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Agnes war in dieser Märznacht dreimal aufgestanden. Jetzt öffnete sie leise ihre Kammertüre und horchte in den dunklen Treppengang. Tiefe Stille. Der Mond stand hinter Wolken, schwarz wie ein Brunnenschacht ging er vor ihren Füßen in das Hausinnere hinunter. Furchtsam schloß sie die Tür wieder, trat ans Fenster. Eng umstanden den Hof die Mauern der Hinterhäuser. Die Schornsteine auf den Dächern hielten die offenen Mäuler in die Luft und ließen den Wärmedunst aus den Nestern in die Nacht entweichen. Kein Licht. Andreas' Fenster drüben war auch dunkel – spielte er? Nein, der Wind . . . Agnes kroch ins Bett, versuchte einzuschlafen. Die drückende Stille erregte das Mädchen. Zum ersten Male war sie ganz allein im nächtlichen Hause. Wo blieb ihr Vater? Die Sorge schraubte sich immer tiefer in ihre Gedanken. Im Laden unten schlug eine Uhr die dritte Morgenstunde. Agnes brannte den Leuchter an, ging auf den Zehen aus ihrer Kammer, leuchtete an den Flurwänden hin, leuchtete in ihres Vaters Schlafstube, leuchtete in jeden Raum, jeden Winkel, tappte vorsichtig die Treppe hinunter, trat in den Laden, hob das Licht – in den drei goldgerahmten Prachtspiegeln sah sie sich stehen, im Hemd, blaß: »Vater?« fragte sie die Spiegelbilder. So still stand die Luft, daß sich kaum die Kerzenflamme auf dem Docht bewegte. Ob sie die alte Weißpfennigen weckte im Hinterhaus? Nein, eine Weile wollte Agnes noch warten. Sie schlich wieder in ihre Kammer. Langsam gingen die Viertelstunden hin. Es dämmerte grau. Da erschien auf der Gardine ein goldener Balken. Die Sonne kam hoch. In der Ferne polterte ein Wagen. Jetzt! Jetzt schloß es an der Haustür . . .»Vater!« schrie sie und stürzte ihm in die Arme – lieber Vater, wollte sie 46 sagen, aber unter der Keuschheit ihres Herzens lagen Zuworte wie unter einer Schneedecke: »Vater!«
»Na aber, aber«, murmelte Kegel und stellte seine Reisetasche auf einen Stuhl.
»Ist dir was zugestoßen?«
»Ih wie sollte denn! 'n Zug habe ich verpaßt, Agnes« – er fühlte, wie das Kind in seinen Armen zitterte. Eine tiefe Wut stieg auf in ihm gegen den Menschen, der Schuld trug an ihrer Angst und der Schuld trug an dem ungeheuren Lügenfaden, den Thedor Kegel nun spinnen mußte. Oder sollte er dem armen Kind die Wahrheit sagen? Aus großen Augen, unwissend wie Tautropfen, sah sie ihn an – sollte er die gräßliche Nacht schildern, die er durchwatet hatte, zwei, drei, sechs Stunden zwischen bunten Papiergirlanden, angetrunkenen Männern, bemalten Weibern, Zigarettenstummeln, schlechten Weinresten und heiserer Maschinenmusik? Nein! Thedor log. Er log, während Agnes Kaffee kochte, er log beim Kaffeetrinken, und als er den Rolladen aufzog, log er immer noch, mitten hinein in das helle klare Morgenlicht. Bis zu dem Augenblick behütete der alte Vater sein Kind mit Lügen vor der Welt, als er die Reisetasche wegtragen wollte. Agnes faßte den Griff: »Nicht. Das mach' ich.« Erstaunt wog sie die Tasche in der Hand: »Die ist aber leicht!« Und sie öffnete die Tasche: »Aber Vater, da ist ja gar nichts drin!«
»Wie? Drin? Drin ist nichts. Natürlich nichts.«
»Natürlich nichts, sagst du?«
»Ach, du meinst die Seife und das Haarwasser? Das wird doch geschickt. Mit der Post. Sollte ich mich etwa schleppen damit?«
47 »Aber weswegen dann die ganze Reise und das viele Geld und meine Angst, Vater?!«
»Angst?« – er nahm sie in seine Arme – »Ja, Angst. Um dich, Agnes.«
Sie lachte. Da hatte Thedor Kegel nun endlich mit der Wahrheit begonnen, und die brachte seine Tochter zum Lachen. Thedor kam auch nicht weit mit der Wahrheit. Es klopfte, und der andre Reisende erschien im Barbierhaus. Die Geigenstunde begann.
Andreas gehörte nicht zu den Musikanten, die strebsame Schüler gute Lehrer nennen. Zuweilen konnten die Anfänger glauben, Andreas nähme Übungsarbeit gar nicht ernst. Mit einem halb verlegenen Lächeln bewegte er sich zwischen dem Röhrenwerk der Lernbarkeiten. Aber manchmal, wenn er dem Üben kaum zu folgen schien, brachte er plötzlich durch einen Seitenblick, eine Handbewegung, einen Ruck an der Geige, durch ein paar schlechtgesungene Töne das dunkel schreckende Gefühl auf für die nicht lernbaren Gewalten in der Musik. Das nie Übertragbare blickte zuweilen aus seiner Natur.
