Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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In dieser Nacht, der zweiten Stradivarinacht, zahlte die heilige Ildewig dem Barbier Thedor Kegel heim, was der in Gedanken gesündigt hatte an der Musik auf jener Suche nach dem Geiger: heute Nacht kam Agnes nicht nach Hause.

»Wir kriegen ein Frühjahrsgewitter«, meinte Meister Pröhle, als Thedor sorgenvoll und wortkarg den Laden am Barbiergeschäft aufklappte, »die Wärme kommt zu zeitig.«

»Nischt kommt mehr zu seiner Zeit«, nickte Thedor und blickte die Nickelsgasse aufwärts, abwärts . . . Agnes war nicht zu entdecken. Agnes ging andre Wege. Die Marktstraße entlang lief sie, die Burgstraße hinauf: keinen 159 Menschen weit und breit sah sie zu der frühen Stunde in diesen besseren Straßen Kranichstedts. Nur ein paar Singvögel waren hier schon munter – die rechte Gesellschaft für Agnes. Sie strich das wirre Haar aus dem Gesicht, lächelte: »Nun lebt er, und ich auch.«

Agnes hatte den Andreas mit sich selbst an diese Erde gebunden. Und sie vermochte mehr zu geben als ein leibliches Selbst: wie die Keuschheit des Herzens allein lebenzeugendes Kunstwerk schafft, so bändigt auch allein die geheimnisvolle Kraft des Unberührten das gefährliche Leben.

»Wir sind am Leben«, lächelte Agnes und blieb vor der Haustüre stehen, deren Messingschild die Inschrift trug: Professor Lichtermark.

Lichtermark schlief. Seine Gattin Emma schlief auch – den festen Morgenschlaf.

Die Hausklingel schlug an.

»Hast du's gehört, Emma?«

Die Gattin sah nach dem Wecker: »Die Waschfrau. Die Leute kommen und gehn jetzt, wie's ihnen paßt. Ist das zu glauben?«

»Nein!« rief Lichtermark zornig, denn die Hausklingel ertönte wieder.

»So schließ doch nur auf!« sagte Emma ärgerlich.

»Wieso denn ich!« – aber Lichtermark erhob sich, zog die Hose über das Nachthemd, knüpfte ein Halstuch um und fuhr in seine Filzschuhe, in dicke Filzschuhe – wer über siebzig ist, sieht mehr auf Wärme als auf ein anmutiges Äußere. Während dieser Verrichtungen klingelte es zum dritten Male. Lichtermark drohte »dieser Person unten« grollend körperliche Mißhandlungen an, in Richtung des Bettes seiner Gattin aber sprach er beim Zuknöpfen des 160 Nötigsten vom Unfug ewiger Wascherei, von dem verfluchten häuslichen Unruhestiften. Endlich hielt die Hose notdürftig. Brummend stieg er die Treppe hinab, grimmig schloß er auf:

»Agnes!!«

»Es tut mir ja so leid, aber ich muß Sie sprechen, Herr Professor. Gleich sprechen.«

Wer über siebzig ist, stellten wir vorhin fest, der sieht mehr auf Wärme, vor allem auf die innere Wärme: wie morgenfrisch stand das Mädchen da! Ein frühes Lied! Wie sieht sie nur aus? dachte Lichtermark, so kenne ich sie noch gar nicht. Hochzeitsschein schlug dem Alten ins graugewordene Haus. Lichtermark vergaß ganz, in welch jämmerlichem Aufzug er erschienen war vor dem holden Wunder. Beide Hände wollte er ihr geben, mußte aber mit der einen rasch wieder die Hose festhalten. Lichtermark machte sogar den Versuch einer kleinen Verbeugung – wie eben alte Herren sich verbeugen vor sehr jungen, schönen Frauen: die letzten Grüße, welche dem Alter übrigbleiben im Angesicht der Liebe. Er führte Agnes in das Studierzimmer, bemerkte auch hier nichts von der Unordnung, von seiner Hinterlassenschaft des vergangenen Abends: nicht die leere Weinflasche, den gehäuft vollen Aschenbecher, die unordentlich durcheinanderliegenden Bücher sah er: »Aber so reden Sie doch nur, Agnes!«

»Ja. Ich muß ganz im geheimen mit Ihnen reden.«

Ob um die jungen, halbgeöffneten Lippen ein Lächeln spielte oder Angst, konnte Lichtermark nicht genau sehen: »Da bin ich aber neugierig, Kind.«

