zug nach einer Küstenstadt auf Seeland und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, indem es sich wie Fremde die kleine, leere Hauptstraße hinaufbewegte. Es war sehr reich und modern gekleidet, mochte ein vornehmes Paar auf der Hochzeitsreise sein oder elegante Ausländer.

Alte, bemooste Gesichter näherten sich den Fensterscheiben aus der Tiefe der niedrigen Stuben und standen in der Dämmerung zwischen den Blumentöpfen wie seltsame Grundfische; Gestalten mit Schurzfellen traten halb aus den Türen, wenn die beiden vorbeigegangen waren, und folgten ihnen in stiller Erregtheit mit den Augen. Kleine Kinder stürzten aus den Torwegen, als gälte es das Leben, und stellten sich auf und starrten die Fremden an, ohne zu blinken, bis ihnen die Augen geradezu eintrockneten. Hunde, selbst die ältesten Ofenhunde, kamen heraus und fingen an zu bellen. Die ganze Stadt wurde durch die beiden Reisenden aus ihrer Ruhe aufgescheucht.

Es war ein Werktag, ein Arbeitstag, und die Stadt hatte zu tun auf ihre eigene träge Weise, arbeitete abseits in einer Knechtschaft, für die gar keine Notwendigkeit vorlag, die aber nun einmal das Schicksal des entlegenen Ortes geworden war. Ein Kielwasser von scheuem Staunen und ohnmächtig brennender Neugierde zog sich hinter diesen beiden freien Menschen her, die die Luft der Außenwelt mit sich brachten, eine Unruhe, die nicht in Worten Ausdruck fand oder sich auf eine andere Weise aufdrängte, die aber darum nicht weniger ungebärdig war. Die Aufregung legte sich erst, als das Paar sein Ziel, »das Hotel«, erreicht hatte und darin verschwunden war.

Von nun ab sammelte sich die Sensation und die maßlose Wißbegierde der ganzen Stadt in der grenzenlos diensteifrigen und dienerhaften Physiognomie des Provinzkellners. Er stand da mit Entgegenkommen geladen, explodierte beim kleinsten Wink, sprang, blitzte, war dienstbereit, knickte in der Mitte durch, und zwischendurch stellte er sich neben dem Büfett auf und nahm kleine Reinigungen seiner Person vor, oder flüsterte durch die Küchenluke mit dem Mädchen, dessen Augen von zärtlichem Interesse für die Fremden ganz aus dem Kopf traten. Der Wirt selbst erschien einige Augenblicke und repräsentierte diskret, als ob Schauspieler oder andere Leute aus der großen Welt sein Hotel aufgesucht hätten.

Die beiden Fremden saßen indessen recht unangefochten und aßen. Der Kellner, der sich aufs äußerste anstrengte, um zu hören, was sie sagten, fing einige Worte mit ausgeprägt Kopenhagener Dialekt auf, einen Laut wie vom Himmel, und seufzt im geheimen. Seine Augen hingen an den Gästen, als müsse er sich um alles in der Welt ihre Züge, ihre Kleider, ihre Manieren einprägen, jede kleinste Kleinigkeit ihrer weltmännischen und verklärten Erscheinungen. Ach, das war die große Welt!

Die beiden Fremden waren ganz jung und sehr klein von Wuchs, wie ein Paar Kinder, nur ihr Ausdruck ließ an Reife nichts zu wünschen übrig. Der junge Herr war sehr modern gekleidet, doch hatte er ein Paar Stiefel an, die seltsam von dem Übrigen abstachen; er trug einen kleinen Schnurrbart über einem roten Mund mit schlaffer Unterlippe und hatte matte Augen, die die Welt mit mürrischer Verachtung betrachteten. Er hatte magere, feuerrote Hände mit zerbissenen Nägeln und einen weißen Silberring am kleinen Finger. Eheringe sah man nicht, aber die tragen Standespersonen heutzutage ja auch nicht mehr. Gepäck vermißte man auch, und deshalb bekam das Paar probeweise eine mäßige Rechnung, die der Herr mit verdrossener Miene bezahlte. Die junge Frau war wie eine Kopenhagenerin von heute gekleidet, mit einem Kleiderrock, der die Figur kühn umspannte, einem Rad von einem Hut auf dem Kopf und langen Handschuhen. Sie hatte hübsche, rohe Züge mit harten Furchen von all zu vielem Lachen um den noch kindlichen Mund; sie schien kaum achtzehn Jahre alt zu sein. Sie war furchtbar elegant und hatte wunderschöne Augen, große, dunkel eingefaßte Märchenaugen, die sie indes energisch gebrauchte. Sie hatte kleine reizende Arme, wäre überhaupt durch und durch allerliebst gewesen, wenn nicht das Lächeln, das an sich häßlich war, schlechtes Zahnfleisch und verfallene Zähne gezeigt hätte. Sie sprach ordinär, war unzufrieden mit dem Essen und trank zwei Flaschen Bier. Sie schrieben sich ins Fremdenbuch als Großhändler so und so nebst Frau aus Kopenhagen ein, und gingen dann zur Ruh. Der Kellner holte ihre Stiefel und grübelte lange darüber.

