E. Phillips Oppenheim
Finanzkönige
E. Phillips Oppenheim

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Kapitel 12.
Stellas Kühnheit

Virginia ging schnell zur Bibliothek und sah sofort, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Aber sie fuhr erstaunt zurück, als sie entdeckte, daß Stella vor dem Sekretär stand und ihn nachdenklich betrachtete. Als sie eintrat, schaute ihre Kusine auf und nickte ihr freundlich zu.

»Ach, wie geht es Ihnen, Virginia? Sie sehen, ich bin als reuevolle Tochter zurückgekehrt.«

Virginia war ein wenig enttäuscht und kam weiter in das Zimmer herein, nachdem sie die Türe geschlossen hatte.

»Stella, es tut mir leid,« erwiderte sie ruhig, »aber während Ihr Vater krank liegt, darf ich niemand den Aufenthalt in diesem Zimmer gestatten.«

Stella ließ sich in einem Sessel nieder.

»Da haben Sie vollkommen recht. Ich hoffe auch, daß Sie alle anderen fernhalten. Mein Vater hat stets viel Geschäftsgeheimnisse, und ich weiß, daß er keine Spionage dulden kann.«

Virginia erkannte, daß sie mit Stella nicht so leicht fertig werden würde.

»Stella, kommen Sie doch bitte mit mir in den Empfangssalon. Dieser Raum soll stets verschlossen bleiben. Sie kennen natürlich die geheime Springfeder und können ohne weiteres hier eintreten.«

»Liebe Virginia, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen gegenüber betonen muß, daß ich viele Jahre in diesem Hause gelebt habe und es immer noch als mein Heim betrachte, während Sie doch erst ein paar Wochen hier sind. Ich weiß, daß Sie nicht unfreundlich gegen mich sein wollen, aber es ist doch nicht recht von Ihnen, daß Sie mir vorschreiben wollen, welche Räume ich hier betreten darf, und welche nicht. Ich wollte eine halbe Stunde bleiben und einige Briefe schreiben.«

»Sie können Ihre Briefe in jedem anderen Raum des Hauses schreiben, aber nicht hier. Das verstößt gegen die strikten Anweisungen Ihres Vaters.«

Stella lächelte und zuckte die Achseln.

»Es tut mir leid, aber ich habe mir nun einmal vorgenommen, meine Briefe hier zu schreiben. Denken Sie daran, Virginia, daß das Haus meinem Vater gehört. Sie nehmen hier nur zeitweise meine Stellung ein. Ich habe Sie schließlich bisher in keiner Weise belästigt. Es ist doch nur eine Kleinigkeit, die ich verlange. Ich schreibe nur ein paar Briefe und gehe dann sofort wieder.«

Virginia wurde nervös.

»Liebe Stella, Sie wissen sehr gut, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als daß Sie sich mit Ihrem Vater wieder aussöhnten. Aber Sie wissen doch selbst, daß niemand die Bibliothek betreten darf, wenn seine Privatsekretäre nicht zugegen sind. Wenn Sie den Geheimknopf nicht gekannt hätten, mit dem man die Türe öffnen kann, wären Sie auch nicht hereingekommen.«

»Ich bin jetzt aber einmal hier,« erwiderte Stella etwas von oben herab, »und ich bleibe auch hier. Bitte, schließen Sie den Schreibtisch auf, und geben Sie mir etwas Briefpapier.«

»Ich kann den Sekretär nicht aufschließen.«

»Aber Sie haben doch den Schlüssel!«

»Ihr Vater traut mir eben mehr als allen anderen Leuten.«

»Das ist möglich. Sie haben natürlich auch den Schlüssel zu dem Geheimfach, das er mir eines Tages zeigte.«

»Vielleicht«, entgegnete Virginia vorsichtig. »Und selbst wenn ich ihn habe, wird doch niemand etwas davon erfahren. Aber es ist wirklich mein aufrichtiger Wunsch, daß Sie sich wieder mit Ihrem Vater vertragen. Wenn Sie in den Empfangssalon gehen und dort einen Augenblick warten wollen, werde ich versuchen, ihn zu überreden, daß er Sie empfängt.«

