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Ein Bewohner Leipzigs gehörte nicht zu den Menschen mit freundlichem Gesicht, die Andreas heute entdeckt hatte. Direktor Becker hielt ein zerknittertes Telegramm in der Hand und schritt seit sieben Uhr früh unrasiert im Geschäftszimmer des Museums auf und ab. Er murmelte Unverständliches vor sich hin. Wer aber sein Murmeln verstanden hätte, würde gesagt haben: dieser alte Herr namens Becker, Direktor des Museums für Musikinstrumente, muß ohne Zweifel der bösartigste lebendige Todfeind der Streichmusik sein. Becker stierte von Zeit zu Zeit das Telegramm aus Kranichstedt an, dann die Uhr, und erging sich anschließend in abscheulichen Schimpfworten über Geigen, Geiger und Geigenmusik – – endlich wurde ein Besucher gemeldet!
»Aus Kra – Kranichstedt« – der sonst stets würdevolle Schurch stotterte vor Aufregung. Becker hörte nicht mehr zu, was Schurch noch melden wollte – »Herein mit diesem Subjekt!!« schrie er.
Becker sah das Subjekt eintreten, Becker rieb die Augen . . . entweder hatte ihn die Aufregung dieser drei Tage um den Verstand gebracht – der Dieb aus Kranichstedt . . . oder Becker sah nicht recht . . . der Dieb aus Kranichstedt trug Antlitz und Statur seines alten, ihm stets als ehrenhaft bekannten Freundes Professor Fritz Lichtermark –
»Li – Lichtermark . . .«
»Hahaha! Da sieht man sich endlich mal wieder! Ist doch eine Herzensfreude, Beckerchen! Na, was machen wir denn? Wie geht's? Alles wohl zu Hause? Die liebe Gattin immer noch so frisch und unternehmungslustig? Und s' Töchterchen? Verlobt, wie? Hahahaha.« Lichtermark 175 hatte sich mit einer kugelrund vollgestopften Aktentasche unter dem Arm durch die Tür gezwängt. Hut, Mappe, Schirm legte er auf den Tisch und schüttelte dem völlig versteinerten Becker unbeschwert beide Hände. Immerfort sprechend und lachend, zog er seinen Sommermantel aus, sah sich nach einem Haken um, hing den Mantel schließlich an den Fenstergriff. Helfen konnte ihm Becker nicht. Becker stand hilflos inmitten seines Direktorzimmers und vermochte vorläufig kein Glied zu regen.
Auch der Leser wird erstaunt sein über des alten Lichtermarks geradezu ungeheure Behaglichkeit in einer solchen verzweifelten Lage – der Leser kennt den alten Musikanten nämlich noch nicht genau. Dieser nach einem heftigen ehelichen Zwist ohne Koffer und ohne erstes wie zweites Frühstück von Kranichstedt abgereiste Mann hatte die Stunden auf der Eisenbahn mit der sorgfältigen Erwägung aller Umstände verbracht. Er verstand jetzt des Andreas dunkle Worte über seinen Freund, den Tod. Der Alte wurde gerührt: Musik, die Musik auf einer Stradivari hatte der sich als seinen Abschied von der Erde gedacht. Ein armer junger Mensch, entgleist . . . aber dann tauchte der Agnes erglühendes Antlitz vor seinem Geiste auf. Jetzt sah Lichtermark die Flügel des Todes wie Windmühlenflügel drehen über diesem guten, zarten Kind – oh, traf er den verfluchten Kerl, Lichtermark drasch ihn doch, mitten in der Stadt vor allen Leuten, wie einen aufsässigen Quintaner in der Singestunde! Die arme Agnes! Einem Menschen wie diesem Geiger mochte helfen wer wollte – Lichtermark nicht! Aber der Agnes mußte geholfen werden! Und der Musik! Ja, vor allem der Musik. Dieser heillose Mensch war ja leider wirklich ein Musikant.
176 Zwei Methoden, überlegte Lichtermark, standen zur Verfügung: entweder fiel er mit der Türe ins Haus – etwa so: ein Unglück, konnte er beim Eintreten rufen, ein furchtbares Unglück, lieber Becker! Wie helfen, wie retten wir hier? Oder . . . hm . . . Lichtermark trat zunächst ganz harmlos auf, etwa: die Stradivari? Na ja, lieber Becker. Da ist sie ja!