Der Großhändler aber war der Kommis Julius Krautwald, der nicht zum ersten Mal den Namen seines Prinzipals nachschrieb, und seine Frau war Minna, bekannt aus Yorks Passage. Und sie waren aufs Land gereist, um zusammen zu sterben.

Es ging nicht mehr in der Stadt. Krautwald hatte im Geschäft Anzeichen gemerkt, die er mit einem Rest von Vernunft zu deuten vermochte; der Tag der Rechenschaft näherte sich für ihn. Gleichzeitig hatte sich bei Minna die Strafe in Form eines Schicksals gemeldet, das ihrem Wesen vollständig fremd war, ein Abgrund von Blödsinn, sie sollte Mutter werden! Natürlich lachte Minna, aber sie wußte nur zu gut, daß sie fertig war. Sie hatten sich zu einem gegenseitigen Bekenntnis entschließen müssen. Und da war ein Fetzen Erinnerung an verdorbene Lektüre in den beiden jungen Seelen aufgetaucht, ein letzter Versuch, das Dasein um Vornehmheit zu bestehlen. Sie hatten beschlossen, das Fest durch ein regelrechtes Doppeldrama zu krönen, durch den verzweifelten Tod zweier schöner und unglücklicher Menschen. Krautwald hatte mit dumpfer Miene den Revolver gekauft, Minna hatte sich so frisiert, daß sie mit »aufgelösten« Haaren gefunden werden konnte, und hatte alles an, was sie an Weiß und Spitzen besaß. Dann hatten sie ein Billett nach der ersten besten Provinzstadt genommen, wo sie also als reisende Herrschaften Aufsehen erregten. Bis jetzt war alles zur Zufriedenheit, in den aus Zeitungen so bekanntem Stil gegangen: Ein junges, elegant gekleidetes Paar … etc.

Die Vorgeschichte war auch die alte. Julius Krautwald, der tagsüber ein bescheidener Angestellter im Buchhalterfach war, war abends in Vergnügungslokalen als Lebemann aufgetreten, mit der ganzen gleichzeitig gierigen und müden Haltung, die überall dieses Großstadtwunder auszeichnet; Minna war an seinem Horizont wie eine knisternde Weltdame aufgetaucht, deren glitzernde Libellenpracht in der Nachtbeleuchtung der Bogenlampen nicht ahnen ließ, daß sie tagsüber das flügellose Dasein einer Larve führte, die das Eisenband des Telephonhörers um den Kopf trug. Er hatte den Grafen gespielt, der der Traum ihres Lebens war, und sie hatte die Rolle der Dame mit den sprudelnden Lachkaskaden gegeben, Krautwalds Ideal. Das Ideal nährte sich unbarmherzig vom Traum; in letzter Instanz aber war es Julius' Prinzipal, der bezahlte. Nur wenige Wochen hielten sie sich auf der Höhe dieses luftigen Lebens, wobei sie sich gegenseitig bis aufs Blut geplündert hatten, und jetzt waren sie beide leer, das heißt, die Schublade war geschlossen.