Heute war Andreas ganz in sich verfangen. Er lehnte am Schrank. Agnes stand dunkel gegen das Fensterlicht wie ein Bild und spielte. Er verbesserte wenig, und wenn er dies oder jenes sagte, blieb sein Auge unbeweglich auf dem Schattenbild ihres Kopfes haften. Verzagt sah sie ihn ein paarmal langsam den Kopf schütteln. Mache ich's so schlecht? dachte sie.
Agnes hielt endlich den Bogen still: »Was habe ich falsch gespielt?«
»Hm hmm . . .« summte Andreas – ein paar ineinanderlaufende undeutliche Töne – er nahm ihr versonnen die 48 Geige aus der Hand – staunend hörte sie ihn ein Stück spielen, das gar nicht auf dem Notenpapier stand. Er lehnte am Schrank, geigte, sah sie unverwandt an – ein maßlos schweres Stück spielte der Mann: auf düster wirrem Grund glänzte zuweilen ein liedhafter Gang, wie die Keuschheit leuchtet über der Lumpengasse auf Erden –
»Was spielen Sie denn?«
»Dich.«
Agnes sah ihn groß an.
Andreas schien nicht gewußt zu haben, was er sagte . . . da glänzte wieder das Lied . . .
Mitteninne riß es ab. Die Türklinke hatte geknackt. Der alte Kegel stand auf der Schwelle. Ebenso plötzlich hatte ihn Andreas vor ein paar Stunden erst auftauchen sehen – in der Lumpengasse. Jetzt hatte die Erinnerung an Schurchs schreckliche Erzählung vom Wesen des Geigenunterrichts den armen Vater die Treppe hinauf und in Agnes' Kammer getrieben. Gott sei Dank, das arme Kind stand weit entfernt von diesem Menschen am Fenster. »Ach,« sagte Kegel ein wenig verlegen, »du spielst noch, Agnes. Ich dachte, die Stunde wäre aus.«
»Aus,« nickte Andreas und legte die Geige weg, »Sie sind grade in den letzten Ton getreten.« Er gab Agnes die Hand: »Auf Wiedersehn, übermorgen um elf.« Ganz unbefangen sprach er.
Agnes' Schrecken löste sich. Sie lächelte, als sie allein war. Vielleicht trug das Lied, das er gegeigt hat, den Namen »Dich«? Dich . . . Kann denn »Dich« eine Überschrift sein? . . .
»Dich«, summte sie beim Zusammenlegen der Noten und suchte die Melodie in Gedanken. –
49 Der Geiger ging hinter Thedor Kegel die Treppe hinab: »Na? Ist's Ihnen gut bekommen, Herr Kegel?«
»Pst« – der Alte stieß ihn erschrocken an – »wir haben doch ausgemacht, daß nicht drüber geredet wird«, flüsterte er.
Thedor Kegel hatte also unversehens Heimlichkeiten. Die notwendige Übung in der Behandlung solcher giftgefüllten Süßigkeiten fehlte ihm noch. Nicht acht Tage, und Frau Krumbiegel konnte dem entrüsteten Archivrat Mittenzwey ins Ohr sagen: »Der Andreas, der Geiger, der fährt ja gar nicht alleine nach Leipzig« – sie zwinkerte mit den Augen – »Kegels Thedor macht mit.«
Mittenzwey begann sich in seiner ganzen Korpulenz vom Wachstuchsofa zu erheben. Frau Krumbiegel drückte ihn sanft in die kühlen Polster zurück. Der Rat mußte sitzend seinem Zorn Ausdruck geben: »Man wird dem Friseur Kegel bei nächster Gelegenheit bedeuten, daß er ein Jesuiter ist! Erst liegt er mir in den Ohren wegen dieses Geigers Andreas. Dann geht er mit ihm lumpen. In eine Großstadt! Wer es nicht weiß, ahnt nicht, was das heißt. Ich tue mich um nach einem vertrauenswürdigen Lehrer für seine Tochter, ich bemühe mich, ich finde auch diesen vortrefflichen Victor Müller aus Schmiedefeld –«
Hier unterbrach ihn Frau Krumbiegel: »Das weiß der Andreas auch schon. Zu Vollrath'n hat er gesagt: Du lieber Gott – Müllern! Den hat wohl die Krumbiegeln dem Archivrat in der Scherbelschänke angedreht? Hat 'r gesagt.«
Mittenzwey stand nunmehr wirklich auf: »Angedreht? In der – wo?! Von wem – wie?« Unruhig ging der Vorstand des Quartettvereins auf und ab. »Der Kerl 50 spioniert. Der Kerl kritisiert«, murmelte er. »Man muß ihm heimleuchten. Man muß ihm schleunigst heimleuchten . . .«