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Noch im Stehen, den Geigenkasten unterm Arm wickelte Andreas in seiner Kammer die Wurst aus und aß. Pröhles dritte Wurst schenkte dem ausgehungerten Mann nun doch allmählich das beruhigende Gefühl des Sattseins. Kauend setzte er sich auf den Bettrand, stellte den 81 Geigenkasten zu seinen Füßen und begann Pröhles Zeitungspapier zu lesen. Zerknittert, fettig war es, aber Andreas las sich fest. Wie auf durchscheinendem trübem Wasser schwammen die Buchstaben auf dem fettgetränkten Papier. Der Schriftsatz der Gegenseite schimmerte durch. Die gedruckten Worte schienen losgelöst zu sein vom Papierstoff, der sie trug. Mühsam entzifferte Andreas, was da stand wie in trübes Wasser geschrieben:
»Sankt Ildewig, die Kranichstedter Heilige« – eine Heilige? In Kranichstedt? Andreas schüttelte den Kopf, las:
»Jeder Einwohner kennt das uralte Bildwerk über dem Südportal der Marienkirche. Zu sehen ist nicht mehr viel. Vor vielen hundert Jahren ist das Relief hergestellt worden aus unserem heimischen Töpferton. Das grünglasierte Gewand der heiligen Ildewig kann der Beschauer noch erkennen. Ihr Kopf fehlt leider. Bei dem großen Kirchenbrand wurde das berühmte Werk schwer beschädigt. Erfreulicherweise ist jedoch der Galgen rechts von der Heiligen unversehrt erhalten und links von ihr das Bruchstück einer männlichen Figur. Mancher Einwohner mag von der Geschichte, die hier dargestellt ist, wenig mehr wissen. In katholischen Zeiten war die Sankt Ildewig eine hierorts hochverehrte Heilige, mit der es eine Bewandtnis hat. Wie bekannt, wird dieses alte Wahrzeichen unserer Stadt bei der Tausendjahrfeier wieder zu Ehren gebracht. In alten Zeiten glaubten die Einwohner fest an die Wundertaten der heiligen Ildewig. Nachmals verwischte sich dies. Aber sie soll vielen Armen und Notleidenden geholfen haben. In den neueren Zeiten, seit der Mensch sich immer mehr selbst zu helfen gelernt hat, kam die Verehrung der Ildewig 82 allmählich ab. In Kranichstedt aber soll sie ein besonderes, man möchte sagen: ein Kranichstedter Wunder getan haben. Ein fremder Spielmann nämlich flehte eines Tages die Sankt Ildewig um eine milde Gabe an. Wir sind versucht, darüber zu lächeln. Aber man möge bedenken, daß es eben in jenen alten Zeiten, als noch nicht für die Kunst gesorgt wurde, bettelnde Spielleute gab, arme Tröpfe, die es zu nichts Rechtem gebracht hatten im Leben und nun ihr Brot von Tür zu Türe erfiedeln mußten. Ein solcher Spielmann stellte sich vor das Südportal und rief die Sankt Ildewig an, sie möge ihm gnädig sein – nur einen Tag lang solle sie ihn speisen, ihn einmal im Leben satt sein lassen. Dann wolle er gerne sterben – oder, wenn es der Heiligen gefalle, möge sie ihn zwei Tage speisen, ja, wenn sie's vermöge, drei Tage ihm die Lebensnotdurft und was darüber ist, gewähren. Er wolle dafür die Geige unters Kinn heben und die Herzen der Menschen erquicken mit Musik – Musik zu Ehren der Heiligen werde er machen, daß die Vögel zu singen, die Wäscherinnen zu schwatzen aufhörten, die Rollwagen stilleständen auf den Straßen, alles Geschäft aussetzte, der Henker sogar dem Verurteilten auf der Leiter Gnade gäbe bis zur Schlußkadenz! Seht, liebe Einwohner, da geschah das Kranichstedter Wunder. Die Heilige über dem Südportal unserer Marienkirche drehte bei des Spielmanns hochtönenden Versprechungen den Kopf, sah ihn an, sie hob den grünglasierten Rock, schwenkte das zierliche Bein, und ehe der Spielmann wußte wie ihm geschah, fiel klirrend ihr goldener Pantoffel zu