Und nun begann Agnes. Ohne sich erschrecken oder aufhalten zu lassen von des Alten Zornausbrüchen, redete sie 161 weiter. Die ganze Geschichte erfuhr Lichtermark, von der Brotmusik in der Grotte an und der Museumsmusik bis zur Windmühlenmusik. Lichtermark war aufgesprungen, hatte sich wieder hingesetzt. Er begann im Zimmer herumzulaufen, aber die rutschende Hose gebot ihm Stillsitzen. Verzweifelt brannte er einen der Zigarrenstummel an, der ihm sogleich wieder ausging. »Wenn so was in der Welt passieren kann« – Lichtermark verfluchte den Tag seiner Geburt. Wein versuchte er ins Glas zu gießen, es war keiner mehr in der Flasche. Er schüttelte die Flasche zornig, stieß sie dann mit einem Drohwort in die Ofenecke und rief: »Es ist nichts und nichtig auf Erden – warum hat sie der Teufel noch nicht geholt?! Oh, wenn ich das Subjekt zu fassen kriege! Den Kerl, den Andreas, meine ich. Lieber Gott, der arme Becker –«

»Andreas bringt ihm ja die Stradivari heute. Und da habe ich eine Bitte an Sie, Herr Professor« – sie legte ihre Hand auf seinen Arm – »deshalb bin ich gekommen. Sie kennen doch den Direktor Becker. Er ist ein Freund von Ihnen. Wollen Sie nicht gleich jetzt mit dem ersten Zug nach Leipzig fahren und die Sache zum Guten wenden? Ich bitte Sie recht sehr darum.«

»Wie? Ich? Ach so. Hm« – er war auf irgendeine Weise zu einer neuen Zigarre gekommen, biß mit den Zähnen erregt ihre Spitze ab, brannte das Kraut an – »Zu Beckern« – plötzlich rief er wütend: »Wieso denn ich?! Wenn's klingelt, soll ich immer raus! Na ja. Hm. Mit Beckern reden.« Da fiel ihm etwas ein, er sah Agnes forschend an, wurde sichtlich unruhiger und begann: »Sagen Sie mal, Agnes, es ist noch nicht fünf Uhr – wie kommen 162 Sie denn eigentlich um die Zeit an die Windmühle da hinten?«

»Andreas war doch dort.«

»Heute früh?«

»Die Nacht.«

Agnes sprach nicht weiter. Jähe war eine tiefe Röte in ihre Wangen gestiegen. Totenstille brütete ein paar Sekunden in diesem Bücherzimmer. Dann sprach Agnes ruhig und blickte dem alten Musikanten klar in die Augen: »Ja.«

Lichtermark stieß Zigarrendampf von sich, ärger als Pröhles Bratrost den Wasserdampf in der ersten Stradivarinacht auf dem Ratsmarkt. Agnes verschwand zuweilen in dem Nebel, tauchte wieder auf. Lichtermarks Zähne bissen sich in der Zigarre fest, kaum zu verstehen war, was er durch die Zähne murmelte: »So. So also. Dieser . . . dieses Subjekt. Das scheint ja zu stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist . . . Haha, ich werde« – Lichtermark sprang auf und schrie mit Donnerstimme durch das morgenstille Haus: »Ich werde – meinen Gehstock werde ich mit nach Leipzig nehmen, und wenn ich ihn treffe, diesen gottverdammten Kerl, und wenn ich ihn mitten auf der Grimmschen treffe mittags um zwölf, dann haue ich ihm die Wolle aus der Jacke, vor allen Leuten, diesem –«

»Von wem sprichst du denn eigentlich?« fragte seine Gattin in der offenen Tür hinter den beiden.

»Wie? Was? Von wem? Na, von wem denn! Von Beckern natürlich, Emma« – erschrocken starrte Lichtermark die plötzlich erschienene Gattin an.

»Den Direktor Becker willst du . . . mit deinem alten Freund willst du dich prügeln auf der Straße, Fritz??«

163 »Wieso denn nicht?« – Lichtermark saß rettungslos fest.

Emma trug ein geblümtes Morgenkleid. Ihr spitzer Blick hakte in Agnes' glühendem Antlitz. Sie witterte den zart sich öffnenden Blütenkelch der schimmernden Morgenerscheinung in ihrem Haus. Agnes stand rasch auf: »Ich danke Ihnen auch vielmals, Herr Professor. Bitte«, sie wandte sich an Frau Lichtermark, »entschuldigen Sie die unzeitige Störung« – verschwunden war sie. Es wurde trübe im Zimmer.