In dieser Nacht wurde das Hotel indessen nicht von Revolverschüssen oder dem dumpfen Fall lebloser Körper aufgeschreckt, die Mitspielenden entzweiten sich und verdarben die Stimmung durch eine ziemlich ordinäre Zänkerei. Am nächsten Vormittag verließen sie das Hotel, nachdem sie erst eine solide Mahlzeit zu sich genommen hatten, ziemlich niedergedrückt, besonders was Krautwald betraf. Heute sollte es geschehen. Dann schlenderten sie durch die Hauptstraße, und die Leute aus der Stadt sahen sie in einem langsamen Spaziertempo auf die grasigen Abhänge und die Meeresküste zugehen, wo sie sich schließlich in der Landschaft verloren. Die ganze Stadt starrte den beiden glücklichen Unabhängigen nach, all die kleinen roten Häuser, die mit sauren, halbblinden Guckfenstern aneinandergedrängt lagen, und mitten in der Stadt reckte die Kirche sich mit ihrem nackten Turm über die Dächer und glotzte den beiden mit runden Brauen und einer patinierten Glocke im Auge nach. Auf dem Bahnhof pfiff der Zug und begann sich mit Dampfentfaltung und stolz auf seinen Schwanz von Wagen durch die Gärten hindurchzuarbeiten; bei der geschlossenen Barriere auf der Chaussee wieherte er in voller Fahrt und entzog sich bald landeinwärts hinter niedrigen Hügeln dem Blick.

Als der Zug fort war, wurde es ganz still. Der Tag war so ruhig. Es war Anfang Mai, und die Luft war köstlich frisch nach einer milden Nacht, in der alle Knospen ausgesprungen waren. Die Stille hier draußen zwischen dem Meer und dem großen, offenen Land schloß sich über die beiden Stadtmenschen und begann sie klein zu machen. Der tiefe Ton der Einsamkeit entging ihnen, auch hatten sie keinen Blick für die blaue Größe des Himmels, dennoch bekam jeder von ihnen das peinliche Gefühl, auf sich selbst angewiesen zu sein. Es lag etwas in der Situation, das alle gegenseitige Hilfe unmöglich machte.

Minna, deren Spezialität es sonst war, allen Menschen durch vorlaute Bemerkungen oder mit Sing-sang in die Rede zu fallen, ging ganz stillschweigend einher und blickte sich mit ihren hübschen, rohen Augen um. Das Land, das ihr nichts zu sagen hatte, regte keine Gedanken in ihr an, aber es machte sie schweigen. Krautwald sah grübelnd vor sich hin, alles Schwache in ihm war lebendig geworden und breitete sich über seine Züge; hier war keine Blasmusik, die ihn aufrichten konnte. Einmal erwachte er aus seinen beschwerlichen Gedanken, weil Minna zurückgeblieben war, und als er sich umdrehte, sah er, wie sie vornübergebeugt am Uferrand stand, von einem Übelbefinden geschüttelt, das sie jetzt regelmäßig plagte, Vorboten der strengen Vergeltung, die die Natur im Begriff war an ihr zu üben. Minna nahm die Strafe entgegen, ohne zu murren, das Taschentuch in der kleinen, behandschuhten Tatze zusammengeballt, und als es überstanden war, holte sie Julius wieder ein. Sie tat ihm leid, und er machte einen Versuch, teilnahmsvoll zu lächeln, aber ihr Gesicht ging dabei entzwei wie eine Scherbe, es war ihr peinlich, daß der Graf sich als Mensch zeigte. Da stieg der Haß wie eine ätzende Flüssigkeit in ihm auf. Sie gingen schweigend und hoffnungslos neben einander her, im stummen Zorn an einander gebunden wie ein Paar Mollusken, die nicht wissen, durch welchen Fluch sie sich gegenseitig in ihren Brennborsten gefangen haben.

Die Feindschaft aber gab ihnen Rückgrat. Darin erkannten sie sich selbst wieder. Minna lachte Julius ins Gesicht und erfand die naheliegendsten Ausdrücke, womit sie ihn stempelte, und er seinerseits musterte sie mit einem entwürdigenden Blick, dem sie mit empörender Unbeugsamkeit begegnete. Sie gönnten sich keine Worte mehr. Begegnete sie einem stummen Attentat von ihm in Form eines häßlich gemeinten Blickes, so antwortete sie dadurch, daß sie sich mit verstellter Sorglosigkeit ins Kreuz warf und einen blödsinnigen und äußerst beliebten Gassenhauer sang. Krautwalds Haare sträubten sich vor Bosheit.

Sie kannten einander zu gut. Sie waren mit ihrem gegenseitigen Wesen wie geladen, hatten das widerwärtige Schicksal gehabt, ihre Seelen zu vertauschen. Sie hatten alles aufgeboten, um etwas anderes und Vornehmeres zu scheinen, als sie waren, sie hatten sich gegenseitig gebraucht und verschwendet, ohne ein wirkliches Gefühl, nur mit dem Verlangen, sich über einander zu erheben. Und jetzt hatten sie sich durchschaut. Der Boden war erreicht.

