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In welchem wir das Schicksal unseres Helden weiter erzählen.
Nach dem Entschlusse, den der Major M'Shane gefaßt hatte, darf man sich nicht wundern, wenn er während des Heimweges Joey alle nur erdenklichen Fragen über seine früheren Lebensverhältnisse vorlegte. Der Knabe gab hierauf in jeder Hinsicht sehr ehrliche Auskunft, jenen Teil in seiner Geschichte ausgenommen, bei welchem sein Vater so ernstlich beteiligt war. Sein Inneres sagte ihm, daß es eine Ehrensache für ihn sei, die Umstände bei dem Morde des Hausierers zu verheimlichen. M'Shane war zufrieden, und sie langten ohne weitere Abenteuer in London an. Sobald der Major seine Frau umarmt hatte, ging er ohne Verzug auf eine Erzählung seiner Erlebnisse über und vergaß dabei nicht, dem kleinen Joey das verdiente Lob zu spenden. Mrs. M'Shane war voll Dankbarkeit, und nun rückte ihr Gatte mit seinen Absichten in betreff unseres Helden heraus, mit welchen seine liebenswürdige Frau, wie er erwartet hatte, vollkommen einverstanden war. Es wurde daher beschlossen, daß Joey nach einer Schule geschickt werden und eine entsprechende Erziehung erhalten sollte, sobald die Eheleute ein gutes derartiges Institut ausfindig gemacht hätten.
Indes sollte unser Held ihre vollen Absichten noch nicht erfahren, denn man teilte ihm bloß mit, daß man ihn einer Lehranstalt übergeben wolle, was er sich auch gerne gefallen ließ; doch stand es wohl noch drei Monate an, ehe ihn M'Shane von sich lassen wollte, da dieser gegen jedes Institut, das namhaft gemacht wurde, seine Bedenken hervorhob. Während dieser Zeit fröhnte der kleine Joey dem Müßiggange, denn man hatte nichts für ihn zu thun. Bücher waren nicht da, weil Mrs. M'Shane keine Zeit und der Major keine Lust zum Lesen hatte, weshalb sein einziger Zeitvertreib darin bestand, die Zeitungen, welche der Kunden wegen gehalten wurden, zu durchstöbern; dies bildete seine gewöhnliche Beschäftigung.
Eines Tages kramte er in den alten Blättern und traf bei dieser Gelegenheit auf die Anzeige von dem Morde des Hausierers nebst dem dabei stattgehabten Leichenschaugericht. Er las die Zeugenaussagen, namentlich die des Schulmeisters Furneß, und fand, daß das Verdikt auf vorsätzlichen Mord lautete und daß für seine Ergreifung eine Belohnung von zweihundert Pfund ausgeboten war. Den Ausdruck »vorsätzlicher Mord« verstand er nicht ganz; er legte daher die Zeitung nieder und begab sich mit klopfendem Herzen zu Mrs. M'Shane, welche er um die Bedeutung desselben fragte.
»Was er bedeutet, mein Kind?« versetzte Mrs. M'Shane, welche eben sehr beschäftigt war, »das will so viel sagen, als: man hält eine Person für des Mordes schuldig und wird sie, sobald sie aufgegriffen wird, am Halse aufhängen, bis sie tot ist.«
»Aber gesetzt«, entgegnete Joey, »die Person hätte die That nicht begangen?«
»Je nun, Kind, dann müßte sie's eben beweisen.«
»Aber wenn sie's demungeachtet nicht könnte, obgleich sie unschuldig wäre?«
»Barmherziger Himmel, welch eine Anzahl Voraussetzungen! Doch verlaß Dich darauf, dann bleibt's eben bei dem Stricke.«
Vierzehn Tage nach diesem Gespräche wurde Joey nach einer Schule geschickt. Der Vorstand der Anstalt war ein sehr achtbarer Mann, dessen Gattin eine sehr achtbare Frau, das Erziehungssystem und die Kost gleichfalls achtbar, die Schüler gehörten achtbaren Familien an – kurz, es war eine ganz achtbare Anstalt, und der kleine Joey machte sehr achtbare Fortschritte; auch durfte er alle halbe Jahre eine Ferienreise zu seinen Pflegeeltern machen. Wie lange er in dem Institut verblieben wäre, können wir unmöglich sagen, denn wir wissen nur zu berichten, daß er im zweiten Jahre (er war mittlerweile vierzehn geworden) mit drei Guineen in der Tasche aus den Ferien wieder einrückte, als sich ein Umstand zutrug, der den glatten Strom in dem Dasein unseres Helden, welcher sich von seinen Pflegeeltern einer sehr liebevollen und freigebigen Behandlung erfreuen durfte, abermals aufwirbelte.
