Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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So ging die erste Stradivarinacht hin.

Andreas hatte sich auf Holzklaftern mit Moos und Buchenlaub ein Lager bereitet. Er schlummerte, seinen Kopf auf den Geigenkasten gelegt. Der Förster ging heute die Abseite des Waldes entlang, fand den schlafenden Musikanten nicht, der ihm die Klaftern auseinandergeräumt hatte. Sonst würde er dem Vagabunden Beine gemacht haben: »'s gibt eben immer noch gesunde Fäuste, die dem lieben Gott den Tag stehlen und die Nacht dazu und anderen Leuten Arbeit machen.«

In der kühlen Frühjahrsnacht kauerte sich Andreas fröstelnd beim Liegen zusammen, und im Schauer der Nacht verging ihm der Schwung, den dieser Saal dem Geiger 114 eingehaucht hatte am warmen Abend: der Mond, die Sterne und Baum und Kraut – diese Wesen alle ruhten, jedes für sich, gesichert in ihrer Welt. Nur Andreas war seiner Welt entglitten, lag fremd hier herum, bis er, unruhig träumend, zu Häupten auf dem obersten Buchenscheit seinen großen Freund wieder sitzen sah, den Tod. »Der wacht« – diese Gewißheit ließ ihn endlich traumlos schlafen.

So hatte der Geiger Andreas den ersten Teil seines Abendkonzertes auf dem Ratsmarkt und nach der Pause den zweiten Teil am Waldrande des Hopfgärtner Holzes gegeben – beides nicht gewöhnliche Orte für Stradivarigeiger.

Ein sehr namhafter Amtsbruder des Andreas jedoch, der berühmte Geiger Schlitterwang, Professor am Konservatorium, gab am gleichen Tage ein Konzert an einem noch ungewöhnlicheren Orte: im Zollabfertigungsschuppen Vier nämlich, rechts von der Gepäckaufgabe des Hauptbahnhofs Aachen. Der weltbekannte Mann war empört. Die Zollbeamten schienen ihn im Verdacht der Devisenschiebung zu haben! Sie wurden überhaupt nicht fertig mit der Betrachtung seiner Geige. Dabei reiste Schlitterwang nicht zum Vergnügen. Auf einer Konzertreise ins Ausland befand er sich. Heute wollte er in Brüssel ein Konzert geben, morgen mußte er auf der internationalen Musikwoche in Antwerpen eine Rede halten, übermorgen jedoch – einem Donnerstag – im Gewandhaus zu Leipzig spielen. Beethoven! Er versuchte den Beamten verständlich zu machen, daß dieses ganze Reiseprogramm in sich zusammenbreche, wenn er noch länger aufgehalten würde und den Schnellzug nach Brüssel nicht mehr erreiche.

115 Die Beamten nickten gelassen, sprachen mit gedämpfter Stimme unter sich und verglichen die Angaben eines Polizeifunkspruches mit Schlitterwangs Geige.

»Wir dürfen«, sagte ein Beamter in Zivil leise zu einem Zollwächter, »dieses Instrument nicht über die Grenze lassen, ehe wir sicher sind, daß es nicht die gestohlene Geige ist.«

Schlitterwang sprach nicht mit gedämpfter Stimme, sondern sehr laut. Trotzdem schienen die Grenzbeamten die äußerst verwickelten und wichtigen Aufgaben des berühmten Mannes nicht zu begreifen. Noch weniger rührte sie seine Drohung, er werde sein Konzert in Brüssel wie auch seine Rede in Antwerpen um je einen Tag verschieben und dann natürlich sein Konzert im Gewandhaus notgedrungen einfach absagen: »Denn die Rede muß gehalten werden!« rief er, »das Unglück einer Absage ans Gewandhaus mögen Sie dann verantworten, meine Herren! Das Gewandhauskonzert steht auf einem festen Tag und kann nicht verschoben werden!«

»Gewiß«, sagte der Beamte mit kühler Höflichkeit, wandte sich an seine Amtsgenossen und sprach mit leiser Stimme: »Der Mann ist so aufgeregt, daß die Sache unbedingt verdächtig ist. Wir wollen jedenfalls das Museum in Leipzig anrufen, ehe wir die Geige hinauslassen.«

Die Zollbeamten studierten inzwischen Schlitterwangs Instrument wie ein nie gesehenes gefährliches Tier ruhig weiter. Mit der Taschenlampe leuchteten sie durch die F-Löcher ins Geigeninnere, lasen sich gegenseitig den eingeklebten vergilbten Werkstattzettel vor mit lauter Stimme: »Gabriel Lemböck, Wien, 1840«, sagten mehrmals »Hm« und stellten schließlich dem Professor die unerhörte Frage, ob dieser Zettel echt oder etwa von ihm selbst erst kürzlich 116 hineingeklebt worden sei. Der unbescholtene Mann verfiel in seinem Grimm fast in Beamtenbeleidigung. Als aber einer der Zollwächter meinte, vor allem müsse festgestellt werden, ob der im Paß als ein gewisser Schlitterwang Bezeichnete überhaupt ein Geiger sei, mit einer Geige also nicht nur über die Grenze gelangen wolle, sondern dieses Instrument auch spielen könne, da riß der Reisende dem Zollbeamten die Geige aus der Hand und spielte zornerfüllt – zwischen geöffneten Koffern, verärgerten Mitreisenden und mißtrauisch zuhörenden Beamten – eine kunstvolle Variation der Schubertschen Melodie: Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern, das Wandern . . . Erstaunt vernahmen die Zuhörer diesen herben Vortrag des wohlbekannten Liedes. Aber trotz seiner unentgeltlichen Darbietung versäumte der berühmte Professor Schlitterwang den Schnellzug nach Brüssel, weil ihn die Beamtenschaft zu Aachen erst durch die Sperre ließ, als das Ferngespräch aus Leipzig verbunden und zu ihrer Befriedigung beendet war. Das Reiseprogramm des Meisters brach also zusammen. Die Gewandhausdirektion mußte durch die nun notwendig gewordene Absage Schlitterwangs in die peinlichste Verlegenheit geraten. »Sie werden noch hören von mir und erfahren, was es heißt, den Ausfall eines Schlitterwangschen Konzertes zu verschulden!« rief der Geiger.

