Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Hauptprobe des Quartetts. Vier Männer saßen auf dem Podium des großen Saales im Gasthof zum Lamm. Einsam im leeren Riesenraum unten saß Mittenzwey, der in seiner Eigenschaft als Vorstand des Quartettvereins regelmäßig der Hauptprobe beiwohnte. Lichtermark leitete die Musik. Mittenzwey nahm die Musik sozusagen ab. Er trug ja die Verantwortung vor den Stammsitzmietern. Gott sei Dank wußte der Vorstand nicht, wofür er die Verantwortung trug. Lichtermark hatte nämlich das Wagnis unternommen, diesmal ein besonders schweres Quartett von Beethoven aufzuführen. Musik war, wie gesagt, nicht unbedingte Lebensnotwendigkeit für Mittenzwey. Gegen Musik aber, wie sie jetzt vom Podium herabklang, war seine Natur völlig gesichert. Sein Kinn senkte sich langsam zur Brust, er nickte, nickte tiefer, schlief – nun der letzte Akkord . . . Stille – das plötzliche Verstummen des Geräusches weckte ihn. Aber der Archivrat Mittenzwey hatte in seinem Leben ungezählte Sitzungen durchgemacht, war in mancher entschlummert: er besaß seine Technik, den Ruck ins Leben mit Anstand zu vollziehen. Er fuhr nicht einfach hoch wie ein Neuling. Ganz langsam, wie unter der Beethovenschen Gedankenlast seufzend, hob er das Haupt, sah die einzelnen Mitglieder des Quartetts tiefernst an, holte 25 Atem, nickte abermals mit dem Kopf und sprach gedämpft: »Das kann so bleiben. Bitte weiter.«

Lichtermark war schon in den Jahren nahe Siebzig; er fragte sich manchmal, ob er nun nicht lieber in Frieden für sich musizieren solle, mit diesem Andreas vielleicht – aber das öffentliche Spiel brachte doch auch so seine kleinen Freuden mit sich, zu deren verführendster dieses immer wiederkehrende meisterhafte Erwachen des Vorstandes gehörte. Wenn Mittenzwey im leeren großen Lammsaal sagte: »Das kann so bleiben«, sprach Lichtermark zu sich: »Einen Konzertwinter mach' ich doch noch mit.« Er fühlte sich von der Heiterkeit des Gerechten erfüllt, und das Bild Beethovens schien ihm zuzunicken von der Wand: Kranichstedt, Bonn, Wien – wir sind unter uns, Alter. Spielt nur weiter. Ich weiß schon, wie's gemeint ist.

Nicht ganz unter sich waren die beiden: das Beethovenbild und Lichtermark – Andreas mußte als der dritte gelten. Andreas war Lichtermarks Sorgenkind. Beim Einpacken der Instrumente drehte der Professor bedächtig die Schraube des Bogens locker, sah über die Brille mißtrauisch dem Zweiten Geiger zu, wie der eilfertig seine Geige ins Tuch wickelte, und begann: »Sie wollen heute wohl wieder nach Leipzig?«

»Die Probe ging doch glatt. Ich habe den ganzen Nachmittag vor mir.«

»Und die Nacht.«

Andreas schnappte die Schlösser seines Geigenkastens zu. Aber Lichtermark ließ nicht locker: »Es heißt im Ort, Sie kämen allemal erst frühmorgens aus Leipzig zurück. Und wenn Sie nicht verreisen, Andreas, wenn Sie hierbleiben, dann üben Sie nachts, sagen die Leute.«

26 Der Geiger zuckte die Schultern gleichmütig: »Eine Wirtin nach der andern hat mir gekündigt. Aber jetzt wohne ich gut. Bei der Frau Weißpfennig. Die ist taub.«

»Hm. Bei der alten Weißpfennig. Ist das nicht im Haus hinter Kegels Garten? Na ja, die Barbierstube ist nachts geschlossen, da stören Sie niemand. Sagen Sie mal: wann schlafen Sie eigentlich?«

»Oh, wenn ich Zeit habe.«

»Tags oder nachts?«

»Verschieden, Herr Professor.«

»Andreas, ich bin ein alter Mann. Mir nehmen Sie's nicht übel: Sie haben zu wenig Respekt vor sich selber.«

Der Geiger hatte seinen Kasten schon unterm Arm. »Ich arbeite«, antwortete er.

