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Neununddreißigstes Kapitel.

Enthält ungemein viel Abwechselung – Nöte, Gesetz, Liebe, Händel und Selbstmord.


Der Leser fragt vielleicht, wie sich Emma Philipps und unser Held zu einander standen, denn es waren jetzt vier Jahre entschwunden; während dieser Zeit befand er sich ohne Unterlaß in ihrer Nähe, und durch die Bedeutung, zu welcher er sich erhob, minderte sich allmählich der Abstand zwischen beiden. Wir haben nur zu antworten, daß auch hier die in einem solchen Falle natürlichen Folgen eintraten. Ihre Vertraulichkeit nahm mit jedem Jahre zu, und jedes Jahr steigerte die Hoffnungen unseres Helden, dem eine Verbindung mit Emma nicht länger eine Unmöglichkeit schien. Doch fühlte er noch immer nicht Vertrauen genug zu sich selbst oder zu seinen Glücksverhältnissen, um einen derartigen Gedanken gegen die junge Dame zu äußern, denn die lange gewohnte Achtung und Verehrung hatte ihn in die Lage eines Unterthanen versetzt, der einer ihm wohlwollenden Königin gegenübersteht. Er getraute sich nicht, seinen Empfindungen Worte zu leihen, und es blieb ihr daher die unweibliche Aufgabe überlassen, ihm bemerklich zu machen, daß er es wagen dürfe. Trotzdem aber, daß äußerlich er nur Hochachtung und Dankbarkeit, sie nur Herablassung und Freundlichkeit zu erkennen gab, machte sich doch im Innern eine rasch zunehmende Anhänglichkeit geltend. Ihre Unterhaltungen wurden abgemessener, ihre Worte gewählter, denn beide Teile empfanden die Gewalt der Gefühle, die sie unterdrücken wollten; sie wurden träumerisch, schweigsam und zurückhaltend – sprachen ohne Zusammenhang, gingen von einem Gegenstand auf den andern über, gaben sich Mühe, heiter und unbekümmert zu erscheinen, wenn sie eher zum Gegenteil geneigt waren, und wagten es nicht, in den Stunden der Einsamkeit ihre Empfindungen zu zergliedern; aber gerade die Versuche, ihr Inneres gegenseitig vor einander zu verbergen, schlossen anderen Personen den Stand ihres Inneren auf. Weder Mrs. Philipps noch Mr. Small waren blind gegen die Lage der Dinge und würden, wenn sie Einwendungen zu machen gehabt hätten, ihrer weiteren Berührung unverzüglich vorgebaut haben. Dies war aber nicht der Fall, denn unser Held hatte sich längst die Herzen der Mutter und des Onkels gewonnen, und sie sahen ruhig der Zeit entgegen, wenn das junge Pärchen einmal aufhören würde, die gegenseitige zärtliche Neigung zu verbergen.

Während sich die Verhältnisse zwischen unserem Helden und Emma Philipps derartig gestalteten, fand ein Ereignis statt, das für ein Weile Joeys Glück schmerzlich verbitterte. Er ging eines Tages die High-Street hinunter und bemerkte eine Abteilung Seesoldaten, die des Weges zogen und ein paar gefesselte Männer, augenscheinlich aufgegriffene Deserteure, in ihrer Mitte führten. Ein Gefühl von Unruhe bemächtigte sich unseres Helden; eine schlimme Ahnung wandelte ihn an, die ihn veranlaßte, in einen Parfümerieladen zu treten und daselbst zu bleiben, damit er, ohne bemerkt zu werden, die Gesichter der vorbeiziehenden Deserteure sehen könne. Seine Besorgnisse waren nicht ohne Grund gewesen, denn in dem einen der Gefangenen erkannte er seinen alten Feind und Verfolger, den Schulmeister Furneß.

