Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Professor Lichtermark begleitete den Direktor nach Hause. Die Nacht war warm. Sie gingen zu Fuß durch die nächtlich leeren Straßen.

»Hältst du den Geigenkasten auch richtig fest, Becker?«

»Ganz fest, Lichtermark. Ich habe ihn unterm linken Arm, und mit der rechten Hand halte ich den Griff.«

»Gut gut, Becker. Daß sie nur nicht hinfällt! Wenn wir mal abwechseln wollen –«

»Danke, Lichtermark. 's geht noch. Aber wenn ich mir überlege, was der Geige hätte zustoßen können – ich verliere jetzt noch den Verstand. Denke doch bloß: in einer Nische und Tanzmusik.«

»Nicht nur Tanz. Er hat ja auch ein Lied gegeigt an dem Abend.«

Becker hatte den Einwand gar nicht vernommen. Seine Gedanken folgten dem Leidensweg der Stradivari: »Und dann nachts, auf freiem Felde –«

»Im Walde, Becker«, sagte Lichtermark begütigend, »oder wenigstens an einem Waldrand.«

»Und dann Hochzeitsmusik auf dem Dorfe – du allmächtiger Gott! Auf einer Stradivari!«

»Nein nein, Becker. So mußt du das nicht sagen. In einer Kirche hat das Konzert stattgefunden. Zur Orgel.«

»Wenn ich einmal im Sterben liege, Lichtermark, und 206 mir fällt plötzlich ein, was dann noch geschehen ist – verlaß dich drauf: ich stehe wieder auf und wandle vor Angst! In einer Gasse, einer elenden Gasse ohne Laternen! Hinter einer Kneipe, die du selber Scherbelschänke genannt hast!« – Becker blieb stehen und schöpfte Luft – »Die Stradivari, ganz nahe unter drehenden Windmühlenflügeln! Und – das hast du mir doch auch erzählt, Lichtermark – und an dem Abend auch noch, als grade ein Aufstand ausgebrochen war in Kranichstedt!«

»Becker, hier muß ich dir recht geben. Was in der dunklen Gasse unter der Windmühle geschehen ist – daß der liebe Gott da nicht vom Himmel herabgefahren ist und diesen Kerl –«

»– auf den Flügeln der Morgenröte abgeführt hat, vertilgt –«

»– nein, Becker, jetzt hast du nun wieder Unrecht. Morgenröte war zu spät. Mit der Morgenröte wäre auch der liebe Gott nicht mehr zur rechten Zeit gekommen. Zur Zeit der Morgenröte war das arme Kind schon bei mir. Nun hieß es nicht mehr vertilgen, nun hieß es nur noch leben bleiben.« Jetzt hielt Lichtermark den Schritt an und mußte Luft schöpfen. Nachdenklich sah er hinüber zu dem schweren Baumkissen, das den alten Johannisfriedhof zudeckte. »Frauen«, begann er und merkte nicht, daß Becker immer verwunderter dieser Rede zuhörte, »die Frauen . . . unsereiner nicht, aber eine Frau, die sich zwischen einen armen Mann und seinen Tod stellt, die kann's, die vermag's zum Leben zu wenden, wenn die Fingergelenke schon knacken an der Knochenhand, die zugreifen will. Jaja, wenn sich eine Frau zwischen einen Mann und seinen Tod stellt mit allem was sie weset, ist und wird . . . vor allem: wird . . . 207 und wenn ich mir nun so die Agnes vorstelle, wie sie mich angesehn hat heute früh in der Morgenröte und wie sie, hm hm hm – wie sie mir dann auch noch ›Ja‹ ins Gesicht hineinsagte, nicht ohne einen Trotz und Trumpf – haha, Becker, daß die Geige da unter deinem Arm eine Stradivari ist und geklungen hat unter den Windmühlenflügeln gestern nacht, das kannst du ruhig behaupten. Auch, daß die Stradivari gewiß nicht von selber gesagt hat: Andreas, ich will klingen. Diese Musik hat der heillose Kerl, der Andreas, ganz alleine auf seinem Gewissen. Wer aber will sagen, ob die Agnes nicht recht wohl gewußt hat, was sie tat? Und daß der Andreas zwar ein großer Geiger, aber dabei auch ein dummer Stoffel war? Der auch keine Ahnung hat von dem Weg, den eine Ildewig zum Leben lenkt?«

Becker war auch stehengeblieben: »Sage mal, Lichtermark, wovon sprichst du denn?«

»Ich? Je, Beckerchen, wovon soll einer reden in so einer Sorgennacht? Von der Geige.«

»Das klang aber gar nicht so. Du redst und redst und hast gut reden! Du bist eben niemals in deinem Leben ein Museumsdirektor gewesen, dem jemand das Hauptstück seiner Sammlung gestohlen hat –«

»– Becker, frage den Geheimrat, wenn du mir nicht glaubst: das Wort ›stehlen‹ ist ein unpassendes Wort.«

»Zum Teufel, die Geige war doch jedenfalls weg! Wenn du verstehen könntest, wie's dem verantwortlichen Pfleger einer Stradivari zumute ist, wenn er diese Geige über Land geigen hört, auf Märkten, Dorfhochzeiten, in Volksaufständen –«

»– aber unter der Windmühle, Becker, da war nicht 208 Aufstand, da war ein Frieden, um den wir beide den Geiger nur beneiden können.«

»Ich weiß nicht, Lichtermark, aber solche abschweifenden Reden hast du früher nicht an dir gehabt – der Antonius Stradivarius hätte sich im Grabe 'rumgedreht.«

»Du, ich glaube, der hätte bloß gelächelt.«

»Wenn er eins seiner kostbarsten, vollendetsten Instrumente auf dem Jahrmarkt gehört hätte?!«

»Unter den Leuten wie sie kommen und gehen, hätte er sie gehört, Becker. Im Leben draußen, meinte ich, Beckerchen. Glaskasten und Museum und auch Konzertsaal, Frack, Abendkleider samt Lorbeerzweig und Presse in Ehren – wenn ich Stradivarius wäre, dächte ich vielleicht nach zweihundert Jahren auch gelegentlich drei Tage lang: zum Kuckuck, Kinder – warum nicht einmal im Leben selber?«

»Lichtermark«, sprach Becker seufzend, »du hast dich sehr verändert, seit wir uns das letztemal gesehen haben. Das klang ja beinahe, als wenn du sagen wolltest: die Stradivari hätte sich selber hinausgestohlen aus meinem Museum!«

 


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