Der lebenskundige Alte entschied sich für den letzteren Weg. Der erste Pfad roch etwas nach Polizeiwache, nach – um Gottes willen! Bei Anwendung der anderen Methode dagegen ließ sich die Lösung finden wie bei der Komposition einer Sonate, die aus besonderen Gründen ausnahmsweise mit dem Scherzo anfängt.
»Nu sagen Sie bloß, Becker, haben Sie sich mit Ihrer Frau gezankt? Sie sehn ja aus wie –«
»Wie?!« Die Spannung Beckers begann sich zu lösen. Jetzt heißt's aufpassen, dachte Lichtermark. »Wie ich aussehe?! Wie einer, dem vor Sorge und Kummer alle Haare zu Berge stehn!«
»Hahaha! In unserem Alter soll sich der Mensch keine Sorgen mehr machen.« Lichtermark zog heftig an einer Bilderzeitung, die er neben vielem anderem Reisebedarf in seine Rocktasche gestopft hatte. »Ich hätte mich auch beinahe aufgeregt. Sehn Sie sich das mal an, Becker. Wenn man reist, kommt manchmal Langeweile in der Eisenbahn. Kaufst dir das bunte Blatt da; denke ich. Da ist sie. Zwanzig Pfennige.« Zornig fing Lichtermark an zu blättern; jetzt hatte er die Seite, schlug drauf, klatsch: »Nu bitte, Becker, gucken Sie her –«
»Die Stradivari etwa??«
»Was denn, Stradivari! Sehn Sie doch her, hier, der 177 Mann. Wie sieht er aus? Ganz ordentlich, was? 'n bißchen zu fein. Na ja. Aber doch manierlich, könnte man denken. Also: der Mann heißt Vielhaber. Merkwürdiger Name. Aber schließlich, ich heiße ja auch Lichtermark. Soweit ist nichts zu sagen. Beruf? Filmregisseur. Na schön. Die muß es auch geben. Da hilft nichts. Jetzt jedoch hergesehn, Becker!« Der Direktor war immer unruhiger geworden, aber Lichtermark zwang ihn mit geräuschvoller Herzlichkeit, bei der Sache zu bleiben. »Was hat der Mann Vielhaber in der Hand? Noten! Noten, sage ich, Becker!!«
»Zum Teufel, Lichtermark, mit Ihrem Vielhaber –«
»Aber warten Sie doch, Becker, jetzt kommt's ja erst. Was meinen Sie wohl, was dieser Mensch von sich drucken läßt? Er dreht 'n Film – wie heißt der gleich? Richtig, da steht's: Schüsse ins Herz. Ich bitte Sie, Becker, würden Sie sich ›Schüsse ins Herz‹ ansehn? Ich nicht. Sie auch nicht. Überhaupt niemand –«
»Also, Lichtermark, ich erkläre Ihnen hiermit, Ihre Schüsse ins Herz sind mir –«
»Eine Minute noch, Beckerchen!« – Lichtermark begann mit erhobener Stimme die Zwischenrufe des Direktors niederzulesen. »Regisseur Vielhaber stellt in den Mittelpunkt seines neuesten Großfilms die Aufführung eines Quartetts. Um das für die Handlungslinie und die Filmcharaktere bestgeeignete Musikstück ausfindig zu machen, hat sich der in vorbildlicher Aufopferung seinem Werk dahingegebene berühmte Regisseur nicht weniger als neunundzwanzig Quartette hintereinander vorspielen lassen und erst beim dreißigsten das Sprachrohr an seinen Mund gehoben und gerufen: Dieses oder keines!«
»So« – jetzt nahm Becker seinem Freunde die Zeitung 178 aus der Hand, zerknüllte sie, warf das Knäuel, während ihm Lichtermark einen ängstlichen Blick nachsandte, wütend in den Papierkorb und schrie: »Das ist jetzt absolut schnuppe –«
»Ha! Was?! Schnuppe?!« – Lichtermark raffte seine letzten Kräfte zusammen: »Was soll werden aus der deutschen Musik, wenn sogar ein Mann in Ihrer Stellung ›schnuppe‹ sagt zu solchem barbarischen Wüten gegen den Geist der deutschen Musik?! Becker!« – er schüttelte seinen Freund am Arm – »Beckerchen! Sollte man nicht sofort eine Eingabe machen? Einen solchen Mann namens Vielhaber nicht augenblicklich den Behörden übergeben?! Und müßte eine solche Zeitung nicht eingestampft werden? Wie kann auch nur eine leise Ehrfurcht vor dem Schaffen unserer großen Meister dämmern und vor der Heiligkeit der deutschen Musik im Volke keimen, wenn –«