Deshalb war es ihnen nicht schwer gefallen, ihren gegenseitigen Tod zu beschließen. Und darum war es kein vorübergehendes Steigen von unzurechnungsfähigen Instinkten, kein wahnwitziger Entschluß, wenn der kleine feige Kontorist die Hand in der Tasche um den Schaft der Pistole preßte und auf eine passende Gelegenheit wartete; er war so kaltblütig, als gälte es eine Ratte zu erschießen. Ab und zu hob er sich ganz unbewußt auf den Zehen und beschleunigte seinen Gang mit eigentümlich lautlosen Bewegungen, fast ohne zu atmen und mit aufmerksamen Augen, als ginge er im Walde auf Raub aus; der Totschläger rührte sich in ihm. Und Minna ging neben ihm und reizte ihn schon allein durch ihre Gegenwart, und weil sie auf Katzenpfötchen einherschlich und sich ohne Gnade die ganze Zeit geltend machte. Sie war allem in der Welt gegenüber blind, sogar dem Tode, war nur darauf bedacht, bis zuletzt ihren boshaften Triumph über seine Jämmerlichkeit zu behaupten. Sie blieben mehrmals stehen, und Krautwald blickte sich wie ein Henker am Platze um, aber jedesmal behagte ihm die Gegend nicht aus irgend einem Grunde, und sie setzten ihren Weg längs des Strandes fort. Wahrscheinlich vermißte er in der nicht ungewöhnlichen Umgebung ein gewisses fremdes Moment, etwas, das dem entsprach, wovon er gelesen hatte, eine »wilde« Strandpartie, einen »Felsen«, an dessen Fuß sie gefunden werden konnten, oder dergleichen; es fehlte immer etwas, damit der Ärmste die Situation sozusagen wiedererkennen und auf den Augenblick einstellen konnte. Und sie schlenderten weiter, zwei haßerfüllte, müde Tiere mitten in dem Wunder des Frühjahrstages.

Etwas weiter hin lag ein Wald, der sich ganz bis zu den niedrigen Strandabhängen hinzog, noch kahl und bräunlich in den Kronen, aber mit einzelnen leuchtend grünen Flecken von frischentfaltetem Buchenlaub. Hier gingen sie hinein …

Spät am Nachmittage kamen sie ins Hotel zurück, matt und nicht mehr so fremdartig in ihrer Haltung. Julius nahm Notiz vom Kellner, fast als wäre er seinesgleichen. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Der Kellner schlug mit der Serviette aus und stieg gefahrdrohend in seiner eigenen Achtung, wußte kaum, ob er sich die Mühe machen sollte, das bescheidene Gericht zu servieren, das das Paar nach einer leisen Konferenz bestellt hatte. Minna saß mit wunderschönen Augen und leeren Lachfurchen da; sie aßen stillschweigend.

Der Hotelwagen kam vom Bahnhof und brachte einen neuen Gast mit, einen großen, rotblonden Mann mit aufwärtsgestrichenem Schnurrbart und gewaltigen Kinnbacken, er setzte sich ohne Zeremonie an den Tisch des Paares und leitete eine beleidigende Unterhaltung mit Krautwald ein. Minna legte Messer und Gabel hin und sah von einem zum anderen, und ihre Züge glätteten sich wirklich, sie sah wieder wie ein kleines Mädchen aus. Mitten im Gespräch, das sich in gebildeten Formen bewegte, fuhr der Rotblonde mit geübten Händen über Krautwalds zusammengesunkene Gestalt und entnahm der einen Tasche den Revolver. Er guckte in den Lauf desselben und lächelte kopfschüttelnd: Kaliber 22! Kinder und Streichhölzer! Noch am selben Abend erreichten Julius und Minna, von dem Geheimpolizisten eskortiert, mit dem Zuge Kopenhagen.

