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Norris Vine steckte sich eine Zigarette an und sah sich mit Genugtuung in dem Zimmer um, als ob er eine schwere Aufgabe gelöst hätte. Vor ihm standen zwei Reisekoffer, ein Hutkasten, einige Gewehre, ein Satz Golfschläger und einige kleinere Gepäckstücke, die alle die Aufschrift »Vine, New York« trugen. Er ging zu der Klingel, um einen Hausdiener herbeizurufen, aber er wurde durch ein Klopfen an der Türe unterbrochen.
Als er »Herein!« rief, trat Virginia ein. Er sah sie überrascht, aber kühl an. Diese junge Dame hatte nichts mehr mit dem blassen, verzweifelten jungen Mädchen gemein, das er noch vor wenigen Tagen gesehen hatte. Er verstand viel von Damenmoden, und ihr Kostüm gefiel ihm außerordentlich. Ihr ganzer Ausdruck hatte sich verändert. Sie sah nicht länger aus wie ein gehetztes, eingeschüchtertes Kind. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihre Haltung zeigte ein gewisses Selbstvertrauen. Obwohl sie ihm etwas schüchtern die Hand reichte, lächelte sie ihn doch freundlich an.
»Mr. Vine, bitte, verzeihen Sie, daß ich hierherkomme. Ich hörte, daß Sie nach Amerika zurückreisen. Ich muß Ihnen nämlich noch etwas Wichtiges mitteilen. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
Vine war schließlich auch nur ein Mensch und konnte ihre liebenswürdige Bitte nicht ohne weiteres abschlagen. Er schob einen Stuhl für sie hin und lehnte sich an den Kamin.
»Ja, bitte, sprechen Sie, Es befindet sich allerdings nichts mehr in diesem Zimmer, das zu stehlen der Mühe wert wäre, und ich verstehe deshalb wirklich nicht, welchem Umstand ich das unerwartete –« er zögerte ein wenig und verneigte sich dann leicht – »Vergnügen Ihres Besuches verdanke.«
Sie lächelte ihn an.
»Ich freue mich so sehr, Mr. Vine, daß Sie großzügig sind und mir nichts nachtragen. Es fällt mir nicht leicht, mit Ihnen zu sprechen, und wenn Sie ärgerlich auf mich wären, könnte ich meine Aufgabe kaum lösen.«
»Ich weiß auch eine Niederlage zu tragen. Sie haben bei diesem Abenteuer übrigens wirklich Glück gehabt.«
»Ich wollte mit Ihnen über Stella reden.«
»Stella?« wiederholte er gedehnt.
Sie nickte.
»Ja. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich Stella ein Unrecht zufügte, als ich ihren Platz im Hause meines Onkels einnahm. Und Mr. Duge scheint sich vollkommen geändert zu haben, seitdem er in London ist. Er war sehr liebenswürdig zu mir, und ich habe mich gar nicht mehr vor ihm gefürchtet. Er hat mir viele schöne Geschenke gemacht und scheint es mit der Rückreise nach Amerika gar nicht eilig zu haben.«
Norris Vine lächelte.
»Ich tadle ihn deshalb nicht.«
»Gestern konnte ich mir nicht mehr helfen. Ich habe einfach gegen seine strikte Anweisung gehandelt und mit ihm über Stella gesprochen. Das Merkwürdigste war, daß er mir ruhig und geduldig zuhörte. Und nun kommt das Wichtige. Sie müssen mich nicht fragen, woher ich es erfahren habe, und Sie dürfen auch sonst keine Fragen stellen. Ich weiß, daß Sie und Stella einander sehr zugetan sind, und ich würde mich freuen, wenn Sie miteinander verheiratet wären.«
Er sah sie nachdenklich an, und sie schlug den Blick nieder. Ihre Wangen brannten, aber sie sprach tapfer weiter.
»Ich habe mit meinem Onkel darüber gesprochen, und er war sogar sehr höflich und liebenswürdig. Er sagte allerdings, daß er Stella einige Zeit nicht sehen möchte. Aber wenn Sie heiraten, will er ihr eine Million Dollars als Mitgift geben.«
»Sie müssen eine kleine Zauberin oder eine Hexe sein!«
»Nein, das bin ich nicht, aber ich weiß, daß mein Onkel sehr häufig mißverstanden wird. Ich habe mich so gefreut, daß ich sofort zu Ihnen gekommen bin, um es Ihnen zu sagen. Stellas Wohnung kenne ich leider nicht. Können Sie sich nicht hier in London heiraten und mich zur Hochzeit einladen?«
In dem Augenblick klopfte es an der Türe, und gleich darauf trat Stella ein. Sie sah die beiden einen Augenblick überrascht und erstaunt an, dann schloß sie die Türe und trat näher.
