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Der Ameisenlöwe

Dies Tier hält sich in sandigen Gegenden auf, weil diese Bodenbeschaffenheit seinen Gewohnheiten am besten entspricht. Diese Gewohnheiten bedürfen keiner langen Beschreibung, man weiß, daß das kleine, zentimeterlange Tier, die Larve eines florbeschwingten Insektes, auf dem Grund eines Trichters sitzt, bis an die langen, pfriemspitzen Kinnbacken in dem losen Sand begraben, und sich vorurteilslos von allen kriechenden Insekten, hauptsächlich Ameisen, nährt, die auf Geschäftswegen bis an den Rand der Fallgrube geführt werden und dann hinabrutschen.

Die Trichter befinden sich meist an solchen Orten, die sowohl sonnig wie gegen Regen geschützt sind, und am liebsten in passender Nachbarschaft mit einem Ameisenhaufen. Nun glaubt man gewiß, daß dieser Umsicht ein bewußter Plan und eine besondere Intelligenz der Larve zugrunde liegen? Sie geht herum und sieht sich Wohnungen an, bis sie etwas Passendes gefunden hat, nicht wahr? Weit gefehlt! Die Sache ist so, daß der Ameisenlöwe als Insekt seine Eier überall in den Sand legt, daß aber unter ihnen nur die zur Entwicklung gelangen, die am günstigsten Ort angebracht sind. Die Auswahl oder richtiger Anpassung ist ein vernunftloser Prozeß, ohne die geringste Beseelung. Ebenso wie die Erde naturnotwendig von Meteoren getroffen werden muß, weil Myriaden davon durch den Weltraum schwärmen, ebenso müssen einige Eier von den richtigen Bedingungen getroffen werden, während der Rest, die ungeheure Majorität, zugrunde geht.

Das ganze Leben auf unserem Erdball ist auf diesem System aufgebaut. Der Äther strömt zwischen den Himmelskörpern mit unfaßbar vielen mikroskopischen Keimen (Strahlendruck), die dort, wo sie eine passend abgekühlte Erdkugel treffen, Wurzel schlagen. Die Lebensbedingung aller Organismen ist Überfluß. Kann die Art sich nicht länger den großen Untergang erlauben, kann sie nicht mehr verschwenderisch mit Leben umgehen, dann ist ihre Anpassungsmöglichkeit im Niedergang und die Art ist zum Tode verurteilt. Dies ist die einzige Moral, die es gibt.

Und gerade das hat der Ameisenlöwe ja immer gesagt! … Die vielen sind da für den einzelnen, für das Individuum. Wenn die Ameise (und gern auch andere ähnliche Tiere) sich diesen Gedanken doch recht zu eigen machen wollten, den Gedanken, daß die Aufopferung der Vielen zur Förderung der Art als solcher da ist. Und sagt es auch den anderen Insekten, die gutes Blut haben, redet zu den Jungen und macht ihnen den Gedanken begreiflich, daß die Massenvertilgung aller wohlschmeckenden Insekten durchaus förderlich ist für den Ameisen! … ach, nein, da hab ich mich versprochen, förderlich für die betreffende Art!

Wie geschrieben steht, diese Larve kleidet sich mit Erde und umgürtet sich mit einer Fallgrube. Ihr Mund ist eine Saugezange, die sich an saftigen Eingeweiden übt. Jedes Opfer ist ihr willkommen, sie selbst aber trägt nie etwas zum allgemeinen Wohl bei. Sie kommt nicht aus ihrer Höhle heraus, man wird schon zu ihr kommen. Sie verläßt sich auf das Gesetz der Schwerkraft, hält sich nur unten in der Tiefe auf. Ihre Seele ist der passive Fall in der Welt, der bei ihr zu Appetit geworden ist.

Stochert man sie zu näherer Untersuchung aus dem Sand heraus, so fällt sie auf der Stelle vor Verlegenheit in Ohnmacht und liegt wie tot da, mit geschlossener Zange. Und man begreift ihr Schamgefühl vollkommen, denn schwerlich kann man eine beredtere Nacktheit als die ihre entblößen. Der Form nach präsentiert sie sich mit einem rhomboiden Schwellen, diesem wundervollen sich selbst an Breite Übertreffen, das nun einmal das Meisterwerk der Natur ist. Man kann noch deutlich die Fleischfarbe auf ihrem Bauch erkennen, einen Rest aus fernen Mädchentagen. Der Rücken selbst aber ist warzig und bleigrau. Sie ist alt und abgescheuert, aber eigene Kräfte hat sie dabei nicht zugesetzt. Es sitzen Borsten und Besen auf ihr, die sie unsanft nach vorn kehrt, die Beine sind abgehärtet, und sie verbirgt sie am liebsten, dennoch tun sie gute Dienste.

Übrigens bewegt sie sich am besten mit Hilfe des Hinterteils, das zu einem hochkultivierten Glied geworden ist. Wenn sie findet, daß sie lange genug ohnmächtig dagelegen hat, wirft sie den Nacken keck zurück und macht verstohlen einen Satz nach dem anderen mit ihrem Hinterteil, das beweglich und intelligent ist wie eine Hand und sich mit Virtuosität in den Sand eingräbt. Bevor man sich dessen versieht, ist sie wieder untergekrochen. Daß die Gnädige überhaupt nur rückwärts geht, gibt ihrem Charakter einen natürlichen Abschluß. Es tut dem Auge ordentlich wohl, wenn der Sand den häßlichen Rücken wieder verdeckt, und dieser Meinung ist sie auch. Die Decke bis an die Zange! Erst wenn die Gnädige zu Bett ist, beginnt ihre Kontorzeit. Und sie dauert Tag und Nacht.