»Das ist ganz zwecklos. Dazu ist er viel zu hartnäckig. Ich werde niemals die Möglichkeit haben, wieder Frieden mit ihm zu schließen, wenn ich ihn nicht eines Tages unerwartet überraschen kann.«

»Er wird heute unter keinen Umständen herunterkommen können. Seien Sie nicht böse, aber ich muß Sie jetzt auffordern, diesen Raum zu verlassen.«

»Ich bin hier zu Hause,« sagte Stella kühl, »und ich bleibe, solange es mir paßt. Sie sind hier fremd, und wenn Sie nicht genug Vernunft und Anstandsgefühl besitzen, wäre es besser, wenn Sie wieder nach Hause zurückkehrten und dort mit Ihren Puppen spielten. Sie sind ja noch so jung. Das wäre eine bessere Beschäftigung für Sie, als hier in dem Hause meines Vaters herumzukommandieren.«

Virginia ging im Zimmer auf und ab. Tränen standen in ihren Augen. Sie war ratlos und wußte nicht, was sie beginnen sollte.

»Stella, Sie kennen Ihren Vater. Wenn er erfährt, daß Sie sich hier in diesem Raume länger aufhalten, wird er mir das niemals verzeihen. Er würde mich sofort wieder nach Hause schicken, und das ist aus vielen Gründen entsetzlich für mich. Bitte, seien Sie vernünftig, und kommen Sie mit mir in ein anderes Zimmer. Ich will alles tun, um Sie wieder mit Ihrem Vater auszusöhnen.«

Aber Stella schien ein Vergnügen darin zu finden, ihrer Kusine Schwierigkeiten zu bereiten. Sie lachte hart auf.

»Wie wollen Sie denn das anstellen? Glauben Sie nicht, daß ich die Zusammenhänge hundertmal besser verstehe als Sie? Ich weiß, daß es Ihnen hier viel zu gut geht. Sie fürchten, daß mein Vater mir verzeihen und mich wieder in sein Haus nehmen könnte, denn dann müßten Sie ja wieder gehen.«

Virginias Wangen brannten. Sie trat ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Stellas ungerechte Anklagen hatten die Zuneigung zu ihr vollkommen erstickt. Sie faßte einen Entschluß und wandte sich dann langsam zu ihrer Kusine um.

»Nun gut, ich will nicht länger mit Ihnen streiten. Ich tue nur, was meine Pflicht ist, und frage Sie jetzt zum letztenmal, ob Sie das Zimmer verlassen wollen oder nicht?«

»Wenn ich fertig bin, nicht eher!«

Virginia ging quer durch das Zimmer, um zu klingeln. Aber Stella sprang plötzlich von ihrem Sessel auf, packte sie bei den Schultern und riß sie herum. Sie standen beide in der Nähe der Türe, und blitzschnell hatte sie mit der einen Hand den Schlüssel gefaßt und zugeschlossen.

* * *

Ungefähr eine Stunde später eilte Robert Smedley, der ältere der beiden Privatsekretäre, bleich und verstört in das Schlafzimmer von Mr. Phineas Duge. Der Millionär saß vollständig angekleidet am Tisch und trug einige Zahlen in ein Buch ein, das vor ihm auf dem Tische lag.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie jetzt störe,« rief der junge Mann atemlos, »aber Sie fühlen sich wahrscheinlich stark genug, um mit mir in die Bibliothek gehen zu können.«

Mr. Duge zögerte keinen Augenblick. Er wußte nur zu gut, daß sich etwas Wichtiges zugetragen haben mußte. Mit einer Geschwindigkeit, die man dem alten Herrn kaum zugetraut hätte, eilte er die hintere Treppe hinunter und trat kurz darauf in die Bibliothek. Smedley hatte wirklich Grund, bestürzt zu sein, denn ein Stuhl war umgeworfen, und Virginia lag mit dem Gesicht nach unten vor dem Sekretär. Phineas Duge ließ seine Zigarette fallen und kniete neben ihr nieder. Dann sah er, daß ihre Hände und Füße mit einem seidenen Tischtuch zusammengebunden waren, das in Streifen geschnitten war. Ein roher Knebel war ihr in den Mund gesteckt worden. Als er sie berührte, öffnete sie die Augen und stöhnte leicht. Im nächsten Augenblick hatte er sie von ihren Fesseln befreit.