Als die ersten hohen Häuserkolosse der Stadt in der Mischung von Dunkelheit und Lichtnebel vorbeiglitten, lächelten Julius und Minna sich matt zu. Endlich wieder Kopenhagen! Als aber der Zug vor dem Bahnhof seine Fahrt verlangsamte, schlang Minna ihre Arme um Julius' Hals und brach in Tränen aus. Er faßte sie krampfhaft um die Ellbogen und hielt sie fest, stumm, gelähmt, weil er erst jetzt alles verstand. Sie baten sich gegenseitig um Verzeihung und küßten sich zum Abschied, die erste menschliche Liebkosung, die zwischen ihnen gewechselt wurde. Der Geheimpolizist stand hinter ihnen, lächelnd wie eine Vorsehung, und sah zu, mit Minnas Schirm, ihrem Konfirmationsregenschirm in der Hand. Kleine Szenen sind unvermeidlich, wenn Leute ins Loch sollen.

Draußen vor dem Bahnhof, auf dem rauchenden Platz, wo Straßenbahnen klingeln und zwei Haufen Menschen sich immer drängen, der eine vor dem Orchester des Varietee National, der andere vor den lebenden Bildern mit Grammophonbegleitung im Reklame-Pavillon, sah Julius sich einen Augenblick um, jetzt war er zu Hause. Hier hatte er als Knabe und als Jüngling mit im Haufen gestanden und die Sehnsucht nach allem, was fern und vornehm in der Welt ist, eingesogen. Hier hatte er zum erstenmal Minna getroffen, die jung und neugierig, mit einem Riesenhut und einer Direktoire-Robe, einem Volkslied im Grammophon lauschte. Und hier nahmen sie Abschied, Julius, um seine Erziehung von neuem im Zuchthaus zu beginnen, Minna, um einen Winkel in der Stadt zu finden, wo sie die Folgen ihrer Libellenflucht im Licht der Bogenlampen auf sich nehmen konnte.

Aber der Grund, weshalb sie sich im Walde nicht das Leben genommen hatten? Ja, der blieb unaufgeklärt für sie. Sie waren anderen Sinnes geworden, nicht wahr?

Es war übrigens herrlich im Walde gewesen, wo das zarte, frisch entfaltete Buchenlaub wie ein grüner, sonniger Regen durch die Äste rieselte, und das Meer blau leuchtete. Im Gras hatte Minna ein von Wind und Wetter vergilbtes Stück Papier mit halb verwischter Schrift gefunden, das sie beide stark interessiert hatte. Ein Liebesbrief? Die einzig übriggebliebene Spur von einem Liebesdrama wie dem ihren vielleicht? Die Schrift ließ sich mit Mühe deuten, aber es war eine fremde Sprache, wahrscheinlich Latein, vielleicht war es nur eine Seite aus einem Aufsatzheft gewesen; man beachte, daß es liniert war; ein Butterbrotpapier; aber es konnte sich doch auch ein Schicksal, ein Drama darunter verbergen. Die beiden Lebensmüden steckten die Köpfe zusammen und entzifferten und verloren sich in andächtige Vermutungen.

Was sie am meisten gepackt hatte, war indessen ein kleiner Vogel gewesen, der so entzückend schön in einem Busch gesungen hatte, ein ganz kleiner Vogel, der aber wundervoll singen konnte. Er war kein bißchen größer als der Kanarienvogel im Tivoli, der berühmte mechanische Singvogel, der bei der elektrischen Wage und den anderen Automaten in seinem Bauer saß und die Melodie flötete, die jedes Kind in Kopenhagen auf der Straße pfiff, diese:

Pipi, pipipi, pi, pi …

Ach, sie waren so gerührt geworden. Die Erinnerung an den lieben Kanarienvogel zu Hause im Tivoli, der so großartig piepste, wenn man ein Zweiörestück in die Maschinerie warf, und mit seinem Wachsschwanz den Takt schlug, während er den Schnabel so süß öffnete und den Kopf hin- und herwandte, die Erinnerung an ihn und an alles, was durch den kleinen natürlichen Vogel im Walde in ihnen erweckt wurde, hatte die beiden ganz weich und mild vor Heimweh gestimmt.

Kopenhagen! Minna hatte das Lied des Kanarienvogels gepiepst, und Julius hatte tief aufgeseufzt. Und die beiden kleinen Übertreter des Gesetzes halten begonnen, sich so echt und in Gemeinschaft nach Kopenhagen zu sehnen, daß sie sich gegenseitig leid taten. Nach einem schwermütigen Schlaf im Grünen waren sie erwacht, hatten Hunger gespürt und waren sich, wie man begreift, einig geworden, denselben Weg, den sie gekommen waren, zurückzukehren.


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