Etwas weiter fort, im Wald unter den Tannen, die sich mit der Höhe des Chimborasso im Verhältnis zu dem kleinen Leben, das sich unter ihnen regt, erheben, liegt die Millionenstadt der Ameisen, eine riesige Metropole, deren ganze Einwohnerschaft auf den Beinen ist. Hält man das Ohr in die Nähe, hört man den Verkehr flüstern. Rings um den mächtigen Haufen, der aus Tannennadeln gebaut ist und unendliche Galerien und Kammern enthält, breitet sich ein offenes Plateau, wo die Ameisen bei ihrem Ein und Aus so dicht durcheinanderströmen, daß man die Erde kaum sehen kann; und in alle Richtungen laufen die Landstraßen der Tiere, deutliche Pfade, die sich tief im Dickicht verlieren. Hier bewegen die Ameisen sich noch in Scharen, schleppen Baumaterial für die Stadt herbei oder tote Würmer und Fliegen für die Larven. Von ihrem mystischen Leben will ich ein andermal erzählen. Wenn der Pfad sich aber verliert und die Ameisen sich fern im Terrain zerstreuen, dann geschieht es, daß diese oder jene der Fallgrube zu nahe kommt, und nun sind wir wieder mitten in der Geschichte des Ameisenlöwen.

So ist das Leben. Kommt da ein kleiner, rastloser Streber angestürmt, unablässig mit den Fühlhörnern tastend, und während er vor Fleiß am ganzen Körper hart wie Feuerstein ist, während er beim Vorrücken die ewige Ameisenweise memoriert, das Lied von der Arbeit, gelangt er zu einem runden Krater im Sand und bleibt verwundert stehn.

Man muß arbeiten, sagt die Ameise zu einem unbeweglichen, aber scheinbar lebendigen Ding in der Tiefe. Keine Antwort.

Arbeiten, sagt die Ameise, indem sie sich vorwärts tastet, standhaft wie ein Japaner, und in demselben Augenblick lösen sich einige Sandkörner unter ihren Vorderbeinen. Der Rand der Grube bewegt sich, und abwärts geht es. Die Ameise tastet vor Arbeitslust den ganzen Weg nach unten, marschiert unermüdlich vorwärts, ist durch und durch Arbeit. Aber sie verliert sich immer mehr in dem rinnenden Sand, und die Ameise arbeitet und arbeitet, bis die Zange sich in ihren Eingeweiden schließt.

Ich werde fett vom Warten, murmelt die Wirtin in der Tiefe, während sie ihre Saugklaue in den Adern der Strebsamen vergräbt. Aber sie gibt im übrigen gern zu, daß die Ameise recht hat. – –

In sandigen, sonnigen Gegenden, zur Sommerszeit, wenn alle Insekten schwärmen, kann man ein beschwingtes Insekt sehen, nicht unähnlich einer Libelle, nur kleiner und in mancher Beziehung von ihr unterschieden, geisterhaft fein gebaut und mit schönen, graphitglänzenden Farben. Bald flattert sie in unbestimmtem und ziemlich trägem Flug, bald sitzt sie auf einem Zweig, mit zusammengefalteten Flügeln, die das Tier wie ein Kleid mit einer langen Schleppe umhüllen. Das ist der Ameisenlöwe als Fliege.

In diesem Stadium erinnert sie an gewisse, äußerst verfeinerte, fast überirdisch kultivierte Mädchengestalten, von denen man in kontinentalen Großstädten bisweilen einen Schimmer zu sehen bekommt. Vor der Straße sind sie durch Spiegelscheiben in einem großen, seidengepolsterten Automobil geschützt, oder sie werden frostig in einer Opernloge zur Schau gestellt. Die übrige Zeit verleben sie in den schützenden Reihen der vornehmen Gesellschaft, behütet und verhätschelt durch alles, was Reichtum nur schaffen kann. Dieses luftige Wesen scheint andere Augen zu haben als wir, eine andere Seele. Alle Bürden sind von ihr genommen, das Dasein in seiner greifbaren Stofflichkeit scheint hier eine überwundene Entwickelungsstufe zu sein.

Nur in einem Ausdruck ihres Wesens beweist sie Kraft, und das um so mehr, als sie von allen anderen Funktionen des Kampfes ums Dasein befreit ist: wenn die Augen eines Mannes auf sie fallen und sie Behagen an ihm findet, dann gibt sie sich hin, sofort, mit offenen Augen, wie eine einzige brausende Blutwoge, ohne eine andere Mission als die der Hingabe, wie die Libelle in den hellen Nächten.

Sie stammt von der verwitterten und rauhen Larve ab, die einsam im Keller saß, mit Besen auf beiden Seiten, und Ameisen aussaugte. Es ist derselbe Trieb, dieselbe Seele, nur mit einem Schlummer in der Erde, dem Puppenzustand, der läuternden Bewußtlosigkeit, als Übergangsstadium.

Denn es gibt nichts außer der Entwicklung. Und es ist ja gut, daß selbst das gröbste und widerwärtigste Schmarotzerdasein nichts anderes ist, als der dunkle Imperativ des Bluts, die Notwendigkeit, Nahrung zu sammeln, um ein Zukunftswesen so weit über die Selbsterhaltung emporzuheben, daß es sich dem Augenblick im Flug hinzugeben vermag, dem schönen Willen zu sterben, der das unendliche Bestehen des Lebens sichern soll.


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