»Wenn – jetzt rede ich! Nein, Ruhe jetzt!! Kein Wort mehr, Lichtermark! Wenn, wiederhole ich, wenn die Stradivari in meinem Museum auf rätselhafte Weise verschwindet und nach zwei Tagen ein Telegramm in der Museumsdirektion einläuft: Stradivari im Laufe dieses Tages wieder an ihrem Ort. Und wenn – es tut mir leid, Lichtermark, wenn ich Ihnen als Kranichstedter diesen Schmerz antun muß – wenn dieses Telegramm aus Kranichstedt kommt?!«
Lichtermark war gleich bei den ersten Worten Beckers ans Fenster getreten. Er sah sich die Aussicht an, beugte sich ein wenig mehr nach links, daß er auch den äußersten Bildrand zu Gesicht bekam: »Ach so«, begann er und genoß die Aussicht, »von der Sache reden Sie, Beckerchen. Ist denn der Andreas noch nicht hier gewesen mit der 179 Stradivari? Er wollte sie doch um diese Stunde bei Ihnen abgeben. Meine Geige spielt er auch. Guter Geiger. Ein wunderbarer Geiger, Becker. Das tut den Instrumenten gut, so mal von einem Meister gespielt zu werden. Aus dem Andreas wird noch ein großer Musikant. Andreas – merken Sie sich den Namen, Becker, und denken Sie später an mich. Eine wahre Seele von Musik lebt und webt in diesem – diesem Geiger.« Lichtermark machte jetzt das Fenster auf, um die Aussicht ohne störende Fenstersprossen vor sich zu haben. »Sie haben einen schönen Blick aus Ihrem Arbeitszimmer. Nein, wirklich, ohne Schmeichelei. Der Rathausturm dahinten. Und im Sommer das schöne Baumgrün im Hintergrund. Jetzt ist's ja noch 'n bißchen kahl. Aber dafür labt sich das Auge an dem Rasen da im Vordergrund. Gehören die Teppichbeete eigentlich mit zum Museumsgelände? Reizend, diese Gartenanlagen. Alles was recht ist, die haben Sie sehr geschmackvoll angelegt, Becker.«
Der Direktor war nach seinen eigenen Worten zunächst im Zimmer herumgelaufen. Die Worte Lichtermarks über den Geiger Andreas hatten ihn getroffen, als er grade wieder am Schreibtisch vorbeikam. Becker sank in den Sessel . . . Becker starrte die umfängliche Rückseite seines Freundes an . . .
Lichtermark studierte immer noch die Fernsicht, als er leise seinen Namen hinter sich sagen hörte. Er wandte sich um: »Wie meinten Sie, Becker?«
»Lichtermark, haben Sie – aber ich habe mich wohl verhört – haben Sie eben sowas Ähnliches gesagt wie: Sie kennen den Dieb?«
»Dieb?? Einen Dieb? Becker, ich habe doch keine Bekanntschaft mit Dieben!«
180 »Sie haben doch eben gesagt –«
»Ich habe –«
»Ist der Mensch, den Sie Andreas nennen, ist das derselbe Andreas, der mir diese Depesche geschickt hat? Ja oder nein! Wenn ja, kann kein Zweifel bestehen, daß dieser Ihr Freund die Stradivari gestohlen hat!«
»Aber Diebe depeschieren doch nicht, Becker!«
»Verdammt, das weiß ich nicht. Ich habe jedenfalls keine Stradivari mehr. Aber eine Depesche dafür, Lichtermark!«
»Die Geige werden Sie ja auch gleich haben – steht in der Depesche!«
»Gleich? . . . Lichtermark, ich kenne Sie als einen Ehrenmann. Zeitlebens haben Sie eine weiße Weste gehabt« – Lichtermark klopfte bei dieser Anerkennung auf seinen Bauch, den heute zwar nicht eine weiße, sondern eine schwarze und von seiner Gattin mit roten und grünen Pünktchen bestickte Weste schmückte; in der Eile hatte er dieses für den heutigen Zweck etwas zu festliche Kleidungsstück gefaßt – »Und Sie sind ein besonnener, ein verständiger Mann. Lichtermark, begreifen Sie denn die Sache nicht? Ich habe in meiner Eigenschaft als Museumsdirektor eine Stradivari zu hüten. Aus des Meisters bester Zeit. Sechzehnhundertzweiundneunzig! Ohne den leisesten Sprung im Holz. Nicht ausgeschabt. Ein einmaliges Stück. Unter Nummer achthundertdreiundvierzig katalogisiert. Und, Lichtermark, da kommt ein Kerl – kein Mensch weiß wie, wann und womit – und stiehlt diese Geige.«