»In Leipzig auch? So. Na – sein Sie heute ausnahmsweise mal vernünftig, Andreas. Wir machen ein bißchen Musik zusammen« – er zeigte nach dem offenen Saalfenster, an dem die Gardinen wehten wie Segel – »Merken Sie's? 's wird Frühling. Ah, wie einen das jedes Jahr wieder anweht. Das ist die gute Zeit zum Musizieren. Und dann schöppeln wir sachte eine Flasche Mosel leer, wie?«

Aber nicht Frühling, nicht Mosel lockte diesen Zweiten Geiger. Er trat von einem Fuß auf den andern, stotterte eine Entschuldigung, die ihm auch der Gutwilligste nicht glauben konnte. Lichtermark ging brummend seines Weges. Andreas eilte nach dem Bahnhof und war so verwirrt über die elende Lügenausrede, mit der er des alten Professors freundliche Einladung vergolten hatte, daß er vergaß, seine Geige nach Hause zu schaffen. Heute fuhr Andreas zum ersten Male mit seiner Geige nach Leipzig.

27 Der Tag der Hauptprobe schnitt überhaupt eine deutliche Kerbe in den Zeitablauf der Beteiligten. Der Frau Mittenzwey, einer ängstlichen kleinen Dame, die den Kopf etwas zurücklegen mußte, wenn sie zu ihrem Gemahl aufblickte, war vom Archivrat grundsätzlich bedeutet worden, daß ein von Verantwortung getragenes Zuhören einem Musikvorstand an solchem Tage natürlich nicht erlaube, die Stunden nach der Hauptprobe in gewissermaßen kleinbürgerlichen Innenräumen zu verbringen. Er brauche zunächst Bewegung. Ferner sei er der Einkehr bedürftig und zuletzt der Entspannung. Unter der etwas ungenauen Zeitangabe »Stunden nach der Hauptprobe« verstand der Archivrat, wie seiner Frau im Lauf der Jahre klargeworden war, eine Spanne vom frühen Nachmittag an bis etwa gegen zwei oder drei Uhr des anderen Morgens. Zunächst begab sich Mittenzwey an solchen Tagen zum Friseur. Wenn sein Haar gewaschen, frisch gescheitelt, der Bart beschnitten, hie und da ein weißes Härchen beseitigt und über das Hauptganze ein zarter Hauch von Eau de la rêve gespritzt war, kam sich der Rat wieder ganz jugendlich vor. Kegel bediente ihn mit besonderer Aufmerksamkeit. Der Rat fühlte die Schere überhaupt nicht. Die Handhaltung Thedors beim Verschneiden der buschigen Augenbrauen konnte nicht zierlicher sein. Umschwebt von Bedienung fühlte sich der Rat – und Kegel hatte seine Gründe zu solcher Anstrengung. »Wie, hochverehrter Herr Vorstand, denken Sie als Sachkenner über den Geiger Andreas?«

»So so. Ein junger Mensch noch. Aber eine Zweite Geige, die sich hören lassen kann.«

»Hören lassen – gewiß Herr Rat. Aber sehen lassen – kann er sich auch sehen lassen? Das frage ich mich, denn er 28 ist der Lehrer meiner Tochter. Dort drüben wohnt er – nein, dort: das schmale Fenster im Hinterhaus, gleich über dem Fliederbaum. Ja, zum Ansehn bietet er wenig –«

»Nun ja, er ist ein armer Schlucker. Sein Rock –«

»Nicht nur die Kleidung, Herr Rat. O nein: sein Inneres. Man spricht allerlei. Er soll öfter nach Leipzig reisen: ohne Geige. Was tut er ohne Geige die ganze Nacht in einer großen Stadt? Heimlichkeiten tut er! Sie verstehn meine Sorge, Herr Rat – er ist der Lehrer meiner Tochter.«