seinen Füßen. Erschrocken blickte der Mann auf, starrte die Heilige an. Aber die stand, den Kopf wie früher gradaus gerichtet, unbeweglich als ein glasiertes Bildwerk da, und ihr Rock bedeckte wieder, wie es einer Heiligen wohl 83 ansteht, die Füße bis – nun, den linken Fuß bis zur Pantoffelspitze, den rechten jedoch bis zur nackten kleinen Zehe: der rechte Pantoffel war verschwunden aus dem Bildwerk. Der Spielmann aber hob ihn auf vom Pflaster, wog ihn in den Händen – er war mächtig schwer, der Spielmann pries die heilige Ildewig über die Maßen und verschwor sich, in Kranichstedt eine Musik zu machen, von der man noch reden solle in späten Tagen. Dies, liebe Einwohner, ist tatsächlich eingetroffen: die heutige Nummer der Ilmpost spricht noch von jener alten Musik, obgleich wir doch eine ganz andre gewohnt sind! Leider hatte der Spielmann, wie so mancher seinesgleichen, nicht den bedachten Sinn des ordentlichen Einwohners, der sich in einem außergewöhnlichen Fall vor den Amtsschösser begibt und ihn um Rat und Hilfe bittet. Der Spielmann war eben von Jugend auf ungeregelte Umstände gewohnt und sagte sich: das erste, was der Amtsschösser tut, ist dies – er nimmt mir den goldenen Pantoffel weg. Bei dieser Überlegung verbarg er den Pantoffel der Sankt Ildewig in der hinteren Tasche seiner Lederhose. Nun hätte er sich wenigstens an seine in festem Brot und Ansehn zu Kranichstedt stehenden Berufsbrüder wenden sollen, an den Stadtpfeifer, an den Obersten der Zinkenisten oder an den Orgelspieler wenigstens. Aber das konnte er auch nicht, denn er war unlängst der Pfeiferschaft zu nahe getreten mit ungehörigen Worten. Von der Stadtmusik am Marienfest hatte er gesagt: Bei solch bombastischem Rasaunen könne ein Mensch mit Ohren am Kopf seinen Wein nicht die Gurgel hinunterkriegen, viel weniger ein Sprüchlein heraufwärts für die liebe Mutter Gottes. So geschah es denn, daß der Spielmann, ein Loblied singend, in die Schenke ging und unterwegs alle mitgehn hieß, die er 84 für dankbare Gäste hielt: Bettler, Habenichtse, lustige Dirnen, für deren Gesittung kein Kranichstedter Bürger die Hand ins Feuer gelegt hätte, dazu großmäulige junge Burschen und erfahrene Weiber. Im Nu waren im Saal der Schänke die Tische zu einer großen Tafel gerückt, und es begann ein gewaltiges Gelage. Da man in der Stadt meinte, es sei ein großer Herr angekommen, der aus mildem Herzen die Armen und Niedrigen des Ortes tränken und speisen wollte, vielleicht auch um eines Gelöbnisses willen solches tun mußte, ließ der Oberste der Stadtpfeifer höflich anfragen, ob dem Herrn vielleicht eine Tafelmusik genehm sei, auf krummen Zinken etwa oder auf Sackpfeifen. Auch mit Schnabelflöten und Baßbombart könne man dienen, auf Blockflöten besonders viele Stunden hindurch ohne Pause die Festfreude erhöhen. Der fremde Spielmann ließ die Pfeiferschaft kommen, gab dem Wirt den goldenen Pantoffel und hieß ihm nicht nur die Zeche von dem Gold abziehen, sondern auch den Musikanten ihren Lohn gleich beim Eintreten auszahlen. Fröhlich setzten sich die Stadtpfeifer zum Werke nieder. Viel Lärm erfüllte die Schenke, denn die Gäste soffen ganz unmäßig. Aber die Musikanten drangen kräftig durch, so daß dem Wirt bange wurde vor dem Tosen. Er öffnete die Fenster, damit der Schall einen Ausweg finde aus dem Gemäuer, und vor der Schänke sammelte sich die Einwohnerschaft, um auch etwas zu hören. Allmählich jedoch klang eine Pfeife nach der andern gelinder. Auf der Straße draußen war die Musik kaum noch zu vernehmen. Der Spielmann nämlich saß in der