»Nicht stiehlt, Becker –«
»Stiehlt! sage ich. Und schickt eine Depesche, gleich käme die Geige wieder.«
181 »Daraus sehn Sie doch, daß er die Geige nicht in seinen Besitz bringen wollte –«
»Ja, mein Gott, was wollte er denn sonst?!«
»Geigen. Das ist's ja, Becker. Geigen! Er wollte die Geige bloß geigen.«
»Schockschwerenot, Lichtermark, verwalten Sie mit solchen perversen Grundsätzen ein Museum!«
»Aber das ist doch alles ganz anders. Jetzt hören Sie mal eine Weile zu.«
Lichtermark begann die ganze Geschichte der Reihe nach zu erzählen. Mit den Worten: Ein zu Tode betrübter Geiger verläßt nach dem Unglücksfall das Künstlerzimmer des Gasthofs zum Lamm, fing er an – alle Einzelheiten brachte der Alte ans Licht. Als er von der Stradivarimusik in der Nische sprach und gar von dem Konzert im wilden nächtlichen Wald auf diesem unersetzlich kostbaren Instrument, hatte der entsetzte Becker das deutliche Gefühl, die wenigen Haare auf seinem Haupt ständen auf, elektrisch geladen, stießen sich kribbelnd ab – aber der Professor sprach zu Ende. Er sprach wie ein rührend geschriebenes Buch. Und mehr konnte Lichtermark nicht von seiner Erzählung verlangen, als daß der Direktor endlich nachdenklich den Kopf schüttelte und sagte: »Aber zu entschuldigen ist das doch nicht. Depeschiert hat er erst nach zwei Tagen.«
Da legte ihm Lichtermark die Hände auf die Schultern: »Zu entschuldigen? Nein, Becker. Einfach entschuldigen? Niemals, Beckerchen. Aber sehn Sie mal, mit den Künstlern ist das doch ein Jammer. Vom Himmel sollen sie uns die Sterne holen, und ihre Steuernummer sollen sie auch im Kopf behalten dabei. Bringen sie nicht, was vor ihrem Schaffen nie dagewesen ist auf Erden, so sind sie Nichtse. 182 Verwischt sich ihnen aber auf ihrem furchtbaren Wege aus Gottes Herz in unser Herz hinein die irdische Verkehrsordnung, so winken die Leute nach dem Schutzmann. Nicht jeder Meister, den sie vor Gericht zitieren deswegen, trifft eine Ildewig unterwegs. Die Ildewig, Beckerchen – ich habe sie heute früh gegen fünf in meinem Arbeitszimmer zum erstenmal in meinem Leben aus der Nähe gesehn, zart und hold und Tautropfen auf dem Blätterkelch – Becker, ich bin ihr Advokat! Und ich frage Sie: die Ur- und Grundtugend eines Mannes, dem ein Kunstgut anvertraut ist – wie heißt die? Die heißt Geduld! Geduld, Becker und abermals Geduld!« Plötzlich mußte der Alte die Windmühlenflügel haben rauschen hören zwischen seinen Worten, er richtete sich auf und schrie: »Ein Kreuz ist es und eine wahre Not! Jetzt schaffen sie, Tag und Nacht, und essen und trinken und schlafen nicht, leben ungesunder als die Schwefelbrenner – und jetzt richten sie Unheil an im Leben oder sie stehn da, dumm, gaffen in die Luft, machen alberne Späße, daß man denkt: wer sind die Tröpfe? Und während man's noch denkt, strömt schon wieder Gottes Odem durch sie hindurch. Oh, Becker, ich weiß schon – den Gehstock müßte man nehmen manchmal und sie zur Raison bringen. Aber sehn Sie, Becker, Sie holen aus mit dem Knüppel – da, wie unsereiner die Augen auf- und zuschlägt, da hat in dem Augenblick der Kerl auf den Zeitungsrand einen Übergang aus: a-moll in A-Dur geschrieben, daß einem die Tränen über die Backen laufen. Geduld, Becker! Ich weiß nichts besseres. Wenn der Erzbischof Colloredo Geduld gehabt hätte, ein bißchen Geduld nur, und ein Wegsehnkönnen von sich selber, dann würde sich heute Salzburg ohne Hefegeschmack auf der Zunge die 183 Mozartstadt nennen. Jaja, mein Lieber, die Franzosen sagen: la