Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Überhaupt konnten die Kranichstedter Gastwirte nicht klagen in dieser Nacht. Nur wenige Einwohner saßen zu Hause und versuchten sich Rats zu holen aus der Abendzeitung. Lieber horchten sie nach dem Rechten an der Quelle selbst. Der Ratskellerwirt mußte bereits Stühle aus seinen Privaträumen in die Gaststuben tragen lassen.

Schon kurz nach dem Einzug der Töpfer ins Rathaus hatte Thedor Kegel seiner Tochter Agnes mitteilen können, daß Andreas, von dem man seit dem Geigen gestern nacht auf dem Rathausmarkt nichts mehr gesehen habe, daß dieser Geiger unter den Aufständischen im Gasthaus zur Scherbelschänke bemerkt worden sei: »Als es eben dunkel werden wollte. Kurz, eh's losging, Agnes. Du siehst, meine Tochter, wo Gewalttat is, da is dieser Andreas.«

Auch Thedor hielt sich nicht länger unnütz in seinem Hause auf. Bald würde er noch ganz andre Nachrichten aus dem Ratskeller bringen können, sagte er und ging.

Dies war gewiß: der Abend blieb unruhig in Kranichstedt. Agnes war allein im still gewordenen Haus, als die 149 Haustür klingelte. Durch den Fenstervorhang sah sie eine Dame draußen stehen – Kundschaft noch?

»Das Geschäft ist heute geschlossen«, sagte sie zu der Fremden.

»Ich wollte zu Ihnen selber.«

Als Agnes verwundert die Haustür aufgeschlossen hatte, trat ein junges Mädchen ein, sehr hübsch in ihrem dunkelblauen Kostüm – vielleicht eine Spur zu hübsch angezogen, zu neu frisiert und zu bunt beschuht. Agnes sah die Fremde verständnislos an . . . verhört haben konnte sie sich nicht: die hatte eben gefragt, ob Andreas hier wäre.

Agnes überkam das Gefühl, plötzlich die Augen schließen zu müssen. Sie legte die Fingerspitzen fest an die Wand des Flurs: »Der wohnt nicht hier«, sagte sie.

»Seine Wirtin hat mich hergeschickt, die Frau Weißpfennig. Sie wüßten vielleicht etwas, hat sie gesagt. Und da wollte ich nur fragen. Ich habe wenig Zeit. Ich muß nachher mit dem Zug zurück nach Leipzig.«

Die Mädchen sahen sich an . . .

»Kann ich ihm etwas bestellen?« begann jetzt Agnes, und der nächste Satz kostete sie Mühe: »Vielleicht kommt er noch.«

»Wenn Sie ›Hasel‹ sagen, weiß er schon. Er, er . . .« Hasel zögerte, plötzlich trat sie an Agnes heran, nahm ihre Hand und sagte: »Er lebt doch?«

»Er – was sagen Sie??«

Ohne das zu wollen, hatte Agnes mit der freien Hand die Stubentür aufgeklinkt hinter sich und Hasel in das Zimmer gezogen. Das fremde Mädchen duftete nach einem Odeur de la rêve, das selbst im Barbierhaus zu seiner vollen Geltung kam. Agnes wußte vollends nicht mehr, was 150 sie aus der Fremden machen sollte, als die Worte zu reden begann, welche zwar nicht mehr recht zu dem leichtsinnigen Eau de la rêve paßten, wohl aber bewiesen, daß dieses fremde Mädchen den Andreas wirklich kannte – so gut kannte, daß ihr die Sorge um sein Schicksal aus dem Herzen zu kommen schien.

»Nein, Fräulein, danke«, sagte sie, »setzen will ich mich nicht erst. Vielleicht treffe ich ihn doch noch, ehe mein Zug geht. Er muß hier in Kranichstedt sein. Denn in Leipzig, wo sollte er da unterkommen?« Die Fremde schüttelte den Kopf, sah Agnes beklommen an und fuhr fort: »Geredet hat er wie – ja, wie einer, der nicht mehr mag. Als er das letzte Mal bei uns war – das ist nun schon bald drei Tage her, Fräulein – da hat er gesagt, der Blitz sei eingeschlagen in ihn. Aber ich brauchte nicht zu erschrecken deswegen. Das sei gar nicht so schlimm. Er habe jetzt eine Geige, mit der er sich zu Asche geigen könnte. Und ich habe gedacht – ich wollte ja nur wissen – das ist doch nun schon drei Tage her . . .«

»Er gibt Ihnen wohl Geigenstunde?«

»Stunde? Nein.«

Wer ist die? Agnes war jetzt ganz ratlos . . . »Mein Vater«, begann sie, »hat erzählt, es hätte ihn jemand in der Schänke am Windmühlenberg gesehen vorhin« – Hasel wendete sich schon zur Tür – »Aber Sie finden den Weg schwer im Dunkeln. Ich komme ein Stück mit«, fügte Agnes hinzu.

 


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