Der Beamte in Zivil sagte höflich: »Wir haben hier lediglich unseren Dienst zu tun.«

Der ergrimmte Geiger mußte sein Diner statt im Palasthotel zu Brüssel im Wartesaal zu Aachen einnehmen, und zwar ziemlich unbehaglich im Kreise von verärgerten Mitreisenden, die wegen Schlitterwangs Verdächtigkeit ebenfalls ihre Anschlüsse verpaßt hatten.

117 Daß Schlitterwang mit seiner Geige überhaupt die Grenze überschreiten, zur internationalen Musikwoche nach Antwerpen kommen und seine Rede, wenn auch einen Tag später, noch halten konnte, verdankte er der Auskunft des Direktors Becker vom Musikalienmuseum. »Schlitterwang?« rief Becker durch den Draht, »den lasse man in Frieden ziehn mit seiner Geige. Der hat die Stradivari nicht gestohlen!«

Wo aber kann sie sein? In welchen vermessenen Händen ruht jetzt das unschätzbare Instrument? So fragten sich Becker und Kustos Lindemann gegenseitig immer von neuem, so fragten sie auch den Kriminalrat Klitz. Verschiedene widrige Umstände erschwerten die Ermittlungen des sonst sehr rasch arbeitenden tüchtigen Kriminalisten. Der Aufseher Schurch nämlich hatte bei seinem ersten Morgenrundgang den Glaskasten am Fußboden stehen sehen und – von siebzehn Jahren regelmäßigen Dienst- und Zeitablaufs eingewiegt – zu sich selbst gesagt: Man hat die Geige ins Direktorzimmer genommen. Ein ungewöhnlicher Gedanke Schurchs war das keineswegs. Nicht allzuselten entnahm Becker die Geige ihrem Glasbehälter, denn von Zeit zu Zeit wurde sie von berühmten Meistern gespielt. Schurch glaubte sich ein Sonderlob zu verdienen, wenn er die Gelegenheit nutzte zu einer gründlichen Reinigung des Glaskastens, des Sammets sowie des Sockels im ganzen. Der Kriminalrat Klitz konnte daher an Fingerabdrücken nur Schurchs Daumen und Mittelfinger feststellen. Auch die Türschlösser, Fenster und sämtlichen Sicherheitsmaßnahmen des Museums waren als völlig ungestört befunden worden. Kustos Lindemann, dessen Nerven infolge Arbeitsüberladung leicht in Unruhe gerieten, verstand jetzt zum 118 ersten Male in seinem Leben, daß fromme Katholiken der Schutzpatronin, der heiligen Cäcilie in diesem Fall, ein Opfer zu versprechen pflegen für die Beibringung eines verschwundenen Gutes.

Angesichts dieser ungeklärten Lage schien den Beteiligten rätlich, von einer Mithilfe des breiten Publikums vorläufig abzusehen. Die Morgenzeitungen brachten keine Nachricht über den rätselhaften Vorgang im Museum. Zur Zeit des ersten Frühstücks wußte die reiche Stadt Leipzig noch nicht, daß sie – bis auf weiteres wenigstens – um eine Geige ärmer war. Ein Menschenkind in dieser Stadt, wenn auch ein öffentlich nur geringfügiges Glied der Einwohnerschaft, begann jedoch zu begreifen, daß es um einen Geiger ärmer geworden war: Hasel sorgte sich in ratloser Angst. Andreas war nicht wiedergekommen. Seine Verzweiflung gestern nacht hatte sie nicht wegzuküssen vermocht. Er habe einen alten guten Freund getroffen, hatte Andreas zu ihr beim Weggehen gesagt. Schon von seinem Vater und seiner Mutter her kenne er ihn.

»Ist der auch Musikant, Andreas?«

Da hatte der Geiger mit dem Kopf genickt: »Harmonielehre betreibt der in der Welt, Hasel. Arm und reich, glücklich und elend, alt und jung bringt er auf einen Akkord. Nur gerecht und ungerecht nicht – die Musik zu diesem Text ist nämlich im Generalbaß geschrieben und begleitet nur das letzte große Solo am Jüngsten Gericht.«

Hasel verstand diese Worte nicht, aber fühlte den Sinn, hatte nun den Andreas erst recht nicht fortlassen wollen, hielt ihn mit den Armen fest umschlungen, solange sie konnte. Nicht anders als ein Reh sich fürchtet – blind und panisch entsetzte sich Hasel vor dem Unglück und dem Tod. 119

 


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