Hätte sich ein Dolch in Joeys Herz gesenkt, so würde die Empfindung nicht schmerzlicher gewesen sein, als diejenige, welche er fühlte, als er sich mit einem Male seinem gefürchteten Ankläger so nahe wußte. Eine Weile stand er da, wie vom Schlage gerührt, so daß ihm das Mädchen, welches den Laden bediente, fragte, ob sie ihm nicht ein Glas Wasser bringen sollte. Diese Anrede rief ihn wieder ins Leben; er klagte über einen plötzlichen Schmerz in der Seite, setzte sich nieder und genoß von dem ihm dargebotenen Wasser. Sodann begab er sich in Verzweiflung nach Hause, ohne des Geschäftes zu gedenken, wegen dessen er ausgegangen war, und verfügte sich auf sein Zimmer, um seine Gedanken zu sammeln. Was sollte er anfangen? Dieser Mensch befand sich wieder in der Kaserne, wurde vor Gericht gestellt, gezüchtigt und nachher in Freiheit gesetzt. Wie war es möglich, ihn immer zu vermeiden und eine Erkennung zu verhindern? Welche geringe Aussicht hatte er, sich Furneß' spähendem Auge zu entziehen? Konnte er ihn bestechen? Ja, er war jetzt wohl in der Lage dazu, denn er war reich genug; aber wenn er damit begann, folgte wahrscheinlich eine Anforderung um die andere, und falls er sie nicht erfüllte, hatte er Drohung und Anzeige zu gewärtigen. Die Flucht schien ihm allein Rettung zu bieten; aber sollte er seine gegenwärtige Stellung aufgeben – sollte er Emma verlassen? Es war unmöglich. Joey verließ den ganzen übrigen Tag sein Zimmer nicht und begab sich früh zu Bette, um nachdenken zu können, denn von Schlaf war bei ihm keine Rede. Nach einer elend verbrachten Nacht, deren Spuren sich am andern Morgen deutlich in seinem Gesichte aussprachen, beschloß er, Nachforschungen über Furneß' mutmaßliches Schicksal anzustellen. Sobald er hierüber mit sich einig geworden war, wandte er sich an einen Marinesergeanten, mit dem er ein wenig bekannt war und der ihm auf der Straße begegnete. Er bemerkte gegen denselben, er habe gestern ein paar Ausreißer einbringen sehen, und fragte, ob sie von einem Schiffe oder aus der Kaserne desertiert seien. Der Sergeant antwortete, sie seien von der Fregatte Niobe, nachdem sie daselbst einen Diebstahl begangen, flüchtig geworden; man werde sie daher in der Kaserne gefangen halten, bis die Niobe anlange, dann vor ein Kriegsgericht stellen und ohne Zweifel wegen des doppelten Verbrechens durch die Flotte laufen lassen.

Joey wünschte dem Sergeanten guten Morgen und begab sich wieder nach Hause. Sein verändertes Äußeres war nicht nur seinen Associés, sondern auch Mrs. Philipps aufgefallen, die sich sehr darüber beunruhigte.

Unser Held blieb den ganzen Tag im Kontor, scheinbar unbesorgt, in Wahrheit aber ohne Unterlaß seinen früheren Gedanken nachhängend. Endlich beschloß er, ehe er einen entschiedenen Schritt einschlage, das Urteil des Kriegsgerichtes abzuwarten, denn er wußte in der That nicht, was er weiter thun sollte.

Wir überlassen es dem Leser, sich den Gemütszustand zu denken, in welchem sich Joey während der vierzehn Tage befand, nach welchen die Niobe von einem Kreuzzuge im Kanale zurückkehrte. Zwei Tage nach der Ankunft der Fregatte wurde das Signal zur Versammlung eines Kriegsgerichtes gegeben, und das gefällte Urteil war noch vor Abend bekannt; es lautete dahin, daß die Schuldigen am andern Tage durch die Flotte laufen sollten.

Dies war jedoch kein Trost für unsern Helden; er fühlte keinen Haß gegen Furneß, sondern fürchtete ihn bloß; auch wünschte er nicht dessen Bestrafung, sondern bloß dessen Abwesenheit, um gegen künftige Beunruhigungen von dieser Seite aus sicher zu sein. Die Züchtigung fand des andern Morgens um neun Uhr statt. Um diese Zeit kam auch Joey von seinem Zimmer herunter; er hatte die ganze Nacht über nachgedacht und war zu dem Schlusse gekommen, daß ihm kein anderer Ausweg bleibe als Portsmouth zu verlassen und sowohl Emma als seinen schönen Hoffnungen für die Zukunft auf immer zu entsagen. Es war zwar ein bitterer Schritt, aber doch hatte er sich entscheiden müssen, dieses Opfer zu bringen.

