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Wenn du Beschäftigung willst, so gehe nach London.
Der erschöpfte Knabe erwachte wieder und nahm sein unfruchtbares Geschäft, Nahrung und Beschäftigung zu suchen, wieder auf. Der Tag war schön, und Joey schlich matt, trostlos und hungrig durch den Saint-James-Park, um wenigstens in den Strahlen der Sonne einige Wärme zu holen. Auf den Bänken saßen mehrere Personen, aber trotz seiner Schwäche wagte er es doch nicht, sich ihnen zu nähern. Nachdem er geraume Zeit auf- und abgewandelt und dabei vergeblich zu den Gesichtern der Vorübergehenden nach Mitleid aufgeblickt hatte, fühlte er, daß ihn die Beine nicht länger tragen wollten. Die Verzweiflung machte ihn kühn, und er näherte sich einer Bank, auf welcher nur eine einzige Person saß. Er stützte zuerst bloß seinen Arm auf die Lehne, nahm aber, da er von dem Sitzenden nicht bemerkt zu werden schien, schüchtern an dem andern Ende Platz. Sein Nachbar war ein Mann, der ein Morgenkleid nach militärischem Schnitt und eine schwarze Halsbinde trug. Er hatte reine Handschuhe an und ein dünnes Rohr in der Hand, womit er, augenscheinlich in tiefen Gedanken, Kreise in den Sand zeichnete. Er mochte gut sechs Fuß hoch sein und vereinte in seinem Bau Kraft und Ebenmaß. Sein Gesicht war merkwürdig schön, sein dunkles Haar von Natur gelockt, und sein Backen- und Schnurrbart (denn er trug diese militärischen Anhängsel) augenscheinlich ein Gegenstand angelegentlicher Pflege und Sorgfalt. Aber, obgleich von der Natur so sehr begünstigt, müssen wir doch bemerken, daß Leute, die sich in den ersten Zirkeln zu bewegen gewohnt sind, etwas an ihm vermißt haben würden, was für einen fein gebildeten Gentleman unerläßlich ist. Seine Haltung und seine Bewegungen waren zwar nicht unelegant, aber doch fehlte es ihm an einem gewissen Takt. Seine Verbeugung war nicht ganz die eines Mannes von Rang, und obgleich die vorübergehenden Kindermädchen zu sagen pflegten: »Himmel, welch ein schöner Gentleman!«, so beschränkte sich doch diese Bemerkung im Munde der höheren Klassen auf ein einfaches: »Welch ein schöner Mann!« Was sein Alter betraf, so mochte er etwa fünfundvierzig – vielleicht auch etwas mehr zählen. Nach einer Weile gab er seine mechanische Unterhaltung auf, wandte sich um und bemerkte an dem Ende der Bank den kleinen Joey. Mochte ihn nun eine bloße Plauderlust anwandeln, oder hielt er es für anmaßend, daß sich unser Held mit ihm auf die gleiche Bank setzte, kurz, er redete ihn an.
»Ich hoffe, Du bist wohl, kleiner Mann, aber wahrscheinlich hast Du Deinen Auftrag vergessen?«
»Ich habe keinen Auftrag, Sir, denn ich kenne hier niemand; auch bin ich gar nicht wohl, denn ich fühle mich halb ohnmächtig und sterbe beinahe vor Hunger«, versetzte Joey mit zitternder Stimme.
»Ist das wirklich Dein Ernst, Knabe, oder willst Du mich zum besten haben?«
Joey schüttelte den Kopf.
»Ich habe von vorgestern Morgen an keinen Bissen mehr über die Lippen gebracht und bin jetzt schwach und krank«, entgegnete er endlich. Der Fremde sah unserem Helden ernst ins Gesicht und gewann aus diesem Blicke die Überzeugung, daß der Knabe die Wahrheit gesprochen hatte.
»So wahr ich selig zu werden hoffe«, rief er, »da dürfte ein bischen Brot und Butter gar nichts übles für Dich sein.«
»Hier«, fuhr er fort, indem er seine Hand in die Rocktasche steckte, »nimm diese paar Kupfermünzen, und siehe zu, daß Du etwas in Deinen kleinen Magen kriegst.«
»Ich danke, Sir – danke Ihnen herzlich, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, denn ich kam erst vor zwei Tagen nach London.«
»So folge mir, so schnell Dich Deine Spazierhölzer tragen können«, erwiderte der andere.
