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Das Quartett in Kranichstedt litt an Geldmangel seit seinem Bestehen. Die Kranichstedter liebten Musik, aber sie hatten viele Abhaltungen. Immer dringender legte der alte Professor Lichtermark dem Vorstand des Quartettvereins ans Herz, die schwierige Lage durch eine zeitgemäßere Mitgliederwerbung zu erleichtern. Dieser Vorstand, der Archivrat Mittenzwey, tat auch alles, was in seinen Kräften stand. Schon der Anblick seiner Persönlichkeit wirkte ein wenig bedrückend auf die Nichtbesucher der Quartettabende, besonders im Winter, wenn der Rat den Pelz über den Bauch gespannt und eine Fellmütze aufgesetzt hatte. Obschon Kranichstedt diesen mächtigen Bauch mit Hilfe des Gerüchtes zu erklären suchte, Mittenzwey nähme in etwas abgelegenen Wirtschaften ganz im Stillen starke und fettansetzende Getränke zu sich, trotz dieses Argwohns konnte niemand behaupten, den Archivrat in den gewohnten Tages- und Abendstunden anders gesehen zu haben als würdig gradauswandelnd und das strenge Antlitz ruhevoll in die Kinnwulst gebettet.
Dieses achtunggebietende Äußere des Vorstandes hatte dem Ansehen des Quartettvereins sehr genützt, aber die musikalische Last ruhte allein auf Lichtermarks Schultern. Mittenzwey verstand wenig von Musik; er hätte einem Kunst- oder Leseverein gleichermaßen zur Zierde gereicht. Ganz ohne vorgesetztes Gutachten mußte sich Lichtermark plagen: er stellte werbekräftig abwechslungsreiche 8 Programme auf, er bot selten gehörte Musik, versuchte die Kranichstedter hin und wieder auch mit leicht eingänglichen Kompositionen zu locken. Jedoch die Mütter erwachsener Töchter fragten, was es helfen solle, wenn das Kind zwei Stunden stillsitzen muß und lediglich von hinten gesehen wird – und es gab viele Mütter erwachsener Töchter in Kranichstedt. Die Väter unmündiger Kinder aber erklärten, sie brauchten Entspannung und verfügten sich ins Lichtspielhaus – und es gab viele Väter in Kranichstedt, die Entspannung brauchten. Mittenzwey mußte sich also wiederholt zum Äußersten entschließen und die Eintrittspreise senken.
Nun bestand aber das Quartett nicht durchweg aus bemittelten Musikanten. Lichtermark selbst spielte die Bratsche. Er lebte von seinem Gehalt als Gesanglehrer am Gymnasium und vermochte auch die heißen Monate des Jahres, in denen sein Verbrauch an Moselwein nicht unbeträchtlich anstieg, ohne Nebeneinnahmen leidlich zu überstehen. Auch der Erste Geiger, Herr Vollrath, konnte sich als hinreichend besoldeter Organist an der Marienkirche schlecht und recht durchschlagen. Den Cellisten jedoch, Herrn Aschenbrenner, drückte der Schuh gelegentlich ganz erheblich. Und mit dem freien Berufsmusiker Andreas, dem Zweiten Geiger, war es ein Jammer. Aschenbrenner verdiente immerhin noch ein paar Mark als Hilfslehrer für Gesang an der Hilfsschule. Andreas aber war, steuertechnisch betrachtet, eigentlich gar nichts. Überhaupt stellte er körperlich recht wenig vor. Diese Zweite Geige erfreute sich durchaus nicht der kernigen Gesundheit, welche der Ersten Geige, der Bratsche und dem Cello das Dasein erträglich und bisweilen sogar zum Genuß machte. Das bedrängte Quartett erwog schließlich zu 9 Andreas' Gunsten eine Senkung der Selbstkosten. Aus allgemeinen Werbegründen konnte Mittenzwey das große Jahresfestessen weder in seiner Beschaffenheit mindern noch gar streichen, aber Lichtermark erbot sich zum Beispiel, die bisher gedruckten Programme selber mit der Maschine auf wohlfeiles Papier zu schreiben. Leider scheiterte dieses Vorhaben an dem Einspruch des Buchdruckers, der dem Quartettverein für den Fall einer solchen Sparmaßnahme kurzerhand mit seinem Austritt drohte.
