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Draußen zwischen den Schären, auf der Bullerinsel, wohnt der alte Aakerlund. So ist sein bürgerlicher schwedischer Name, und bekommt er jemals diese Zeilen zu Gesicht, so weiß ich, daß er sie wie einen offenen Brief von mir an sich auffassen wird. Ein stattlicherer und vornehmerer Mann ist mir nie begegnet.
Wir kamen nach der Bullerinsel mit dem Duo, dem schlimmsten Teufelswerk von einem Motorboot in ganz Skandinavien. Dänische Segelsportleute werden sich dessen erinnern; es macht 23 Knoten, fast sechs Meilen [1 dänische Meile = 7.532 m] in der Stunde, das ist wie Automobilfahrt auf dem Wasser. Der lange schmale Rumpf, der so spitz ist, wie der eines Regattabootes, faßt eine Maschine von 80 Pferdekräften, und wenn sie in Gang gesetzt ist, schießt das Fahrzeug mit einem Satz vorwärts, in einer Sekunde läßt es Land und Leute und alles hinter sich. Von dem Kielwasser des Propellers steigt eine dicke Wassersäule schräg in die Höhe, neben dem Boot sieht man nichts anderes als Streifen, und bei der geringsten Drehung des Ruders legt das Boot sich scharf auf die Seite, das Ding hat ein Temperament, das seinesgleichen sucht. Wir haben das Wetter an Bord; die herkulische Maschine verfügt über drei Tempi, Sturm, Orkan und Typhon, und der Ingenieur, ein Mann im Ölzeug, mit sehr kleinen Pupillen in kalten, blauen Augen, spielt je nach dem Fahrwasser auf diesem Instrument. Um Wind und Seegang kümmern wir uns nicht, aber auf den Nebel, dieses körperlose Gespenst, müssen wir Rücksicht nehmen, und der kommt jeden Tag vom Meer angerollt. Wenn wir aber mit voller Geschwindigkeit fahren, so fahren wir mit voller Geschwindigkeit, und rennen wir gegen etwas an, so rennen wir geradeswegs in die Hölle, wie mein schwedischer Wirt voller Entzücken erklärt. Die Maschine gellt unablässig, als sei sie die Weckuhr des Teufels, während wir durch die Schären fliegen, so daß niemand behaupten kann, daß wir die Natur aufsuchen, ohne die Stadt mit uns zu führen.
Wir waren ein seltsamer Aufzug im Boot, als wir auf die Bullerinsel lossteuerten. Da war außer uns Jägersleuten ein Fischer von den Schären weiter drinnen. Er saß als Lotse am Ruder, und auf seinem großen, verbrühten Gesicht stand mit drolliger Schrift die Verantwortung, die er fühlte, und ein knabenhaftes Entzücken, daß er solch Rasiermesser führen durfte. Er amüsierte sich über alle Maßen. Auf der vorderen Ruderbank saß seine Frau im Sonntagsstaat und mit ehrbarer Miene, wie jemand, der auf Besuch gehen will. Und auf dem Boden des Bootes brüteten die Hunde, Krut, Pila und Lillan, die unablässig die Köpfe aus der Persenning hervorsteckten, um wie ägyptische Götter dazusitzen und hundeklug die Elemente zu wittern. Wir hatten aufs offene Meer hinaus wollen, um einen großen Dampfer zu besehen, der auf einer der äußersten Schären festgerannt war, der Nebel aber, der körperlose, erhob sich wie eine graue Schranke vor der Sonne, so daß wir unser Vorhaben aufgeben und bei der Bullerinsel landen mußten.
Hier draußen auf der fast kahlen Schäre, einer Granitinsel, die sich aus dem Meer hervorschiebt und wieder in dasselbe hinabbeugt, und die von den Gletschern der Vorzeit wie ein Backofen abgerundet worden ist, wohnen zwei Familien, Hochseefischer. Seltsam, daß diese Familien just die beiden diametral verschiedenen Arten Menschen verkörperten, aus denen die Bevölkerung von Schweden und übrigens von ganz Nordeuropa sich zusammensetzt. Die eine, die uns zuerst entgegenkam, und zwar in der Person des alten Aakerlund, gab sich offen, herzlich. Aakerlund kam uns auf halbem Wege entgegen, begrüßte die Herren aus Stockholm frei und bewegt und umarmte den einen, der sein spezieller Freund war, mit der zitternden Wiedersehensfreude eines Greises, er wurde nicht müde, ihm immer wieder den Willkommensgruß zu bieten. Der andere Mann auf der Insel, eine kurze, gebeugte Gestalt, mit dunklem Haupt, hielt sich im Hintergrund, merkwürdig scheu, bis wir ihm entgegenkamen, und nachdem wir ihm guten Tag gesagt hatten, fühlte er sich aus irgend einem Grunde verletzt und entfernte sich. Wir bekamen ihn nicht wieder zu Gesicht, ich weiß nicht, wie er hieß.