Sie hatten nicht weit zu gehen, denn ein Mann, der mit heißem Thee und Butterbrot handelte, hatte unweit des Springgartenthores seine Bude aufgeschlagen, und in kurzer Zeit war Joeys Hunger ansehnlich gestillt.
»Fühlst Du Dich jetzt besser, mein Junge?«
»Ja, Sir, ich danke Ihnen.«
»Recht so; und nun wollen wir wieder nach der Bank zurück. Du kannst mir durch Erzählung Deiner Geschichte die Zeit vertreiben. Nun«, fuhr er fort, als er seinen Sitz wieder einnahm, »zuvörderst, wer ist Dein Vater, wenn Du einen hast – und wenn er gestorben ist, was war er?«
»Vater und Mutter sind beide noch am Leben, aber weit von hier weg. Der Vater war Soldat und hat jetzt Pension.«
»Soldat? weißt Du, in welchem Regiment?«
»Ja, ich glaube, im dreiundfünfzigsten.«
»Bei der Allmacht, das ist ja das Meinige! Wie heißt Du – und wie heißt er?«
»Rushbrook«, antwortete Joey.
»Bei allem, was heilig ist, mein Flügelmann. Ist das nicht ein höchst seltsames Zusammentreffen?«
»Ich weiß es nicht, Sir«, versetzte unser Held.
»Wahrhaftig, Dein Vater war der beste Kerl in meiner Kompagnie – der beste Fourageur, der stets gebührende Sorge für seine Offiziere trug, wie es die Pflicht eines guten Soldaten ist. Wenn es einen Truthahn, eine Gans, eine Ente, ein Huhn oder ein Schwein auf zehn Meilen im Umkreise gab, so schaffte er es. Er war ein Bursche für die wilde Jagd. Und nun sage mir (und wohl bemerkt, wenn man mit einem Freunde zusammenkommt, muß man bei der Wahrheit bleiben), was hat Dich veranlaßt, Deine Eltern zu verlassen?«
»Ich fürchte mich, aufgegriffen zu werden –« und damit hielt Joey inne, denn er wußte kaum, was er sagen sollte. Er wagte es nicht, seinem neuen Bekannten das Geheimnis seines Vaters anzuvertrauen, und wollte auch nicht geradezu eine Lüge sagen. Der Leser wird außerdem bemerken, daß er in seiner Antwort teilweise die Wahrheit sprach.
»Aufgegriffen zu werden? Was könnte man wohl einem so kleinen Schnapphahn, wie Du bist, anhaben wollen?«
»Ich habe gewildert«, versetzte Joey, »und der Vater auch. Man hatte Beweise gegen mich, und so floh ich – mit meines Vaters Einwilligung.«
»Gewildert? Nun, das nimmt mich nicht Wunder, denn wenn ein derartiger Hang je im Blute liegt, so muß es bei Dir der Fall sein. Aber was gedenkst Du jetzt anzufangen?«
»Ich will alles thun, was ich kann, um mein Brot zu verdienen.«
»Und was kannst Du denn – etwa das Wildern ausgenommen? Kannst Du lesen und schreiben?«
»O ja.«
»Möchtest Du wohl ein Bedienter werden, Stiefel putzen, Kleider ausbürsten, auf einem Kabriolett hinten aufstehen, Aufträge besorgen, Briefe überbringen und Dein Maul halten?«
»Ich denke, ich kann das alles wohl – ich bin zwölf Jahre alt.«
»Zwölf Jahr bist Du. Wohlan denn, aus Rücksicht für Deinen Vater will ich sehen, was ich für Dich thun kann, bis ich etwas Besseres für Dich finde. Ich will Dich ordentlich herausstaffieren und, was noch mehr ist, Dich auch nicht verlassen, wenn ich nicht verteufelt in die Klemme gerate. Komm also mit! Wie heißest Du mit Deinem Vornamen?«
»Joey.«
»Nun, ich erinnere mich, so hieß Dein Vater auch; und sollte Dich jemand nach dem Namen Deines Gebieters fragen, so kannst Du mit gutem Gewissen darauf zur Antwort geben, daß ich Kapitän O'Donahue sei. Halte Dich nicht so nahe an mich – Du kannst vor der Hand wohl etwas Raum zwischen uns lassen, bis ich Dich ein bischen anständiger herausstaffiert habe.«