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Virginia ging die Fifth Avenue entlang und freute sich an dem herrlichen Wetter und an den vielen gutgekleideten und fröhlichen Spaziergängern. Ab und zu blieb sie stehen, um sich ein Schaufenster zu betrachten, und mehr als einmal lächelte sie bei dem Gedanken, daß sie das Haus ihres Onkels schlauerweise durch einen Seitenausgang verlassen hatte. In den letzten Stunden schien sie eine sehr bedeutende und gewichtige Persönlichkeit geworden zu sein. Von dem Augenblick ab, als der Wagen des Arztes vor dem Hause hielt, waren dauernd Besucher, Zeitungsberichterstatter, Geschäftsfreunde und andere Leute gekommen, die sie nicht einmal kannte, um sich nach dem Befinden ihres Onkels zu erkundigen. Es wurde bereits eine Extraausgabe auf der Straße verkauft, und man konnte in großen Buchstaben den Bericht über die Krankheit des Mr. Duge lesen. Als sie das Haus verlassen hatte, sah sie die beiden Privatsekretäre kurz, die eifrig damit beschäftigt waren, Briefe und Telegramme zu öffnen. Sie kannte die beiden jungen Leute nur oberflächlich und hatte nur wenige Worte mit ihnen gewechselt. Sie allein war ruhig und zeigte nicht die geringste Ängstlichkeit. Ihr Onkel faßte die ganze Sache ja nur als einen Scherz auf. Er hatte lustig und vergnügt mit ihr geplaudert, bevor sie ausgegangen war. Ab und zu trat sie in einen Laden ein, um einige Einkäufe zu machen. Als sie gerade aus einem Geschäft kam und noch zögerte, nach welcher Seite sie sich wenden sollte, blieb plötzlich ein Herr vor ihr stehen und begrüßte sie. Es war Stephen Weiß. Obgleich er einen sehr teuren Anzug trug, sah seine lange, hagere Gestalt nicht gut darin aus. Er freute sich offenbar, sie wiederzusehen.
»Das ist ja ein fabelhaftes Glück, Miß Longworth!« Er drückte ihre Hand. »Ich komme gerade von Ihnen, aber leider konnte ich nichts Bestimmtes über die plötzliche Erkrankung Ihres Onkels erfahren.«
»Ich weiß selbst nicht viel darüber«, entgegnete Virginia. »Der Arzt kam eben erst, als ich fortging. Soviel ich verstanden habe, hat er meinem Onkel für einige Tage vollkommene Ruhe verordnet. Er soll eine Woche im Bett bleiben und dann einen kurzen Erholungsurlaub antreten.«
Mr. Weiß schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ich freue mich sehr, das zu hören. Ihr Onkel ist einer meiner ältesten Freunde, und abgesehen davon, sind wir gerade bei einigen wichtigen Spekulationen zusammen engagiert. Die Wichtigkeit der Sache werden Sie aber kaum verstehen. Es wäre sehr peinlich, wenn er jetzt plötzlich durch eine längere Krankheit ans Bett gefesselt würde.«
»Der Arzt meinte, mein Onkel könnte die wichtigsten Geschäfte in etwa vier oder fünf Tagen wieder erledigen. Aber vor dieser Zeit hat er ihm sogar verboten, auch nur ein paar Zeilen in einer Zeitung zu lesen.«
»Sind Sie auf dem Heimweg? Darf ich Sie eine kurze Strecke begleiten?«
Virginia zögerte einen Augenblick.
»Ich muß noch ein paar Besorgungen machen. Eigentlich wollte ich noch nicht nach Hause.«
Aber Mr. Weiß führte sie schon über die Straße.
»Liebe Miß Longworth, ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Bitte, kommen Sie mit Sie können ja später Ihre Einkäufe fortsetzen.«
Sie ließ sich von ihm nach Hause begleiten, und als sie in dem kleinen Empfangssalon saßen, begann Stephen Weiß, Virginia die Lage zu erklären.