Mitte der langen Tafel, hielt den Kopf in die Faust gestützt, und sein Zeigefinger malte Noten mit rotem Weine auf den Eichentisch. Reglos saß er, die Lippen leidvoll vorgeschoben, 85 vom Beginn der Pfeifermusik her aber noch den erstarrten Zug des Hohnes um den Mund . . . eine Flöte nach der andern schwieg. Die Stadtpfeifer starrten den Gastgeber an – sie erkannten ihn: der fremde Spielmann war das! Auch die Bettelgäste merkten auf. Noch waren die Musikanten unschlüssig, aber gleich mußte ein Sturm losbrechen, eine Schlägerei, aus welcher der Wirt kein Stuhlbein retten konnte. Da erhob sich der Spielmann langsam von seinem Schemel. Er hatte ein erschreckendes Aussehn, ein bleiches zerfurchtes Antlitz, graue Haarsträhnen um die Schläfen. Unwillkürlich faßten die Stadtpfeifer nach Stuhl und Glas, um sich zu wehren. Aber der Spielmann sah sie nur traurig an . . . ›Ihr könnt nichts dafür‹, sagte er, bedeutete ihnen, herunterzusteigen vom Podium, in die Tischrunde einzurücken, und nun begann er, Musik zu machen auf seiner Geige – die ganze Nacht. Soviel die Bettelgäste gegessen, getrunken hatten – sie schrien nicht mehr, wurden still und hörten offenen Mundes diesen Menschen geigen. Der Wirt sah zur Tür herein, er meinte durchs Portal in die Kirche zu schauen, so dunkel und still und feierlich war es . . .
Gegen Morgen lag völlige Stille über dem Saal. Die Gäste schliefen. Nur der Spielmann saß einsam auf seinem Podium, riß leise hin und wieder ein Saite an, trank ab und zu. Beinahe getraute sich der Wirt nicht, dem Mann die Rechnung zu reichem Der nahm sie auch nicht. ›Gib her, was übrig ist‹, sagte er, und sah abwesend vor sich hin, zupfte einen Saitenton, noch einen, summte zuweilen . . .
›Das war ein guter Tag‹, murmelte der Wirt. Als er aber den goldenen Pantoffel einwechseln wollte beim Goldschmied, wandelte sich der gute Handel. Das sei Feingold, 86 sagte der reiche Schmied, und so viel Scheidemünzen, um das einzuwechseln, besitze er nicht. So viel besitze die ganze Stadt nicht, meinte er mißtrauisch. Kaum eine Stunde später hatte sich denn der Handel in eine Gerichtssitzung umgewandelt. Von allen Seiten besahen die weltlichen und geistlichen Herren Kranichstedts den unbezahlbaren Pantoffel, besahen auch den Spielmann, der abwesenden Geistes unter ihnen stand, kaum hörte, was sie redeten. Den fremden Menschen kannte keiner, aber plötzlich erkannte der Kaplan den Pantoffel: ›Der gehört der heiligen Ildewig!‹ Die Herren redeten erschrocken durcheinander, dann liefen sie zum Portal der Marienkirche, rannten fast um die Wette, der Kaplan weit voran dem Schwarm der würdigen alten Herren. Hier sprachen sie noch lauter, sahen sich entsetzt in die erhitzten Angesichter: ›Seht her! Sankt Ildewig steht nun mit einem Beine barfuß da!‹
Den rechten Pantoffel der Heiligen – der Kaplan hielt ihn, Gott zum Zeugen dieser Raubtat eines fremden Vagabunden anrufend, zitternd in seiner Hand. Die weltlichen Herren ließen ihn Gott nicht vergebens anrufen, fackelten nicht lange und befahlen der Scharwache, den Spielmann zu ergreifen. Wo er herkäme? ›Aus Deutschland‹, sagte der Mann. Aus dem Land käm' er nicht, da wäre er mitten drin! schrie ihn der oberste Ratsherr an, und alle weltlichen und geistlichen Herren schrien es mit.
Der Spielmann sah sich um im Kreise: ›Weiß nit‹, sagte er.
Der Zorn des Gerichtes kannte keine Grenze mehr. Ob er ehrlich geboren sei! brüllte ihm der Kaplan ins Gesicht.
Seine Mutter habe ihn mit Schmerzen zur Welt gebracht – der Spielmann sah bei diesen Worten vor sich hin.