Als Geigenlehrer hielt sich denn Andreas mühsam über Wasser, und Lichtermark, der als nebenamtlicher Glockenprüfer vieler Menschen Städte kannte, empfahl ihn in allen besseren Häusern der Provinz aufs wärmste. Der Alte wußte wohl: einen solchen Geiger bekam das Quartett nicht wieder. Den Kranichstedtern nicht – aber dem Professor Lichtermark fiel die drangvolle Kunst dieses blassen jungen Menschen wie ein Gewicht auf sein Musikantenherz, wenn Vollrath einmal unpäßlich war und Andreas die Erste Geige in der Probe übernahm: ein Fall, der selten eintrat – Vollraths Gesundheit wurde bereits rühmend hervorgehoben. Als nun dem guten Lichtermark einfiel, Andreas die geborene Erste Geige zu nennen, bedeutete ihm Mittenzwey unter vier Augen: »Sie sehen es zu sehr vom rein Musikalischen an, Bester; denn vom Ganzen aus betrachtet: der Organist Vollrath hat eine ausgebreitete Verwandtschaft im Ort. Vollrath auf die Zweite Geige setzen hieße, das Musikleben Kranichstedts aufs schwerste gefährden« – und Mittenzwey wies an Hand einer Liste der Stammsitzmieter ein für allemal nach, daß der mögliche Austritt des Vollrathanhanges für den Quartettverein schlechthin untragbar war.
10 Also Stunden geben! Andreas gab Stunden in Esperstedt, in Besenroda, in Ettersfelde – überall, wo in der näheren oder ferneren Umgebung Kranichstedts ein beunruhigtes Menschenkind auf den Gedanken kam, mit Hilfe der Geige die andre Welt schon hier auf Erden zu suchen, da erschien Andreas und gab den nötigen Unterricht. Fünf Mark die Stunde. Man kann sich denken, daß nicht allzuviel Leute wöchentlich fünf oder zehn Mark für einen solchen Zweck auswarfen. Einer aber saß in jedem Ort, an manchen Plätzen saßen auch zwei. Leider lebte keiner in der nächstgelegenen Großstadt, der den Andreas zu sich rief: Leipzig verfügt natürlich innerhalb der eigenen Mauern über angesessene namhafte Meister auf allen Instrumenten.
Aber trotzdem und ungerufen reiste Andreas in kurzen Abständen nach der alten Kantorenstadt, und Kranichstedt hätte gerne gewußt, was der Zweite Geiger dort eigentlich zu suchen habe, denn – merkwürdig – er nahm nie seine Geige mit. Daß er in Leipzig geboren war und zuweilen die Straßen der Kindheit wandeln mußte, erklärte noch nicht die Regelmäßigkeit dieser Fahrten. Erst eine gute Weile später erfuhren die Kranichstedter unter schweren inneren und äußeren Aufregungen, was es gewesen war, das diesen Mann gewaltsam nach Leipzig gezogen hatte: vom Hauptbahnhof eilte er ohne links oder rechts zu sehen über Plätze, durch Straßen, dann über Treppen und Gänge und wieder über Treppen und Flure in den Saal, der die Sammlung der historischen Musikinstrumente barg. Achtlos ging er vorbei an Spinetten, Cembalos, an Oboen und Gamben, um wie angenagelt stehenzubleiben vor einem Glaskasten, in dem auf einem altitalienischen Sammetstreifen eine Geige lag . . . »Antonius Stradivarius, Geigenbauer in Cremona, 11 1692« stand auf dem Zettel. Nicht zu jeder Zeit war diese Stradivari