»Ihr Onkel und wir vier,« sagte er ernst, »die Sie gestern kennengelernt haben, sind gerade bei der Durchführung eines wichtigen Geschäfts. Ich kann es Ihnen im Augenblick nicht näher erklären, aber es handelt sich um viele Millionen Dollars. Wir können das Geschäft auch ohne Ihren Onkel erfolgreich durchführen, aber zu diesem Zweck müssen wir ein Dokument haben, das er in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hat und das gewissermaßen der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit ist. Ich habe Ihren Onkel gestern abend deshalb telefonisch angerufen, und er hat mir versprochen, es zu meiner Verfügung zu halten, wenn ich ihn heute morgen besuchte. Aber ich konnte niemand im Hause finden, der von Ihrem Onkel irgendwelche Instruktionen darüber erhalten hat. Deswegen schloß ich daraus, daß er vielleicht mit Ihnen gesprochen hat.«
»Nein, er hat mir nicht das Geringste davon gesagt.«
»Miß Longworth, ich versichere Ihnen, daß wir in unser aller Interesse dieses Schriftstück haben müssen. Ich bitte Sie daher, Ihrem Onkel den Sachverhalt kurz mitzuteilen. Er wird sofort wissen, um was es sich handelt, und ich bin sicher, daß er Ihnen den Auftrag erteilt, mir das Schriftstück auszuhändigen.«
»Die Anordnungen des Arztes sind aber sehr streng und verbieten mir das. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das begründen soll.«
»Ärzte verstehen zwar viel von ihrer Kunst, aber sie sind nicht allwissend. Die paar Worte können Ihrem Onkel doch unmöglich schaden, und Sie ersparen ihm dadurch womöglich einen Rückfall. Ich würde Sie nicht so sehr drängen, wenn die Sache nicht äußerst wichtig wäre. Sie können sich wirklich darauf verlassen, daß ich Ihnen die Wahrheit sage.«
»Ich will einmal hinaufgehen und sehen, in welcher Verfassung ich ihn finde. Bitte, warten Sie solange hier.«
»O, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Vielleicht darf ich einen Augenblick in die Bibliothek gehen, wo wir gestern abend waren. Ich glaube, daß einer der Sekretäre Ihres Onkels dort ist, mit dem ich gerne noch ein paar Einzelheiten besprechen möchte.«
»Ich werde Mr. Smedley rufen, wenn ich wieder herunterkomme. Er ist bestimmt nicht in der Bibliothek, denn mein Onkel betrachtet diesen Raum als sein Privatarbeitszimmer. Bitte, bleiben Sie hier.«
Sie ließ ihn allein in dem Salon zurück und ging nach oben. Die Türe zu dem Schlafzimmer ihres Onkels wurde von seinem Kammerdiener bewacht, aber sie durfte natürlich sofort eintreten. Phineas Duge saß in einem Sessel, war aufs sorgfältigste gekleidet und rauchte eine Zigarette. Ein großer Stoß von Zeitungen lag neben ihm auf einem kleinen Tisch, An seiner anderen Seite stand ein Telefon, dessen Hörer er eben angehängt hatte.
»Nun, haben sie sich schon gerührt?« fragte er, als er aufschaute.
Virginia erzählte ihm, was sie erlebt hatte.
Phineas Duge lachte ruhig.
»Du weißt, daß ich viel zu krank bin, um mit solchen Dingen belästigt werden zu dürfen. Wo hast du denn Mr. Weiß gelassen?«
»In dem blauen Salon«, entgegnete sie. »Er sagte mir, daß er in die Bibliothek gehen wollte, um mit Smedley zu sprechen, aber ich erklärte ihm, daß er in dem Salon warten sollte, bis ich zurückkäme.«
»Ich hoffe, daß du ihn noch dort findest. Wenn er mit Smedley sprechen will, kann er das ruhig tun, allerdings auf seine Verantwortung hin. Die jungen Leute wissen nichts. Komm nachher wieder herauf und berichte mir.«
Virginia fand Mr. Weiß nicht mehr in dem blauen Salon, sondern in dem kleinen Privatarbeitszimmer ihres Onkels. Er betrachtete nachdenklich den Schreibtisch. Als sie leise eintrat, sah er rasch auf. »Sie müssen nicht glauben, daß ich mir eine besondere Freiheit herausnehme«, sagte er ruhig. »Dieses Zimmer benützen wir gemeinsam als eine Art Büro, und Ihr Onkel läßt uns auch ruhig hereinkommen, wann wir wollen. Wahrscheinlich hat er Ihnen nun den Auftrag gegeben, den Schreibtisch aufzuschließen und mir das Schriftstück zu übergeben.«
Virginia schüttelte langsam den Kopf.