Mittenzwey verstand. Er würde mal rumhören, was an Geigenlehrern näherer Betrachtung würdig sei in besonderem Hinblick auf junge Schülerinnen. Kegel half dem Rat in den leichten Sommermantel. Etwas umwölkten Blickes begann Mittenzwey mit dem ersten Teil der Erholung von der Probe: er machte sich Bewegung. Aber was Kegel mit Eau de la rêve Gutes getan hatte am Archivrat, war durch seine Rederei wieder verdorben worden. Jeder Mensch kennt Geräusche, Worte, Handlungen, die er nicht vertragen kann – Mittenzwey konnte das Wort »Heimlichkeit« nicht hören, ohne verstimmt zu werden. »Er hat Heimlichkeiten«, brauchte in seiner Nähe jemand nur ganz beiläufig zu sagen, und der Rat hörte sogleich in aller Heimlichkeit angestrengt hin, ob etwa von ihm die Rede war. Jetzt schritt er strengen Blickes durch die Straßen, durch den Schloßpark, durch die engen Gassen. Erst am Ende des Ortes, wo die Arnstädter Gasse zur Landstraße wird, am Fuße des Windmühlenberges, hellte sich sein Antlitz auf. An dieser Stelle endete seine körperliche Bewegung. Hier lag die Scherbelschänke, wenig besucht von Kranichstedtern, vom besseren Publikum überhaupt nicht, 29 aber landbekannt als Wirtshaus. Wenn der große Festtag Kranichstedts kam, der Topfmarkt, erschienen hier seit alters von weit und breit her die Töpfermeister des Landes samt den Töpfermeisterinnen, stellten in diesem alten Gasthof ihre Wagen, ihre zerbrechliche Ware und vor allem sich selber unter Dach. In neuerer Zeit hatte das Ansehen des Topfmarktes etwas gelitten. Man feiert andre Feste und zieht auch den alten, schönbemalten Töpfen das Aluminiumblech vor, welches nur Beulen bekommt statt in Scherben zu gehen – der Geschmack wechselt auch von Zeit zu Zeit. Aber die Töpfer sind tapfere Leute, sie kamen trotzdem und stellten rings um die Marienkirche herum ihre lustige Ware aufs Pflaster. An solchen Tagen mied Mittenzwey die Scherbelschänke, denn wenn kriegerisch gesinnte Töpfer in der Scherbelschänke den Topfmarkt feiern, können Archivräte dort nicht Einkehr halten.

Heute war Ruhe im großen Vorderzimmer, Ruhe in der kleinen Hinterstube. Mittenzwey konnte unbehelligt mit der Einkehr beginnen, trefflich unterstützt von der Wirtin Krumbiegel, die zwar schon im Witwenstand lebte, aber noch eine ungemein rüstige und ansehnliche Frau war. Kegel, ein Friseur und demnach ein Frauenkenner, sprach nie über Kunden – über Frau Krumbiegel aber hatte er einmal zu Fleischermeister Pröhle gesagt: »Die? Die red' mit 'm ganzen Leibe.« Wo sonst als in dieser Scherbelschänke wurde der Vorstand des Quartettvereins so erfreut und wortreich empfangen! Schmunzelnd wollte er sich setzen, hob die Rockschöße – »Nein nein!« rief Frau Krumbiegel und fuhr noch blitzschnell mit dem Staublappen über das Wachstuchsofa. Er wollte behaglich die Arme auf den Tisch stützen, die Hände reiben – »Nein nein!« Sie riß die 30 rotgewürfelte Tischdecke herunter, legte ein weißes Tuch auf, stellte eine Vase mit Strohblumen auf den Tisch. Und sie briet Lendenschnittchen, quirlte ein Omelett. Kaffee kochte Frau Krumbiegel, stellte frischen Mohnkuchen auf den Tisch, und als sie endlich mit der Likörflasche erschien, rief der Rat: »Aber doch zwei Tassen, Liebe! Zwei Kuchenteller und, haha, zwei Likörgläser!« Angenehm verstrich der Rest des Nachmittags. Sanft senkte sich die Dämmerung wie über Kranichstedt so über die Hinterstube, und es wurde allmählich Zeit, in den dritten Teil der Tagesordnung einzutreten: in die Entspannung, denn die Stunde des Abendessens rückte heran. Der Rat speiste. Der Rat erquickte sich an einem schweren schwarzen Bier. Es gab auch Abende, an denen er Wein trank. Zuweilen mußte Frau Krumbiegel sogar Schaumwein bringen, der dann in einem vernickelten Weinkühler stattlich auf dem Tische stand.

Gegenüber dem Archivrat hing ein Spiegel an der Wand, in dessen Rahmen allerlei Geschäftskarten geklemmt waren. »Frisiersalon Thedor Kegel« las Mittenzwey. Er rückte am Kragen, an der Brille. Er glättete den sorgfältig geschnittenen runden Vollbart. Der silberne Hals der Sektflasche war im Wege, zielte wie ein Gewehr in Mittenzweys Spiegelbild. Er rückte den Flaschenhals beiseite, betrachtete sich wieder, hielt den Kopf dabei schief . . . ein wenig unruhig schien ihn die Prüfung zu machen. Ja – einem von Natur fahrlässig aussehenden Mann mag solches Wohlleben hingehen, sprach eine dunkle Stimme in ihm, aber dir, dem beleibten Herrn mit dem strengen Gesicht?

Mittenzwey ergriff rasch die dicke Flasche, schenkte sich ein: »Das bißchen Leben. Man will doch auch was davon haben.« 31

 


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