hier zu sehen. Ein frischer Staubhauch von Kolophonium zwischen Steg und Griffbrett zeigte, daß sie zuweilen namhaften Geigenmeistern zum Spielen anvertraut wurde. Jetzt aber lag sie stumm auf Sammet und hinter Glas, und ihr Anblick erschütterte nicht nur Musikanten: auch ein Bildhauer muß tief erstaunt stehenbleiben vor diesem wunderbaren plastischen Werk. Jungfräulich herb schmiegt sich das köstliche Holz um ihren Körper, den freilich kein menschliches Auge erblicken kann: um ihren Hohlraum spannt sich die tiefschimmernde Haut, um ein körperliches Nichts, um Luft nur, um geformte Luft – ja, um ihr Geheimnis. Die Gestalt dieser Geige saugte Andreas mit seinen Augen in sich, ihre Seele hörte er in seiner Seele widertönen: er war wirklich ein Geiger. Er hörte den ungespielten Klang so deutlich, wie ihn der Schöpfer dieser Geige vernommen hatte, ehe die Geige geschaffen war; denn jener Meister Stradivari vernahm erst den Klang in sich, und dann hat er auf diesen nur ihm vernehmbaren Klang zu die Hölzer gebogen, gestreichelt und geschnitzt – wie von jedem lebendigen Werk erst die Seele im Dasein ist und dann der Leib. Andreas sah die Spiralen der Schnecke an, in die der Geigenbau mündet: frei zu schweben schienen sie, Tonwellen, die am Ende in königlichem Schwung zurückkehren in die Kraft, die sie erregte. Er fühlte die Innenseite seines Daumens an den Geigenhals sich schmiegen. Seine vier Spielfinger bogen sich, hämmerten, glitten in die Lagen – Andreas fühlte sich die Stradivari spielen.
Der Aufseher Schurch war ja allerhand Besucher in diesem Saal gewohnt – Musikanten sind seltsame Leute – aber wenn er diesen Mann da in seinem fadenscheinigen 12 Anzug und mit schiefen Absätzen vor dem Glaskasten stehen und geigen sah mit leeren Händen, nahm Schurch eine Prise mehr; denn Andreas spielte auf der Stradivari lange Stücke. Halbe, ganze Stunden stand der Verliebte vor seiner Geliebten, und die Luft Gottes geigend, erlebte er sie in ihrem gläsernen Sarg. Manchmal setzte er auch die unsichtbare Geige ab und starrte wieder eine Weile das holzumschlossene Geheimnis an, folgte fast verzagt mit seinen Augen der unfaßbar kargen, dieser in aller Wahrheit keuschen Form des Resonanzholzes, welches tief bernsteinrot schimmernd das dichte Zellgewebe jenes Tannenholzes durchscheinen läßt, wie es vorzeiten auf den mageren Alpenhängen der Lombardei gedieh. Und wie gerne hätte Andreas das Ahornholz der Zargen und des Halses gestreichelt, das der Cremoneser Meister weither aus Dalmatien und aus der Türkei verschrieb, das er sondernd durchforschte, von hundert Ahornstücken das eine wählend, welches eben nur Stradivari erkannte als fügsam dem gewollten Klang. Andreas sah diese in unendlicher Sorgfalt ineins gefügten Holzblätter mit Augen und hörte mit Ohren ihre Musik: den reinsten Erdenklang, den Sopran des Knabengesangs der E-Saite, bis zum G-Saitenton, der, dem Horn verwandt, aus einer unbekannten Ferne heranzukommen scheint auf langen, langsamen Wellen.