»Es tut mir sehr leid, aber mein Onkel will durchaus nicht mit mir über geschäftliche Dinge sprechen. Er schien sich überhaupt nicht mehr auf das Dokument zu besinnen und sagte, es müsse alles warten, bis er wieder etwas klarer denken könne. Ich glaube, daß ich ihm sehr auf die Nerven gefallen bin. Der Arzt wird sehr böse auf mich sein.«
Mr. Weiß blieb vollständig ruhig. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Aber Virginia bemerkte doch, daß er schneller atmete und innerlich erregt war.
»Miß Longworth, bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich muß Ihnen noch etwas sagen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann jetzt leider nicht länger bleiben.«
Er sah sie scharf an.
»Aber was ich Ihnen zu sagen habe, ist viel wichtiger als alles andere. Es gibt Zeiten, in denen der Juniorpartner eines großen Unternehmens in einer kritischen Situation auf eigene Verantwortlichkeit hin handeln muß. Und wenn er großzügig genug ist, bei einer solchen Gelegenheit nach bestem Wissen selbständig vorzugehen, dann hat er den Erfolg gewöhnlich auf seiner Seite. Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Miß Longworth?«
»Ich glaube schon«, entgegnete Virginia etwas unsicher.
»Miß Longworth, haben Sie Mut genug, Ihrem Onkel und meinen Freunden viele Millionen Dollars zu retten? Sicher wird er Ihnen später sehr dankbar dafür sein. Helfen Sie mir, dieses Schriftstück zu suchen!«
»Sie meinen, ich sollte das ohne die Erlaubnis meines Onkels tun?«
»Diese Erlaubnis würde Ihnen Ihr Onkel sofort geben, wenn er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern könnte. Es ist uns aber unmöglich, darauf zu warten, bis er wieder hergestellt ist. Als Belohnung würde ich Ihnen das kostbare Perlenhalsband von Streeter als Geschenk überreichen, das ich gestern im Schaufenster der Firma mit vierzigtausend Dollars ausgezeichnet fand. Eine halbe Stunde nach Übergabe des Schriftstücks sollen Sie es in Händen haben, und Ihr Onkel wird Ihnen gewiß ein ebenso großes Geschenk machen, wenn er erfährt, was Sie getan haben,«
Virginia schüttelte traurig den Kopf, und in ihren großen, dunklen Augen lag ein kummervoller Ausdruck.
»Mr. Weiß, ich bin zu unerfahren, um derartige Dinge auf eigene Verantwortung hin tun zu können. Ich kann nur gehorchen. Mein Onkel schickt mich vielleicht fort, wenn er wieder gesund geworden ist, aber ich muß doch das tun, was er mir gesagt hat.« Sie drückte auf die elektrische Klingel. »Und vor allem hat er mir ans Herz gelegt, daß niemand diesen Raum betreten dürfte, wer es auch sei.«
Mr. Weiß stand einen Augenblick regungslos und schien nachzudenken.
»Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, Miß Longworth. Sie haben eine große Chance, und es soll nicht nur das Perlenhalsband für Sie bedeuten –«
Sie machte eine abwehrende Handbewegung.
»Bitte, sprechen Sie nicht weiter«, bat sie. »Ich fürchte mich zu sehr vor meinem Onkel.«
Sie wandte sich plötzlich um und öffnete dem Diener, dessen Schritte sie draußen gehört hatte.
»Wollen Sie bitte Mr. Weiß hinausführen. Er ist in großer Eile.«
Mr. Weiß entfernte sich ohne ein weiteres Wort.