Der alte Aakerlund führte uns mit festlich bewegten Ausrufen zu seinem Haus, das einer Wohnstätte aus der Steinalterzeit glich, und hier verging der Tag mit einer fröhlichen, zwanglosen Kneiperei. Die Frau, die wir an Bord gehabt hatten, war Aakerlunds Tochter, und sie tat sich mit einem methusalemartigen Wesen zusammen, Aakerlunds treuer Lebensgefährtin, mit der sie viele weise Dinge in der Küche verhandelte. Die uralte Frau – Aakerlund selbst war ungefähr neunzig – regte die Phantasie seltsam an, indem der Alte, als der Schnaps bereits gewirkt hatte, erzählte, daß er in seiner Jugend auf alle Weiber gepfiffen habe, um nur die eine zu bekommen, die er haben wollte.
Er saß feurig und milde am Tisch und schlürfte starke Getränke aus einer Tasse, und fluchte verschwenderisch, als ihm erst warm geworden war; die sorglosen Beschwörungen eines ganzen Lebens, von dem Sonnenschein seiner Seele beleuchtet, kehrten durch seinen Mund wieder. Er beschwor sämtliche heißen und unterirdischen Reiche, mitsamt ihren Fürsten, er war ein wahrer Meister im Variieren dieser Kernsprache. Und doch war dieser Mann keineswegs roh, im Gegenteil, er war eine freundliche, großangelegte Natur durch und durch, freigebig, ein großes Kind, nur hatte er sein langes, freies Leben hindurch niemals den Nacken gebeugt, weder vor wirklichen noch vor unwirklichen Dingen, am allerwenigsten vorm » Tode«. Aakerlund schlug bisweilen die Augen nieder, denn er wurde leicht gerührt, aber eine Bitte kam nicht über seine Lippen. Er sprach sozusagen nur in raspelnden Flüchen, die seltsam von seiner innigen, behutsamen und milden Stimme abstachen. Wie ich immer gesagt habe: ehrliche Leute lernen nichts weiter aus der heiligen Schrift, als die Flüche und die sieben Todsünden. Das kenne ich von den Bauern in Himmerland.
Wie der Greis Aakerlund mich überhaupt rührend an die alten Gestalten in meiner Heimat Graubölle erinnerte. Seine Herzlichkeit, seine Besorgnis um das Wohl und Weh eines jeden, wodurch er bisweilen so naiv und einzigartig wirkte, daß man nicht wußte, ob man über ihn lachen oder weinen sollte. So brach er zum Beispiel gleich nach unserer Ankunft in die tiefsten Mitleidsäußerungen über die Ärmsten aus, die in Madagaskar ertrunken seien oder tagelang in den oberen Stockwerken der Häuser gesessen und um Hilfe gerufen hätten, ob das nicht ein Jammer und ein Elend sei! Wir wußten nichts von dieser Sache, nachdem der Greis uns aber eine zwei Monate alte Zeitung gezeigt hatte, die er für neu hielt, erinnerten wir uns dunkel einer unbedeutenden Überschwemmung in Malaga, um die kein Mensch sich gekümmert hatte. Ach, Aakerlund aber fuhr fort den Kopf zu schütteln und die Ärmsten zu bedauern, ganz ähnlich wie ein altes Bauernweib in meiner Heimat in Jütland, die plötzlich auf mich zukommen und, indem sie ihre treuen Augen in meine heftete, ausrufen konnte: »Ist es nicht ein Jammer mit der Hungersnot in Österreich!«
Und während unser Gelage am hellichten Tage seinen Fortgang nahm, legte der Alte mehr und mehr eine Seele bloß, die mir so vertraut war, wie der Regen und der starke Wind, die über das Pflugland und die Meere der nordischen Länder hingehen. Lustige und wilde Dinge kamen an den Tag, Naivitäten, harter Kampf ums Leben, frohe Zeiten, entschwundene Zeiten. Unser Lotse, der durch die kleine Stube brüllte, als müsse er Stürme übertäuben – er kannte überhaupt keine andere Sprechweise – gab Erzählungen aus früheren Zeiten zum besten, als es noch keine Schärendampfer gab und die Fischer mehrere Tage gebrauchten, um nach Stockholm zu rudern. Da betranken sie sich bei jeder Station, von ihrem Aufenthalt in Stockholm gar nicht zu reden, bis die Frauen schließlich mit ihren Männern nach Hause rudern mußten. Der Lotse war ein Sagenerzähler und tadelte niemanden in diesen Dramen, berichtete sie nur wie durch ein Sprachrohr; er war selbst mit dabei gewesen, war jetzt aber ein anderer Mensch geworden. Prost!
Am meisten wurde von Strandungen erzählt. Da war der große Dampfer draußen auf der Meerschäre gewesen, der viele Tonnen Stückgut über Bord geworfen hatte, um wieder flott zu werden, und alle diese guten Dinge schwammen zwischen den Schären und trieben in die verschiedenen Strandungsdistrikte, wo sie den Fischern zugute kamen.