»Virginia, was in aller Welt machen Sie denn hier?«
»Ich hätte Sie aufgesucht, Stella, wenn ich nur gewußt hätte, wo ich Sie finden könnte.«
»Deine Kusine kam hierher, um uns mitzuteilen, daß Phineas Duge geneigt ist, uns gegenüber den wohlwollenden Vater zu spielen. Das kann ich mir gar nicht anders erklären, als daß er sehr krank ist, oder daß eine schwere Krankheit bei ihm im Anzuge ist. Virginia hat mir den Rat gegeben, dich zu heiraten. Dein Vater macht dir in diesem Fall ein kleines Hochzeitsgeschenk von einer Million Dollars.«
Stella sah Virginia verwundert an.
»Ist das – meinen Sie das wirklich?«
»Ja, er hat es mir feierlich versprochen.«
»Gott sei Dank!« rief Stella. »Ich bin es müde, noch länger arm zu sein. Wie steht es denn mit dir, Norris? Virginia, das war wirklich sehr lieb von Ihnen.«
Sie umarmte das junge Mädchen.
»Wollen Sie denn Mr. Vine sofort heiraten?«
Stella lachte leise.
»Mein liebes Kind, wir haben schon vor einer Woche geheiratet.«
Virginia lehnte sich in ihren Stuhl zurück.
»Ach!« sagte sie erstaunt. Aber dann sprang sie plötzlich auf und schien sich sehr zu freuen.
»Das ist ja glänzend! Dann lade ich Sie hiermit beide ins Hotel Claridge ein, und zwar im Namen meines Onkels. Ich hatte den Auftrag von ihm, falls ich Sie finden würde.«
»Gut, wir kommen heute abend um acht«, erwiderte Vine.
Virginia und Stella verließen das Hotel zusammen. »Ich habe einen Wagen draußen«, sagte Virginia etwas scheu. »Ihr Vater war immer sehr liebenswürdig zu mir. Ich hoffe, daß Sie mir jetzt nichts mehr nachtragen. Er wird jetzt auch zu Ihnen anders sein.«
»Ich war selbst sehr häßlich zu ihm. Wer ist denn dieser junge Herr?«
Sie standen gerade in der Halle des Hotels, als ein junger Mann auf sie zukam. Virginia schrak sichtlich zusammen.
»Du?« rief sie atemlos.
Guy kümmerte sich nicht um ihre Begleiterin und nahm ihre beiden Hände.
»Virginia, endlich finde ich dich wieder! Wie konntest du mir das antun?«
»Es blieb mir ja nichts anderes übrig«, entgegnete sie lächelnd. »Aber ich freue mich sehr, daß ich dich wiedersehe«, fügte sie leiser hinzu.
»Wie gut du aussiehst! Wo können wir einen Augenblick Platz nehmen? Ich muß mit dir sprechen. Ich lasse dich jetzt nicht mehr aus den Augen.«
Stella, die die beiden ganz vergessen hatten, trat näher.
»Es ist gut, daß ich selbst eine Verabredung habe. Also um acht sehen wir uns wieder, Virginia!«
Guy verneigte sich, und Virginia rief ihr einen Abschiedsgruß nach.
»Es ist meine Kusine Stella«, erklärte sie. »Was wolltest du mir denn sagen?«
»Komm mit zu meinem Wagen. Wir wollen uns zusammen nach hinten setzen, da können wir gut miteinander sprechen. Ich will keine einzige Frage mehr an dich richten, und ich gestatte auch keinem anderen, das zu tun. Wer oder was du auch immer bist, wir heiraten, sobald ich mir eine andere Lizenz verschafft habe.«
Sie lachte glücklich.
»Gut, aber du mußt in meinen Wagen steigen und dein Auto fortschicken. Wenn es dir recht ist, lade ich dich zu einer kleinen Spazierfahrt ein.«
»Ganz wie du willst«, entgegnete er und betrachtete höchst erstaunt den eleganten Wagen, den Chauffeur und den Diener, die auf Virginia warteten. »Es sieht fast so aus,« fügte er dann enttäuscht hinzu, »als ob du alle deine Sorgen und Unannehmlichkeiten ohne meine Hilfe überwunden hast.«
»Ja, das stimmt. Aber ich freue mich trotzdem nicht weniger, daß ich dich wiedersehe. Willst du mich begleiten, damit ich dich meinem Onkel und Vormund vorstellen kann?«
»Selbstverständlich.«
»Zurück zum Hotel Claridge!« sagte sie fröhlich zu dem Diener, der den Wagenschlag aufhielt, während sie einstiegen.
Ende