Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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So begann der zweite Stradivaritag: Agnes sagte vor sich hin: »Dich, dich, dich . . .« Der Kriminalrat Klitz wirbelte nachdenklich an seinen Schnurrbartspitzen. Der Dirigent des Gewandhauses öffnete die dringende Depesche aus Brüssel: »Schlitterwang spielt morgen abend nicht!« sagte er erschrocken, »Schwierigkeiten an der Grenze wegen seiner Geige gibt er als Grund an. Wer soll das glauben?« Wie sollte sich nun in aller Eile ein Geiger finden, der dieser Aufgabe gewachsen war? Sorgenvoll erwog der Kapellmeister eine Änderung des Programms . . . Der evangelisch getaufte Kustos Lindemann ging mit dem Gedanken um; in die katholische Kirche überzutreten. Der Vorstand Mittenzwey suchte den Bildhauer Hauke auf: »Man wolle das Denkmal möglichst bald in der Nische der Rathauswand aufstellen, Meister. Am besten heute noch. Hohlräume verleiten zu Mißbrauch. Auch leere Nischen sind an unruhigen Tagen als Hohlräume anzusehen: wir haben es erlebt letzte Nacht. Ihr Spielmann aus Aluminium gereicht der Stadt zum Schmuck, irgendein Straßenmusikant ohne Gewerbeschein jedoch verdreht ihr den Verstand. Wir sind hier nicht in Hameln. Rattenfängermusik ist nicht am Platz in Kranichstedt.« So sprach der Archivrat. Die sonstigen Beteiligten taten das Ihrige. Victor Müller übte sein Konzert. Lichtermark brummte, blätterte unentschlossen in Notenstößen, mochte nicht spielen. Das Reh äste auf der Morgenseite des Waldes – horchend: aber der fremde Vogel sang nicht mehr. Der niedergedrückte sanfte Bergrasen am Boden des duftenden Gehäuses unter dem wuchernden Geflecht knospender Zweige stand wieder auf, langsam, Hälmchen um Hälmchen.

Und Andreas stand auch auf. Ein Sonnenstrahl hatte 120 sich, nahe an seinem Gesicht goldgelb aufblitzend, in dem Messingschloß des Geigenkastens gespiegelt. Seufzend rieb Andreas die vom harten Liegen zerschlagenen Glieder. Er tröstete sich, sah auf zu dem Zweiggewölbe: das Bett war wohl rauh, aber das Schlafgemach war gewaltig hoch, und die alte Weißpfennigen guckte auch nicht herum hier, der Bote vom Quartettverein klopfte nicht an einen Buchenstamm: Probe heute um elf! Und Mittenzwey konnte dem Geiger nicht ins Gesicht sagen, er habe gelumpt diese Nacht.

Andreas sah den Weg entlang. Den Abhang hinunter ging ein Pfad nach Hopfgarten. Der Turm über den Bäumen da unten mit einer Dachhaube, gedreht wie ein Schneckenhaus, gehörte zur Hopfgärtner Kirche. Rote Dächer leuchteten durchs Gezweig der Bauerngärten. Das Brüllen der Kühe klang herauf, Hundegebell – der Morgenfrieden des Dorfes. Das hellgelbe Straßenband aber, jenseits des Dorfes am Bahndamm, führt in ein paar Stunden nach Kranichstedt – »Dorthin nicht!« rief Andreas, »dort haben die Straßen Namen, die Häuser haben Nummern und die Menschen einen Leumund. Die Wagen sind gezählt, und an allem, was zu Verkauf liegt, hängt ein Zettel mit dem Preis dran – nur an den Liedern, den Melodien nicht, die Andreas geigen kann. Nicht Nummer, nicht Zahl, nicht Wert – wie ist das in der menschlichen Welt? Wo geht der Schnitt durch und trennt zahlengeschütztes Gut vom unbezahlbaren? Andreas stand da mit seinem Geigenkasten und mußte wieder fragen: Wo kann ich nun hin? Er sah den Dom des Waldes um sich, hörte Gottes Morgenwind rauschen – Andreas dachte an seine Kammer, an die Weißpfennigen, an all den Plack und pries mit lauter Stimme die Herrlichkeit des lebendig 121 knospenden Gezweigs, das ihn verflochten hielt in ein frisch duftendes Haus, und Andreas bedachte nicht, daß jeder Baum im Walde gezählt ist, gebucht im Forstregister, gemessen nach Nutzwert und hinter seiner Nummer versehen ist mit dem Datum seiner Fällung. Andreas vermochte seine eigne Welt noch nicht abzugrenzen in der wandelbaren Wirklichkeit. Aus dem Unrecht suchte er den Weg ins Wunder, er wollte den Hunger stillen mit Durst.

»Nach Kranichstedt nicht!« rief er. Zwischen Schlehenbüschen zwängte sich Andreas den Abhang hinab, nahm einen guten Wanderschritt an, aber schon am Hopfgärtner Dorfeingang stand er lächelnd still. Auf dem Wegstein vorm Müllerhaus saß ein kleines Mädchen, ein wenig steif im frischgewaschnen weißen Kleid, einen gelben Blumenkranz im strohgelben Haar.

Ein Kinderengel aus dem Bilderbuch, dachte Andreas. »Heißt du Himmelschlüssel?«

Groß und fragend sah ihn das Kind an.

»Hast du dir die Schlüsselblumen selber geflochten?«

Stumm betrachtete das Kind den fremden Mann.

»Sonntagskind, heute ist ja gar nicht Sonntag«, versuchte es Andreas von neuem.

Ernsthaft schüttelte das kleine Mädchen den Kopf: »Hochzeit haben wir doch!«

»Das habe ich freilich nicht wissen können.«

Hochzeit . . . Andreas sah versonnen die gelben Blumen an. Das Kind hielt den Geiger für einen Gast: »Da geht's hinein, durch die Türe dort.« »Hochzeit«, murmelte Andreas seufzend, ließ den Kopf hängen und ging seines Wegs weiter und an der Türe vorbei. »Wie muß das sein«, sagte er vor sich hin, »wenn jemand leben darf unter 122 seinesgleichen? Wenn er klopfen darf an die Haustüre, hinter der ein Mädchen lebt, das er lieb hat, und wenn er sagen kann: Vater Kegel, gib mir deine Tochter? Und was geschieht dann, wenn der Alte sich herumdreht und die Treppe hinaufruft: Agnes, wenn du ihn haben willst, antworte mit einem lauten deutlichen Ja?!

»Ja!!« rief Andreas.

»He, was?« fragte ein Mann, der auf einer Leiter stand und Tannengirlanden über die Kirchentür nagelte.

Erschrocken sah Andreas auf: »Spielt da jemand Orgel drin?«

»Das hörn Sie doch«, knurrte der Mann ärgerlich und nagelte weiter.

 


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