87 Aber diese Frau Mutter kenne wohl seinen Herrn Vater nicht? fragte der Obermeister der Schneiderzunft nahe vor dem Spielmann; denn der war an beiden Händen gefesselt.
Des Spielmanns Blick ruhte auf der blitzenden Goldkette, die überschwer des Schneiders schmalen Brustlatz verzierte: ›Pan‹, sagte er, ›Pan hieß mein Vater, trug keine Kette wie du, aber wenn die Erde widerklang vom Herrn, war er der Klang – ich trage ihn nur weiter.‹
Der Kaplan schlug mit dem goldenen Pantoffel auf den Gerichtstisch: ›Nun ist die Gotteslästerung am Tage!‹ ächzte er.
Der Spielmann sah den Kaplan bittend an, indem er auf den Pantoffel der heiligen Ildewig zeigte: ›Bring ihn an einen Ort, der dir gut dünkt, frommer Mann. Zuunterst in deinen Domschatz meinetwegen – aber zieh ihn der Ildewig nicht wieder an, sie steht so menschlich da mit einem zärtlich nackten Fuß.‹
Was gab es nach diesen Frevelworten noch zu verhandeln? Der Spielmann wurde verurteilt, mit einem Strick um den Hals gehenkt zu werden. Schwungvoll setzte der Gerichtsherr seine Unterschrift auf das Pergament. Die Scharwache löste die Fessel des Verurteilten, um ihn an eine Kette zu legen und durch die Stadt zu führen auf den Richtplatz – als eben die eine Kettenschelle sein linkes Handgelenk umklammerte, die Rechte aber noch frei war, griff der Spielmann nach der Gänsefeder des Gerichtsherrn, zog sie ihm durch die Finger, drehte das Pergament um, malte in einem Husch Notenlinien auf die Rückseite und schrieb mit geschlossenen Augen Noten hinein.
Im Angesicht des Todes mußte sich eine selige Melodie auf ihn gesenkt haben. Mit geschlossenen Augen schrieb er, 88 lächelte, und sein zerfurchtes Antlitz sah jung aus und glänzend wie ein heidnisches Götterbild.
Erschrocken waren die Herren des Gerichts zurückgewichen vor dem entfesselten Menschen. Aber schon schlug er seine Augen auf, sah wieder alt und kummervoll aus und hielt der Scharwache sein freies Handgelenk zum Fesseln hin. Die Herren betrachteten die Notenschrift. Durcheinander, übereinander standen die verwirrten Zeichen. Der Schreiber schüttete Sand drauf: ›Wir lassen' s stehn, das kann doch keiner lesen.‹
Sie sparten ein neues Pergament. Der Vagabund war's nicht wert. Unterm Läuten der Armesünderglocke ordnete sich der Gerichtszug.
Voran schritt die Scharwache, hinter dem Spielmann, dem Henker und des Henkers Gesellen ging die Geistlichkeit, dann folgte die Pfeiferschaft, welche Bußlieder blies, danach kamen die weltlichen Herren und zuletzt die Einwohnerschaft als Ganzes. Als der Zug am Portal der Marienkirche mit dem Bilde der Sankt Ildewig vorbeikam, ruckte der Spielmann an der Kette und blieb stehen. Falten konnte er die Hände wegen der Kette nicht.