»Bringen Sie mir sofort etwas Kognak,« befahl er dem jungen Mann, »und schweigen Sie über das, was Sie gesehen haben.«

»Jawohl.«

Smedley eilte fort, während sich Duge über Virginia neigte. Langsam kam sie wieder zu sich und sah sich verstört um, als ob sie jemand suchte. Ihr Onkel stellte keine Fragen an sie, da sie sich erst noch mehr erholen sollte.

Smedley brachte gleich darauf den Cognac, und sie flößten ihr etwas davon ein. Phineas Duge ging zur anderen Seite des Sekretärs und fand den erbrochenen Hänger auf dem Fußboden. Der Teppich war zurückgeschlagen, der kleine Stahlsafe stand halb offen, und die Schlüssel staken noch im Schloß. Er öffnete ihn ganz, nahm einige Papiere heraus und sah sie durch. Es war kein Zweifel möglich, das Dokument fehlte. Virginia hatte sich inzwischen mit Smedleys Hilfe in einem Sessel niedergelassen.

»Bist du jetzt wohl genug, daß du mir berichten kannst?«

Sie richtete sich mehr auf und schaute ängstlich auf das Geheimfach im Fußboden.

»Fehlt etwas?« fragte sie leise.

»Ja«, sagte ihr Onkel kurz. »Ich möchte nur wissen, wie es möglich war, daß jemand ins Zimmer kam, und wer es war. Bitte, erzähle es mir schnell!«

»Ich war gerade im Empfangssalon und sprach mit Mr. Littleson, als ich die Alarmglocke hörte, die ich an der Türe der Bibliothek anbringen ließ. Ich ging sofort hierher und fand Stella im Zimmer. Sie hat mich eingeschlossen und mich überwältigt. Ich hatte keine Ahnung, daß sie solche Kräfte besitzt.«

Virginia schloß die Augen und wurde ohnmächtig. Mr. Duge trat an ihre Seite und flößte ihr wieder ein kleines Glas Cognac ein. Dann hob er sie auf und trug sie zu einem Diwan.

»Also Stella, es ist ihr Werk«, sagte er laut. »Das erklärt auch die Nachricht, die ich gestern bekam, daß man sie mit Littleson auf einer Spazierfahrt gesehen hat. Damals hat sie mich an diesen gemeinen Vine verraten, und jetzt ist sie mit den anderen im Bündnis gegen mich!«

Seine Züge verhärteten sich, während er mit den Händen auf dem Rücken auf und ab ging. Unverwandt hingen seine Blicke an der Öffnung im Fußboden. Er hatte einen großen Teil seines Vermögens bei seiner letzten Börsenunternehmung aufs Spiel gesetzt und mußte nun bei der veränderten Lage sofort neue Dispositionen treffen. Er hatte keine Ahnung, wo er seine Tochter finden konnte, wo oder bei wem sie wohnte. Die Öffentlichkeit durfte nichts von diesen Vorgängen erfahren. Während seines langen Aufstiegs hatte er keinen Fehlschlag erlitten und war von Erfolg zu Erfolg emporgestiegen. Alle seine Geschäfte schlugen zu seinem Vorteil aus. Einem gewöhnlichen Mißerfolg hätte er energisch begegnen können, aber diesmal hatte sich etwas ereignet, was er nicht mit Hilfe seines Geldes abwenden konnte. Im Augenblick war er machtlos und konnte die Folgen nicht übersehen. Er hatte sich zu tief in Spekulationen eingelassen, um sich im Moment davon zurückziehen zu können. Es klopfte an der Türe, und Smedley trat ein, um sich noch einmal nach Virginia umzusehen.

»Wie geht es Miß Longworth? Ist sie noch bewußtlos?«

Duge sah gleichgültig auf seine Nichte.

»Sie ist nur ohnmächtig. Wir müssen jetzt an wichtigere Dinge denken.«

»Um was handelt es sich?«

»Sie kennen meine Tochter Stella?«

Smedley sah ihn ernst an.

»Ja, natürlich.«

»Sie war heute nachmittag hier, und alles, was sich ereignet hat, ist ihr Werk.«

»Hat sie etwas fortgenommen?«

»Nein, nichts von Wichtigkeit«, entgegnete Mr. Duge ruhig. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie es gekonnt hätte.«

 


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