Mrs. Philipps und Emma erschraken über den abgehärmten Ausdruck seines Gesichtes, als er beim Frühstück erschien, erlaubten sich jedoch keine Bemerkung. Das Frühstück wurde stumm eingenommen, und bald nachher war unser Held mit Emma allein, welche alsbald mit Thränen in den Augen auf ihn zuging und fragte:

»Was ist Ihnen denn? Sie sehen so übel aus – Sie beunruhigen uns alle und machen mich ganz elend.«

»Ich fürchte, Miß Philipps – –«

»Miß Philipps?« versetzte Emma.

»Ich bitte um Verzeihung; aber, Emma, ich fürchte, daß ich Sie verlassen muß.«

»Uns verlassen?«

»Ja, Sie und Portsmouth – vielleicht für immer.«

»Was ist denn vorgefallen?«

»Ich kann und darf es nicht sagen. Erweisen Sie mir die Güte, vorderhand nicht weiter zu fragen, aber erinnern Sie sich, wie ich in früherer Zeit Gravesend gleichfalls plötzlich verlassen mußte.«

»Ich entsinne mich dessen, weiß aber nicht, warum es geschah. Nur Mary sagte mir, daß die Schuld nicht an Ihnen liege.«

»An mir lag sie nicht, wohl aber an meinem Unglück. Emma, ich bin beinahe von Sinnen. Wochenlang konnte ich nicht schlafen, aber ich bitte, glauben Sie mir, wenn ich sage, daß ich kein Unrecht begangen habe. In der That – –«

»Wir werden unterbrochen«, sagte Emma hastig. »Es kommt jemand die Treppe herauf.«

Sie hatte kaum Zeit, ein wenig von unserem Helden zurückzutreten, als Mr. B..., der Kapitän der Niobe, hereinkam.

»Guten Morgen, Miß Philipps; ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Ich nehme mir die Freiheit, ehe ich auf das Büreau des Admirals gehe, für einen Augenblick einzusprechen; wir haben nämlich an Bord der Niobe eine Katastrophe gehabt, die ich augenblicklich rapportieren muß.«

»Wirklich?« versetzte Emma. »Hoffentlich doch nichts sehr ernstliches?«

»Nein, das nicht; wir sind bloß eines Lumpenkerls losgeworden, der des Hängens nicht wert war. Einer der Seesoldaten, der diesen Morgen durch die Flotte laufen sollte, sprang, als ihn die Schildwache nach dem Vorderteile des Schiffes führte, über Bord und ertränkte sich.«

»Und wie heißt er, Kapitän B...?« fragte Joey, den Kapitän am Arme fassend.

»Wie er heißt – ei, wie kann das Sie interessieren, O'Donahue? Indes, wenn Sie's zu wissen wünschen – sein Name ist Furneß.«

»Das thut mir leid um ihn«, versetzte unser Held. »Ich kannte ihn, als er sich noch in besseren Verhältnissen befand.«

Und nun verließ Joey, der nicht länger unter Leuten zu bleiben wagte, das Zimmer und begab sich nach seinem eigenen Gemache. Dort angelangt kniete er nieder und schickte ein Dankgebet zum Himmel – nicht für Furneß' Tod, sondern für die Abwälzung der Last, die so schwer auf seiner Seele gelegen hatte. Nach einer Stunde fühlte er sich so sehr erleichtert und gefaßt, daß er wieder hinuntergehen konnte; er begab sich nach dem Besuchszimmer, wo er Emma zu finden hoffte – aber sie war nicht dort. Er sehnte sich, ihr eine Erklärung geben zu können, fand jedoch erst am nächsten Tage Gelegenheit.

»Ich weiß kaum«, begann unser Held, »was ich Ihnen sagen oder wie ich mein gestriges Benehmen erklären soll.«

»Es war allerdings sehr sonderbar; namentlich fiel es Kapitän B... auf, welcher zu mir sagte, er meine, es müsse bei Ihnen im Kopfe nicht richtig sein.«