Er blickte die Heilige dankbar an: ›Die Zeit wird knapp‹, sprach er zu ihr, ›ich muß mich nun verklären.‹
Und da geschah das zweite Wunder: die Heilige wendete, neigte ihren Kopf, lächelte den Spielmann holdselig an, hob den grünglasierten Rock ein wenig hoch, schwenkte das zierliche Bein – ein Goldblitz über den Köpfen! Und zu Füßen des Spielmanns lag der linke Pantoffel! Vor aller Augen geschah dies. Der Bürgermeister sah's, der Kaplan, der Ratsschreiber und die ganze Stadt! Der Kaplan faltete die Hände vor dem Bauch, der Bürgermeister befahl, die 89 Ketten zu lösen, der Henker barg das Hanfseil wieder in seinem Werkzeugetui, die Einwohner jubelten, und das Armesünderglöckchen schwieg. Statt auf den Richtplatz lenkten die geistlichen und weltlichen Herren samt Spielmann und Pfeiferschaft ihre Schritte zur Schänke, und es begann auf Kosten des Rates ein großes Freudenfest. Nach dem ersten Wohlbekomm's wollte der Bürgermeister den Spielmann fragen, wie er nun eigentlich hieß, denn Kranichstedt gedachte ihn zum Ehrenbürger zu ernennen. Aber der Spielmann war verschwunden, und kein Einwohner hat ihn je wiedergesehen. So nannte man denn zu seinem Gedächtnis die frühere Krautgasse von jetzt an die Große Panstraße, nach des Spielmanns Vater. In neuerer Zeit ist die Straße wieder umbenannt worden, weil sich unter dem Großen Pan wenig denken läßt. Nur das Bildwerk der Sankt Ildewig zeugte noch lange von diesen merkwürdigen Geschehnissen. Die Heilige aber behielt ihren Kopf nach links unten gewendet, wo einst der Spielmann gestanden hatte. Auch das liebliche Lächeln war auf ihrem Antlitz stehengeblieben.
Hunderte von Jahren hat die heilige Ildewig gelächelt, und gewaltige Musik ist in Deutschland gemacht worden. Dann kam der Tag des großen Brandes. Das lächelnde Haupt und fast der ganze Spielmann gingen im Brandschutt verloren. In wenigen Tagen jedoch, liebe Einwohner, wird nun die heilige Ildewig, das Wahrzeichen Kranichstedts, neuerstehen, in anderer Gestalt, aber aus dauerhafterem Material.
Ob in späteren Jahren der Spielmann unerkannt doch wieder in Kranichstedt gewesen ist? Niemand kann es sagen. Wir wissen nur, daß alle großen Musikanten unseres 90 Vaterlandes nach Kranichstedt gekommen sind, um das Pergament zu sehen und die geheimnisvollen Noten zu entziffern. Kranichstedt, könnte man sagen, ist ein inwendiger Kreuzweg der Musik geworden, obgleich bisher kein Fachmusiker die gleich einem Rätsel durcheinandergeschriebenen Noten des Ildewigpergamentes ins jeweilig Zeitgenössische übersetzt hat. Bekanntlich ist seinerzeit Johann Sebastian Bach von Arnstadt herüber zu Fuß in Kranichstedt gewesen. Er soll lange auf das Pergament geschaut haben und dann wortlos gegangen sein. Man habe ihn jedoch auf der Rathaustreppe wohl eine halbe Stunde noch in Gedanken versunken stehen sehen, aber nie hat er zu jemand irgendein Wort später darüber verlauten lassen. Den Musikfreunden unserer lieben Vaterstadt ist auch bekannt, daß eines Tages in einem vierspännigen Reisewagen Händel unangemeldet am Rathaus vorgefahren ist, und als Haydn nach dem Studium der Ildewignoten mit Tränen in den Augen den Saal verlassen wollte, hat er unter der Tür Mozart getroffen. Von allen Meistern verweilte Mozart, der damals schon sehr kränklich gewesen ist, die kürzeste Zeit über dem Pergament. Kaum hatten seine Augen die Hieroglyphen überflogen, hat er das Blatt aus der Hand fallen lassen, zum Fenster hinaus nach den Wäldern über den Dächern geschaut und wie ein junger, strahlender Mann gelächelt. Erst beim Einsteigen in den Wagen soll er wieder in sich zusammengesunken sein, weil da ein fremder Bote gestanden und ihn am Ärmel gezupft habe: ›Das Requiem, Maestro, ist es fertig? Mein Herr läßt sagen, die Zeit wird knapp.‹ Dem Besuch Beethovens aber verdankt unsere Stadt die allen Lesern wohlbekannte Reliquie: den hellgrauen Sommermantel des Unsterblichen. Nach dem Lesen hat er nämlich, 91 weit vornübergebeugt und mit der Hand in der Luft schreibend das Rathaus verlassen, den Ratsdiener aber, der ihm den Mantel umhängen wollte, nur verständnislos angeblickt und vor sich hinmurmelnd rasch den Reisewagen bestiegen. Daß Schubert hier war, verlautet nur. Dieser Genius war damals zu jung und zu unbekannt, auch zu arm, um weiter bemerkt zu werden. Zudem ist er bald danach verstorben.«