Er ging eines Tages nach der Weise der Knaben in achtbaren Schulen spazieren, das heißt, zwei und zwei in einer langen Reihe, wie die Tiere, welche in Noahs Arche kamen – als ein Mann in schäbig gentilem Anzuge an ihrer Prozession vorbeikam. Seine Augen fielen zufälligerweise auf Joey, und er machte Halt.
»Master Joseph Rushbrook, ich schätze mich sehr glücklich, Dich wieder einmal zu sehen«, sagte er, seine Hand ausstreckend.
Joey sah ihm ins Gesicht – nein, er konnte sich nicht täuschen – es war Furneß, der Schulmeister.
»Erinnerst Du Dich meiner nicht mehr, mein lieber Knabe? Kannst Du Dich des Mannes noch entsinnen, der dem Kinde zuerst den Begriff des Schießens entwickelte? Kennst Du Deinen alten Lehrer noch?«
»Ja«, versetzte Joey, hoch errötend, »ich kenne Euch noch sehr gut.«
»Es freut mich, Dich zu sehen – Du weißt, Du bist mein bester Schüler gewesen, aber jetzt sind wir alle zerstreut. Dein Vater und Deine Mutter sind fortgezogen, niemand weiß wohin; Du gingst gleichfalls weg und auch ich konnte nicht länger bleiben. Welche Wonne, wieder einmal mit Dir zusammen zu treffen!«
Joey teilte diese Wonne nicht sonderlich. Das Anhalten des Zuges hatte einige Verwirrung verursacht, und der Unterlehrer, welcher die Aufsicht führte, kam nun heran, um zu sehen, was es gebe.
»Dies ist ein alter Zögling, oder (wie ich besser sagen sollte) ein junger Zögling von mir – der beste, den ich je hatte. Ich bin hoch entzückt, ihn wieder zu sehen, Sir«, sagte Furneß, seinen Hut abnehmend. »Darf ich fragen, wer gegenwärtig die Obhut über das liebe Kind hat?«
Der Unterlehrer trug kein Bedenken, den Namen und die Wohnung des Institutvorstehers anzugeben. Sobald Furneß diese Auskunft eingeholt hatte, drückte er Joey die Hand, sagte ihm Lebewohl, wünschte ihm alles Glück und ging weiter.
Joeys Sinn war während des übrigen Spazierganges ganz verwirrt, und erst, als er wieder nach Hause gekommen war, konnte er über das Vorgefallene Erwägungen anstellen. Er wußte, daß Furneß vor Gericht Zeugnis abgelegt hatte, und schon damals war ihm beim Lesen der Gedanke gekommen, daß durchaus keine Notwendigkeit dazu vorhanden gewesen. Auch wußte er, daß ein Preis von zweihundert Pfunden auf seiner Ergreifung stand, und wenn er an des Schulmeisters scheinbare Freundlichkeit dachte, der nicht einmal des Verdiktes auf absichtlichen Mord (eines doch gewiß sehr wichtigen Gegenstandes) gegen ihn erwähnte, so konnte er sich der Überzeugung nicht entschlagen, Furneß habe sich nur deshalb so gegen ihn benommen, um ihn in Sicherheit einzuschläfern; er zweifelte daher nicht, daß er am andern Tage wieder kommen und ihn um der Belohnung willen aufgreifen lassen werde.