Jammerschade, daß der Dampfer nicht eine Viertelmeile weiter drinnen festgerannt sei, brüllte der Lotse mit der vollen Kraft seiner Lungen, als müsse er weithin gehört werden – dann wäre er in meinen Distrikt gekommen.
Inzwischen schwelgten alle Fischerfamilien in feinen Sachen, Luxusdingen und Eßwaren, von Trauben bis zu Kisten mit Vaseline. Es gab nichts, was dieser Dampfer nicht an Bord gehabt hatte, Schreibpapier in schweren Ballen, Bananen, Uhrgehäuse, schöne Birnen, Zitronen, Tonnen mit Tabak, der indessen vom Salzwasser verdorben worden war, gar nicht zu reden von all den herrlichen Dingen, die auf den Grund gesunken waren.
Aakerlund erzählte voll Temperament von einer Strandung, wo Tonnen mit reinem Spiritus angeschwemmt worden seien und die Fischer im Bett gelegen und davon getrunken hätten, bis einige von ihnen gestorben wären. Aber nicht alle Strandungen seien gut, und nicht alle Dinge von einem Schiff könnten gebraucht werden. Es gab auch unnütze »verdammte« Sachen dazwischen. Wie nun zum Beispiel so eine angebliche Frucht.
Und der Greis nahm eine Zitrone und hielt sie in seinen kolossalen, kraftlosen Händen hoch, betrachtete sie genau, während er erklärte:
Von dieser Sorte seien Tausende angeschwemmt worden, er habe einige aufgefischt. Aber sie seien nicht gut. Beiße man hinein, seien sie, hol's der Teufel, so sauer, so sauer, nicht zum essen. Koche man sie, würden sie zu nichts und die Suppe würde das reine Gift. Gut, daß sie so gelb wie die Hölle seien, daß man vor ihnen gewarnt wäre. Er habe übrigens gehört, daß man sie in Scheiben schneiden und in den Grog tun solle, er aber würde sich hüten, solch gutes Getränk Gottes mit Essig zu verderben.
So stellte Aakerlund sich zur »Kultur«. Und so hätte ich ihn malen mögen, mit der Zitrone in seiner gigantischen Hand, die jetzt ohne Kraft war, aber doch nicht zitterte, die Faust, mit der er vom Meer genommen hatte, was er gebrauchen konnte. Dazu hätte ich den feinen Carlyle-Kopf malen mögen, den lehmgrauen Kopf, der schon hier und dort von der Auflösung gezeichnet war, der sich nachdenklich auf die Seite legte, während er nach bestem Können die Frucht studierte, die er nicht verstand.
Als wir abfuhren, hatte der Nebel sich aufs Meer hinaus verzogen, wo er wie ein Wall von Opal stand, zwischen den Schären aber war Sonnenschein und totale Windstille, nicht eine Kräuselung war auf dem Meer zu sehen, unser Freund, der Lotse, schrie, daß das eine große Seltenheit zwischen den Schären sei. Mit unserem Destroyer-Boot wurde es eine reine Märchenfahrt.
Der gewaltige Himmel spiegelte sich in dem Ring der Meeresfläche, so daß alles wie ein ungeheurer sphärischer Raum wurde, gleich weit und tief und bodenlos, und voll Sonnenschein nach allen Seiten. Die Schären lagen mit symmetrischen Spiegelbildern da und schwebten in dem blauen Sonnenraum. Mitten in der schwindelnden Welt aber eilten wir wie ein schneidendes, fliegendes Luftschiff dahin. Tief, meilentief unter uns flossen Wolken, dieselben, die über unseren Köpfen schwebten. Es gab keine Erde, nichts wie die blaue Unendlichkeit, der Weltraum unter uns und über uns und wohin wir blickten. O, endlich hat die Wirklichkeit sich mit ihrem Abbild vereinigt!
In dieser völligen Windstille kam die Geschwindigkeit des Bootes, mit der ganzen orkanischen Kraft, die in der Maschine wohnte und über die sie herrschte, zur Geltung. Die schweren Zylinder wölbten sich wie bombenförmige Köpfe. Die Steuerruder bekleideten sich mit einer dicken Eisschicht, so daß man sehen konnte, wie auch der Winter reguliert und hier in Form gebracht worden war. Der Luftdruck begegnete dem Gesicht wie ein Sturm, der sich stets auf gleicher Höhe hielt.
Kleine Wasserteilchen stoben von dem messerscharfen Steven in die Höhe und hielten sich einen Augenblick wie Juwelen in dem blauen Raum, sie brachen das Sonnenlicht, bis sie nach achter gepeitscht wurden. Der Augenblick!
Seht, Himmel und Abgrund sind voll von schwindelnden, weißen, flockigen Wolken auf blauem Grund, nein, es ist die große Himmelsgiraffe, die im Paßgang durch die Welt schreitet.
Ha, die Natur so in seiner Hand zu halten, und zu sehen, daß sie über einem und unter einem noch ungezügelt promeniert, fromm und unbändig wie ein Giraffhengst, der keine Grenzen für seine Weiden kennt!