Als ob Andreas vom Wein käme oder zu einer Frau wollte, irrte er dann durch die Straßen um die Thomaskirche und wußte nicht, wo er ging. Endlich wachte er seufzend auf, sah sich um . . . wohin wollte er doch? Allmählich fiel's ihm ein: E-Saiten kaufen. Er suchte das Geschäft, sah den Verkäufer die zärtlichen Ringel auf den Ladentisch legen. Andreas schüttelte den Kopf: »Stahlsaiten bitte.«
13 Stahlsaiten halten länger. Andreas mußte sparen. Oh, er fühlte in den Nerven seiner Fingerspitzen der linken Hand diesen verfluchten harten Draht. Stahl, Draht, Stahldraht . . . in der Campagna und auf den Hügeln hinter Neapel, da weiden Schafe auf dem Gras, das nur dort wächst in der Sonne, die nur dort scheint. Aus den Därmen ihrer Lämmer können Saiten gedreht werden, römische Saiten, weinfarben hell durchscheinend – solche Saiten konnte sich Andreas nicht kaufen. Wozu auch. Seiner Geige tat ein Stahldraht nicht Schaden. Er liebte diese Geige nicht, ja, er konnte sie zuweilen hassen. Aber Andreas war ein armer Mann. Er mußte froh sein, daß er überhaupt ein Instrument besaß, mit dem er sein Brot verdienen konnte. Der Ton dieser Violine trug nicht, es fehlte ihr an Gesang – mehr als an Ton und Gesang: die Seele fehlte ihr wohl. Sie gab nicht heraus, was er ihr anvertraute. Seine Kunst verschwand in dieser Geige wie eine Dichtung oder ein Bild oder eine Idee in einem undankbaren Volke. Auf der unerreichbaren Stradivari in ihrem Kristall konnte Andreas spielen im Geiste, sie erklang ungespielt in ihm. Aber diese Dutzendvioline preßte ja beim Geigen ihre kleine Tonwirklichkeit zwischen Beethoven und sein Herz! Gestern hatte er für sich gegeigt in seiner Kammer, immer dieselbe große Stelle aus dem Beethovenschen Violinkonzert, und plötzlich hatte der arme Mann die Geige am Griffbrett gepackt mit der Faust, drohend gegen das Notenpult gehoben – mit der eignen anderen Hand war er dem Streich des Jähzorns grade noch zuvor gekommen . . . Ja, Andreas haßte diese Violine so, wie nur ein Mann ein Weib hassen kann, deren falsche dünne Stimme Stunde um Stunde, Tag um Tag, Nacht um Nacht den Gesang seines vollen 14 Herzens verdirbt, ob dieses Weib an äußerer Gestalt auch den schönen Frauen ähneln mag. Die Stradivari war ein Traum: wenn Andreas wenigstens eine der guten Geigen besessen hätte, wie sie auch heute noch in mancher Werkstatt gebaut werden, freilich oft anders gebaut, als der große Meister in Cremona seine Werke schuf aus ein wenig Holzspan – Andreas nickte – gestern hatte er in einer Zeitung gelesen, daß die Produktion der Streichinstrumente nach Ausweis der Leipziger Messe in einem großartigen Aufschwung stände – wieviel Geigen waren's im Jahr? Achtundvierzigtausend oder sechzigtausend? – und eine trefflich fein durchdachte Arbeitsteilung ließ den einen Mann nur Resonanzdecken machen, den andern nur Hälse oder Stege, aber jedes Teilstück nach einem Modell Stradivaris! Haargenau stellt die moderne Meßtechnik die feinsten Schwingungen der Plastik, der Holzdicken fest. Täuschend kann eine Stradivari kopiert werden. Nur klingen die nachgemachten Geigen nicht wie das Vorbild. Am Lack liegt es. Dieser Lack! Warum hat der zweiundneunzigjährige Alte in Cremona nicht ein Zettelchen mit dem Firnisrezept hinterlassen! Dann gäbe es fünfzig-, sechzigtausend Stradivaris auf der nächsten Leipziger Messe. Andreas grübelte: Lack? Oder sollte der so zuverlässig fühlende Mikrotaster, vom geschmeidigsten technischen Intellekt bewegt, bloß deshalb Stradivaris Ton nicht noch einmal wiederholen können im Weltall, weil jener Ton in Stradivaris Seele erklungen ist, ehe er ihn hat umbauen können mit Holz? Warum ist alles Echte unwiederholbar? Obgleich wir es doch vor uns sehen mit Augen, fassen können mit Händen und nur nachzumachen brauchen?
15 Aber was wollte Andreas denn! Eine Geige wie die in jenem Museumssaal? Eine halbe Million wert oder eine viertel doch? Er war froh, daß er wenigstens wußte, wie er heute abend zu einem warmen Essen kam.