Wir müssen hier bemerken, obgleich wir früher den Gang unserer Erzählung nicht dadurch unterbrechen wollten, daß Joey seine Eltern und insbesondere seinen Vater aufs innigste liebte; er sehnte sich, sie wieder zu sehen und dachte unaufhörlich an sie, obgleich er es um des Geheimnisses willen, wegen dessen er aus der Heimat entwichen war, nicht wagte, von ihnen zu sprechen. Er erkannte vollkommen seine gefährliche Lage und die Notwendigkeit, wenn er aufgegriffen würde, entweder sich selbst oder seinen Vater zum Opfer zu bringen. Nachdem er dies alles in seinem Geiste erwogen hatte, stellte er Betrachtungen über die nun einzuschlagenden Schritte an. Sollte er nach London gehen und sich Major M'Shane anvertrauen? Er fühlte, daß er dies ohne Gefahr thun konnte, und würde es auch so gehalten haben, wenn ihn nicht der Gedanke gehindert hätte, daß er kein Recht habe, irgend jemand ein Geheimnis mitzuteilen, an dem das Leben seines Vaters hing. Nein, das ging nicht. Dann aber seine wohlwollenden Pflegeeltern zu verlassen, ohne ihnen Meldung zu geben – das wäre schreiender Undank gewesen. Nach weiterer Erwägung entschloß er sich, davon zu laufen, so daß jede Spur von ihm verwischt würde, zuvor aber noch einen Brief an M'Shane zu schreiben und denselben zurückzulassen. Der Brief lautete wie folgt:
»Lieber Herr, halten Sie mich nicht für undankbar, denn ich liebe Sie und Mrs. M'Shane zärtlich; aber ich bin mit einem Menschen zusammengetroffen, der mich kennt und zuverlässig verraten wird. Ich entwich aus dem elterlichen Hause nicht wegen Wilddiebstahls, sondern wegen eines begangenen Mordes, an dem ich jedoch nicht schuldig bin. Dies ist das einzige Geheimnis, das ich vor Ihnen bewahrt habe, weil es nicht das Meinige ist. Ich kann keinen Gegenbeweis führen und will es auch nicht. Ich ziehe nun wieder ins Weite, weil ich von einem schlimmen Manne entdeckt wurde, der (wie ich nicht zweifle) von seinem Zusammentreffen mit mir Vorteil zu ziehen gedenkt. Ich sehe Sie vielleicht nie wieder. Weiter kann ich nichts sagen, als daß ich stets für Sie und Mrs. M'Shane beten, desgleichen auch Ihrer Güte gegen mich mit dankbarem Herzen eingedenk sein will.
Ihr treuer
Joey M'
Shane.«
Joey hatte sich nämlich, der Aufforderung seiner Pflegeeltern gemäß, seit seiner Rückkehr von St. Petersburg stets M'Shane genannt und nicht ungern diesem Ansinnen Folge geleistet, obgleich er noch nicht begriff, welche Vorteile ihm aus dieser Namensumänderung erwachsen mochten.
Sobald Joey mit seinem Briefe zu stande gekommen war, setzte er sich nieder und weinte bitterlich. In Lehranstalten giebt es jedoch keine abgeschiedene Winkelchen, in denen man seinen Gefühlen Luft machen kann, und so mußte er seine Thränen ersticken. Er fertigte seine Aufgaben und ließ sich das Gelernte abhören, als ob nichts vorgefallen sei und nichts ihm bevorstehe, denn er war in Wirklichkeit ein kleiner Stoiker. Nachts ging er mit den übrigen Knaben nach seinem Zimmer, konnte sich aber nur einen kleinen Teil seiner Kleider verschaffen, die er in sein Schnupftuch wickelte. Um ein Uhr morgens schlich er leise die Treppen hinunter, legte seinen Brief an M'Shane auf den Tisch des Speisesaals, öffnete die Hinterthür, kletterte über die Gartenmauer und befand sich nun abermals auf der Landstraße, um sein Glück zu suchen.
Seit den zwei Jahren, welche zwischen dem gegenwärtigen Augenblicke und seiner Flucht aus dem elterlichen Hause lagen, hatte er sich sehr verändert, denn war er schon frühe ein denkender Knabe gewesen, so fühlte er sich jetzt reif, um mit Entschiedenheit zu handeln. Durch die Weltkenntnis, welche er seinem Eintritt ins Leben verdankte, war sein Ideenkreis erweitert worden; er hatte viel gesprochen, viel gesehen, viel gehört und noch mehr gedacht; auch gab ihm sein von Natur ruhiges Wesen ganz das Äußere eines gut erzogenen Knaben. In dem Speisehause seiner Pflegemutter war er mit den mannigfaltigsten Charakteren in Berührung gekommen, und mit einigen der Tageskunden hatte er auf einem sehr vertrauten Fuße gestanden. Er war kein Kind mehr, sondern ein junger Mensch voll Mut, Unerschrockenheit und Geistesgegenwart, den nur eine einzige Angst quälte – nämlich die Entdeckung des von seinem Vater begangenen Verbrechens.
Und nun war er wieder heimatlos – mit einem kleinen Bündel und drei Guineen in der Tasche steuerte er in die Welt hinein. Anfangs beschäftigte ihn nur ein Gedanke: er wollte sich der Wachsamkeit des Schulmeisters durch eine möglichst weite Entfernung entziehen und schritt daher aus Leibeskräften weiter. Er war in den letzten zwei Jahren um ein Ansehnliches gewachsen, aber noch immer klein für sein Alter, doch hatte er eine eherne Muskulatur und eine entsprechende Körperkraft, wie mancher seiner Schulkameraden mit Leidwesen empfinden mußte, war dabei elastisch wie Federharz, auch kühn und entschlossen wie ein Mensch, der sein ganzes Leben über mit Gefahr kämpfte und in seinen Anstrengungen nicht so leicht zu ermüden ist.