patience allemande, und die Deutschen haben auch das Weltbuch der Geduld geschrieben! Die Kudrun haben sie gedichtet! Lesen Sie's mal wieder, Beckerchen. Die Augen gehen Ihnen über. Wer mit Kunst zu tun hat: Geduld. Ich weiß: das klingt einfach und ist verdammt schwer. Aber keine Macht der Welt überwindet die Geduld, nicht einmal so ein Künstler, aus Erde gemacht wie wir, aber doch nur scheinbar lebend und webend in den viereckigen Schachbrettfeldern der öffentlichen Wohlfahrt, ohne die wir eben leider kein Leben führen können, wenn das Chaos nicht einbrechen soll. Geduld. Laßt die Nerven nicht reißen! Hütet die Substanz, Kinder! Die heilsamen Gewässer sammeln sich auch unsichtbar tief im Dunkel der Erde – wer will prophezeien: Hier bricht die Quelle hervor oder da und heute entspringt sie oder übermorgen? In einer gnadenreichen Stunde quillt der Segen ans Licht, wir brauchen ihn nur aufzufangen und zu bewahren vorm Verrinnen und Verderben – wenn wir den Segen zu erkennen vermögen, Beckerchen. Geduld – das Große und Neue im Geist kommt ja auch nicht mit Donnerkrachen an auf Erden. Das steht ganz stille in der Masse des Gewöhnlichen und Künstlichen mitten drin, klärlich und selbstverständlich, als hätte 's da immer schon gestanden. Und die nach dem Neuen riefen, haben oft gar nicht gemerkt, daß es längst da war, nur nicht nach ihren Gedanken gewachsen, sondern nach dem Maß der Seele, wie sie derzeiten webte in ihrer eigenen Wahrheit. Geduld, ach ja, 's ist manchmal wirklich schwer. Zu jeder Zeit hat der Mensch die Hand ans Ohr gelegt und gehorcht, ob nicht irgendwo Musik nach seinem Herzen erklänge, und mancher, wenn das Unerwartete 184 ertönte, hat in Kranichstedt und in Leipzig und in den sonstigen Ortschaften zu den Künstlern gesagt: 's ist nischt mit euch, und wer ungeduldig war, setzte hinzu: ihr bringt eben das Beste nicht zutage. Zutage – Schwerenot! Als ob eine Zeit ihre eigne neue Sprache als etwas Besonderes heraushören könnte – bis auf ein paar Leute mit besonderen Ohren wie wir beiden, Beckerchen. Weil sie die wahre Sprache ihrer Zeit ist, deshalb eben ist sie ihr natürlich und selbstverständlich! Geduld« – Lichtermark wischte den Schweiß von der Stirne– »'s ist schon gut und segensvoll, wenn's auch eigentlich sehr traurig ist, daß das schöpferhafte Neue nur von wenigen bemerkt im Gedränge zu sich selber kommen muß. Sonst wären ja auch die Weltschöpfungen der Kunst nicht das Weltgericht ihrer Zeit, die Kunst käme nicht aus Gottes Geist, sondern sie wäre gemacht aus Menschenwitz und Intellekt, und wir könnten die Werke backen nach unserem Geschmack – aber die Neunte, Becker! die hat nicht einmal Beethoven selber ändern können, wenn er's gewollt hätte, und seine Missa hat er solange nach dem Termin fertig gehabt, daß sich die verzweifelten Leute eine andre besorgen mußten: bei einem zuverlässigen Komponisten, der sein Wort hält – ach Becker!!«
Wenn Lichtermarks nächster Freund, der alte Pastor Arcularius in Kranichstedt, diese Rede mit angehört hätte, dem wäre der Mund aufgegangen und offen stehengeblieben, wenn nicht vor Neid, so vor Staunen, denn gewöhnlich brummte Lichtermark nur, und jetzt stand er in der Mitte des nüchtern im Klinikenstil gebauten Direktorzimmers wie eine Flamme und predigte nicht wie die Pharisäer und Schriftgelehrten, sondern wie einer, der die siebzigjährige runzlige Hand sorgenvoll über ein Keimblatt hält und den 185 Nordoststurm zur Umkehr in sein ewiges Eis überreden will. Und die lange Rede gelang. Lichtermark rang seinem Freunde Becker die zwei Stradivaritage ab. »Beckerchen, was sind denn zwei vergeigte Tage!«