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Der Wagen des Dirigenten hatte wie immer am hinteren Eingang des Gewandhauses gehalten. In seinen Pelz gehüllt, war der vom Konzert erhitzte und empfindliche Kapellmeister rasch eingestiegen. Wegen einer Straßensperrung mußte der Kutscher durch die Schwägrichen-, die 195 Beethovenstraße und über den Rathausring einen Umweg fahren.
»Die Stradivari aus dem Museum«, murmelte der Dirigent kopfschüttelnd. Schweigend lagen die vornehmen Straßen im Laternenschein. Der tief in seinen Pelz gewickelte Mann sah nicht die unzähligen Fenster, die vorüberglitten. Das Land seiner Jugend schien er zu sehen – maßlos weite Ebenen, Ziehbrunnen hier und dort. Gras, braunes Gras und den weißblau wolkenlosen Himmel darüber. Ein Geigenton wehte durch die menschenleere ungeheure Weite. »Ja ja, mein lieber Andreas«, sagte der große Musikant leise vor sich hin in dem rumpelnden Wagen, »hier ist die Welt voller Menschen, und die Musik kann nur zwischen ihnen hindurch in ihre blaue Glocke da oben zurückklingen.« –
In seinem Musikzimmer fand er die Tischrunde bereits versammelt. Er begrüßte die Sängerin der Schubertlieder. Hinreißend konnte diese Frau singen, und jetzt lehnte sie am Flügel, dick und fröhlich, und aß Pralinés, weil die Tafelei immer noch nicht losging. Wer sie nicht kannte, hätte ihr nicht zugetraut, daß sie und vielleicht nur sie zu dieser Zeit den Genius Schuberts zu beschwören vermochte. Eine Schauspielerin, blutjung und schön, fragte einen Bildhauer, der etwas unbeholfen den Türrahmen festhielt, ob er grundsätzlich häßliche Frauenzimmer modelliere oder den Unterschied noch nicht merke. Ein Geiger aus dem Orchester ließ sich in einer Ecke des Zimmers die Krawatte zurechtrücken von seiner Frau. Keinen Zwang tat sich ein Maler an: »Ännchen, gefällt Ihnen mein neues Bild?« rief er.
»O weh«, antwortete eine Dame und zog den schwarzen Spitzenschal schützend um den Hals, »warum haben Sie 196 Unglücklicher in die herrliche Landschaft plötzlich zwei kleine schwebende Engel oben in den Baum gemalt? Ich bin furchtbar erschrocken, als ich sie entdeckte.«
»Der Baum stand so allein in der Welt, Ännchen.«
Sie lachte: »Der Baum hat Angst, und Baum wird männlich dekliniert?«
»Der Engel auch.«
»Den hat ein unwissender Mönch vor langen Zeiten falsch deklariert, mein Lieber!«
Die Geheimrätin bat zu Tisch: »Länger warten wir nicht auf den Andreas.«
Befriedigt nickte die Sängerin: »Wir heben ihm einen Teller Suppe auf.«
»Die Suppe«, sprach der Geheimrat nachdenklich beim Entfalten seiner Serviette, »hat er sich schon selber eingebrockt.«
»Jetzt kommt eine Geschichte.« Ännchen blickte den Kapellmeister aus ihren gescheiten Frauenaugen an.
Aber der Geheimrat schüttelte den Kopf: »Leider nicht, die besten Geschichten lassen sich nicht erzählen, Freunde.«
»Was?!« rief die Sängerin, »so jung wie Andreas und schon Geschichten, die sich nicht erzählen lassen?«
»Nicht so«, beschwichtigte der Meister die Neugierde, ließ den kleinen tragbaren Ofen näher an seinen Stuhl rücken und eine leichte Decke auf seine Schultern legen.
»Also so vielleicht«, begann der Maler. »Mein Freund, ein Bibliothekar, liebt ein Mädchen. Wie sie zu ihm steht, läßt sich nicht sagen: beide schüchtern. Monat um Monat vergeht. Eines Tages steht sie auf der Bücherleiter –«
»Es sitzen Jugendliche an diesem Tisch«, bemerkte der 197 Geheimrat mit einem Blick auf die kleine Schauspielerin.
»Jugendliche?« rief die Schauspielerin beleidigt.
»Er meint mich«, sprach die dicke Sängerin, »fahren Sie fort.«
»– auf dem Büchertritt also. Der Tritt wankt. Sie hält sich am Regal fest. Das Regal wankt. Er und sie wanken auch. Ein Krach, und eine Sturzflut von Büchern geht nieder über die beiden. Weithin bedeckt ein Bücherpolster die Dielen – bei Gott das Bett eines Bibliotheksrates. Nächste Woche taufen sie übrigens das dritte Kind.«
»Was waren denn das für Bücher?« fragte die Hausfrau.
»Broschüren, Gnädigste.«
»Wovon sie handelten, will ich wissen!«
Ännchen kam dem Maler zuvor: »Von falsch deklarierten Engeln!«
Lange saßen die Freunde um diesen Tisch. Menschen saßen beisammen, die alle Kunst schufen, darum nicht redeten über sie: Vom Wetter sprachen sie, von Engeln und Teufeln, Menschen und Unmenschen. Mitternacht war schon vorbei, als das Mädchen dem Geheimrat ins Ohr flüsterte: »Direktor Becker ist am Fernsprecher.«
Verwundert sah die Geheimrätin ihren Gatten aufstehen und ins Nebenzimmer gehen – ihn, der im Leben keinen Hörer in die Hand nahm, weil seine Gehörnerven das Knacken im Apparat nicht vertrugen! Das Gespräch nebenan schien beendet. Der Geheimrat kam nicht wieder. Die Hausfrau erhob sich schließlich auch und ging hinaus. Auf der Diele stand ihr Gatte in Pelz und Hut und sie vernahm fassungslos die Mitteilung, er werde jetzt in die Grotte fahren.
198 »Unmöglich!«
Nichts vermochte ihn abzuhalten. Ihr blieb nur übrig, Hut und Mantel zu suchen, ihre Gäste sitzenzulassen und mitzufahren. »Um Unglück zu verhüten. Aber wen in aller Welt suchst du denn dort?«
»Den Andreas.«
»Wer sagt denn, daß das Ungeheuer in die Grotte geraten ist?«
»Becker. Er fragte, ob Andreas bei mir wäre mit seiner Geige. Nein, sagte ich. Aber Gott sei Dank hat Becker Besuch. Einen Professor Lichtermark. Und dem sei eingefallen, daß der Geiger nun nur in der Grotte sein könne, wenn er noch am Leben wäre. Sie haben dort angerufen – ja, er ist da.«
»Aber mein Gott, ich verstehe kein Wort! Was geht dich das alles an?«
»Man hat vielerlei Mühe mit der Musik.«
»Ja aber –«
Der Geheimrat brannte eine Zigarette an: »Ja aber«, sagte er, »ja aber . . .«