»Ich mache mir nichts daraus, was er meint, obgleich ich mich sehr viel um das kümmere, was Sie von mir denken. Ich muß Ihnen jetzt mitteilen, was mir vielleicht durch den Tod dieses Mannes gestattet ist. Daß er auf eine höchst seltsame Weise mit meinem Leben verkettet ist, kann ich nicht in Abrede stellen; er war es, der mich kannte und mich, sobald es ihm möglich gewesen wäre, in eine Lage versetzt hätte, in welcher ich's über mich hätte ergehen lassen müssen, eines Verbrechens, an dem ich keinen Teil habe, schuldig erklärt zu werden, oder – lassen Sie sich die Auskunft genügen – ich hätte zu meiner Rechtfertigung einen Weg einschlagen müssen, den ich, wie ich hoffe, nicht gethan haben würde und nie thun werde. Mehr kann ich nicht sagen, ohne ein Geheimnis zu verraten, das zu bewahren ich verpflichtet bin, obgleich mir diese Bewahrung vielleicht Verderben bringt. Als Sie mich zuerst an der Landstraße sahen, Emma, war es derselbe Mann, der mich aus einer glücklichen Heimat vertrieb, um in der Welt umher zu irren; das Wiederauftreten dieses Menschen und der Umstand, daß er mich erkannte, hatte mich genötigt, Gravesend plötzlich zu verlassen. Ich traf wieder mit ihm zusammen und ging ihm aus dem Wege, als er auf der Flucht begriffen war, und nach seiner Desertion hoffte ich zuversichtlich, in dieser Stadt nicht wieder mit ihm zusammen zu treffen. Man hatte ihn als Ausreißer hierher gebracht, und das war es, was mich in den qualvollen Zustand versetzte, in welchem Sie mich während der letzten drei Wochen gesehen haben. Ich wußte, er werde nach seiner Bestrafung wieder auf freien Fuß gesetzt werden, und da ich befürchten mußte, ihm hier auf allen Wegen zu begegnen, so beschloß ich, wie ich Ihnen gestern morgen mitteilte, Portsmouth zu verlassen. Kann Sie daher meine Aufregung überraschen, als ich hörte, daß er tot sei und daß ich nun nicht mehr nötig habe, von meinen wohlmeinenden Gönnern und von Ihnen zu scheiden?«

»Allerdings kann nach dieser Erklärung Ihr gestriges Benehmen nicht mehr überraschen; aber das setzt mich in Erstaunen, Mr. O'Donahue, daß Sie sich mit einem so wichtigen Geheimnis tragen, welches, obgleich Sie sich für unschuldig erklären, nicht enthüllt werden soll und Sie vor diesem Manne zittern macht. Sind Unschuld und Geheimnis je Hand in Hand gegangen?«

»Sie reden mich als Mr. O'Donahue an, Miß Philipps, und machen mich dadurch auf die Unziemlichkeit aufmerksam, deren ich mich schuldig machte, indem ich Sie mit Ihrem Taufnamen anredete. Ich hoffte, das Vertrauen, welches Sie in mich setzten, als ich noch ein Knabe war und Ihnen dasselbe sagte, was ich jetzt wiederhole – daß nämlich das Geheimnis nicht mein Eigentum sei – würde nicht so grausam zurückgezogen werden. Meine Erzählung ist stets dieselbe gewesen, und ich kann ehrlich sagen, daß ich es für keine Schande hielt, wenn ich zugestand, daß ein Geheimnis an mir hafte; ja, wenn mir der Himmel die Wahl lassen sollte, den Tod zu erleiden oder das fragliche Geheimnis zu enthüllen, so hoffe ich, daß ich mich mit Festigkeit in mein Schicksal fügen und in dem Bewußtsein meiner Unschuld eine kräftige Stütze gegen den Druck des Unglücks finden würde. Ich fühle, daß ich recht hatte, als ich Ihnen gestern morgen mitteilte, ich müsse diesen Platz verlassen. Ich kam hierher, weil Sie hier lebten – Sie, gegen die ich eine hingebende Anhänglichkeit empfand wegen der Freundlichkeit und Teilnahme, die Sie mir erwiesen, als ich arm und freundlos war. Nun meine Lage sich geändert hat, beliebt es Ihnen, mir nicht nur Ihre Gunst, sondern auch Ihr Vertrauen zu entziehen, und da jetzt der Zauber gebrochen ist, der mich hierher führte, so wiederhole ich, daß ich Ihr Angesicht meiden will, sobald es ohne Nachteil für meine Gönner geschehen kann.«

Die letzten Worte sprach Joey mit gebrochener Stimme; dann wandte er sich, ohne aufzusehen, langsam ab und verließ das Zimmer.


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