»Bitte«, sagte Emma zu ihrem Gatten, »was geht hier vor?«

Wie anders konnte sich Lichtermark noch helfen als mit Lärm: »Was hier vorgeht?!« schrie er, »ih, da soll doch– ich fahre nach Leipzig! Hole den Koffer! Die gestreiften Hosen nehme ich mit. Das Nachthemd. Vergiß das Rasierzeug nicht! Wo ist denn mein Schreibtischschlüssel? Ja zum Donnerwetter, wo ist denn der verfluchte Schlüssel? Hast du 'n mal wieder, wie?« – er fühlte den Blick seiner Gattin – »Herrgott, ich brauche doch Geld unterwegs!! Oder glaubst du vielleicht, die Reichsbahn fährt mich umsonst hin?!«

Er eilte, die Hose haltend, zur Türe hinaus.

Sein Weib stand erstarrt. Wenn Gott so wollte, beging sie in sechs Jahren die goldene Hochzeit mit ihm. Ein betagter Professor mit weißen Haaren – und nun eine solch verdächtige Szene . . . und wie das Frauenzimmer dasaß. Der kurze Rock. Die ganzen Knie sah man. Und wie sich das Mädchen davonmachte, als die Hausfrau erschien . . . Oben im Schlafzimmer klappten Schranktüren, tappten eilige Schritte. Lichtermarks Stimme: »Und auf alle Fälle meinen Reisepaß, Emma!«

164 »Erlaube mal –«

»Und mein Scheckbuch –«

»Erlaube wirklich mal!!«

Die Antwort auf ihren Einwurf waren weitere Anweisungen: »Und wickle mir 'n bißchen Frühstück ein! Zwei harte Eier, Emma. Und Brot. Aber keine Leberwurst, hörst du –«

»Fritz, ich verbitte mir –«

Ein heftiges Poltern unterbrach sie. Lichtermark schien die Stiefelschublade eilehalber im ganzen umgekippt zu haben. Zwischen dem Poltern rief er: »Auch keine Butter drauf! Die schmiert so! Oh –« Jetzt klangen Lichtermarks Worte näherkommend auf der Treppe: »Oh, dieser Mensch! Die arme Agnes! Der arme Becker! Ja, das glaubt doch überhaupt kein Mensch –«

Bei diesem Ausruf erschien er in der Tür. »Was glaubt kein Mensch, Fritz?«

In überraschend kurzer Zeit hatte Lichtermark seinen Anzug so weit gefördert, daß er in seinem Äußeren einigermaßen bestehen konnte vor dem geblümten Morgenrock. »Ja – wo ist denn der Koffer, Emma?!«

»Werde ich nun endlich erfahren, was vorgefallen ist mit ihr?«

»Gestohlen hat er sie!! Nein, gestohlen nicht! Aber keinem Juristen in der ganzen Welt kann er 's Gegenteil beweisen!«

»Was redest du da? Wer soll das Frauenzimmer gestohlen haben?«

»Frauenzimmer? Von wem sprichst denn du?«

»Von wem? Von dieser Agnes!«

»Die Agnes!! O du lieber allbarmherziger Himmel, ja 165 doch! Die hat er auch gestohlen! Nein, gestohlen nicht. Aber – hm hm hm . . .«

»Fritz, bist du wirr geworden in deinem alten Kopf?«

»Nein«, schrie Lichtermark, »klar, Emma! Goldklar endlich! Ih, den vermaledeiten Halunken haue ich –«

»So sprichst du von deinem alten Freund Becker, Fritz? Was hat denn Becker mit der Agnes, Fritz?«

»Was Fritz! In dieser Sache kommt kein Fritz auf der ganzen Erde mehr zur Zeit! Aber wenigstens in der andern Angelegenheit! Es eilt! Hättest du lieber den Koffer gepackt!«

»Ich lasse dich nicht reisen, ehe ich weiß, in was für ein Unglück du fahren willst ohne mich.«

»Haha! Glaubst du, ich brauche deinen erbärmlichen Koffer dazu?!« – Lichtermark begann seinen Reisebedarf in die Aktentasche zu stopfen – »Warum ich reise, kann ich dir nicht sagen. Das ist ein Geheimnis«, sprach Lichtermark düster. Seine Gattin wich zurück von ihrem Mann. Nach vierundvierzigjähriger Ehe sah sie nun erst, an welch einen Gatten sie gefesselt gewesen war die lange Zeit. Aber Lichtermark trat nahe heran an Emma: »Hör zu«, sprach er gedämpft, »was würdest du sagen, jungverheiratet, in den Flitterwochen – und es fragt dich jemand, wie's deinem Mann geht, und du mußt schluchzend antworten: Im Gefängnis sitzt er?«

Emma schrie auf, aber Lichtermark, selbst erschüttert von diesem grausigen Bild einer jungen Ehe, fuhr eilends zur Türe hinaus. Wenn er den zweiten Morgenzug nach Leipzig erreichen wollte, durfte er keine Minute mehr versäumen. 166

 


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