E. Phillips Oppenheim
Finanzkönige
E. Phillips Oppenheim

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Kapitel 14.
Verschwunden

Es war zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens, und die Großstadt schlief noch. Der Verkehr in den Straßen hatte sich immer mehr verringert und war allmählich ganz erstorben. In dem Hotel herrschte tiefste Ruhe. Die Lampen in den Korridoren brannten düster, und alle Türen waren geschlossen. Der Fahrstuhl ging schon seit vielen Stunden nicht mehr, denn die letzten Gäste waren schon lange nach Haus zurückgekehrt.

Aber plötzlich öffnete sich im fünften Stockwerk leise eine Türe, und Virginia trat auf den Gang hinaus. Sie hatte einen Morgenrock über ihren Pyjama geworfen und trug weiche Pantoffeln, mit denen sie geräuschlos über den dicken Teppich des Korridors ging. Nachdem sie sich nach allen Seiten umgesehen und keinen verdächtigen Laut gehört hatte, eilte sie schnell über den Gang, steckte einen Schlüssel in die Türe zu Norris Vines Wohnung und öffnete sie vorsichtig. Sie schloß sie hinter sich und blieb dann stehen, um zu lauschen. Alles war still. Die Türe zum Wohnzimmer war nur angelehnt, und Virginia trat nach einem kurzen Zögern ein. Behutsam ging sie zum Fenster und öffnete die Jalousie. Das Morgenlicht erleuchtete den Raum, der einen etwas unordentlichen Eindruck machte. Man sah, daß Vine erst spät nach Hause zurückgekehrt war. Ein Zylinder und ein paar weiße Glacéhandschuhe lagen auf dem Tisch, und auf dem kleinen Schrank stand ein halb ausgetrunkenes Glas Whiskysoda. Verschiedene Zigarettenstummel waren achtlos vor den Kamin geworfen. Hieraus schloß sie, daß sich Norris Vine in der Wohnung befand und schlief.

In größter Eile untersuchte sie das ganze Zimmer. Nach einer Viertelstunde war sie davon überzeugt, daß sich kein weiteres Versteck im Zimmer befand, das ihrer Aufmerksamkeit hätte entgehen können. Der gefährlichste Teil ihres Unternehmens lag nun noch vor ihr. Sie trat wieder in den kleinen Vorraum hinaus und ließ die Türe offenstehen, wie sie sie gefunden hatte. Langsam drückte sie die Klinke zu dem Schlafzimmer herunter, und die Türe öffnete sich ohne Geräusch. Nachdem es ihr gelungen war, sich bis jetzt lautlos zu bewegen, hielt sie einen Augenblick den Atem an. Dann aber nahm sie allen Mut zusammen und wandte sich dem Bett zu. Die dicht zusammengezogenen Vorhänge ließen doch hin und wieder einen Lichtstrahl eindringen, so daß sie ihre Umgebung erkennen konnte. Aber als sie nun auf das Bett schaute, blieb sie wie versteinert stehen und hätte beinahe laut aufgeschrien. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie entsetzt geradeaus. Sie wollte sich bewegen, aber ihre Glieder versagten den Dienst. Ihre Knie zitterten, sie wankte und wäre beinahe gefallen. Aber im letzten Augenblick konnte sie sich noch an dem Sims des Kamins halten. Langsam kam sie wieder zu sich. Sie hatte jetzt nur noch einen Gedanken: Flucht! Sie wußte nicht mehr, warum sie gekommen war, sie wußte nur noch, daß sie schnell von hier fortkommen mußte. Mit unsicheren Schritten ging sie zur Türe hinaus, und es gelang ihr, sie geräuschlos zu schließen, obwohl ihre Hand zitterte. Einige Minuten später war sie wieder in ihrem Zimmer und hatte die Türe abgeriegelt. Sie warf sich aufs Bett, und erst nach einiger Zeit kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie ohnmächtig geworden war.

* * *

Guy hatte die Nacht unruhig verbracht und wenig geschlafen. Als er aufwachte, faßte er einen verzweifelten Entschluß. Einige Stunden nach Virginias Erlebnis in Norris Vines Wohnung fuhr er zu dem Hotel und klopfte an Virginias Türe. Aber er erhielt keine Antwort. Der Zimmerkellner erklärte ihm, daß die junge Dame fortgegangen sei.

»Wann hat sie das Hotel verlassen?« fragte Guy erregt.

»Vor noch nicht einer halben Stunde. Soviel ich weiß, hat sie ihre Rechnung bezahlt und den Schlüssel zu ihrem Raum abgegeben.«

»Hat sie denn eine Adresse zurückgelassen, wohin man ihre Briefe nachsenden kann?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Sie sagte, es würden keine Briefe für sie kommen, und die Direktion könne ihre Zimmer wieder vermieten, da sie nicht mehr zurückkäme.«

»Können Sie mir denn gar keinen Anhaltspunkt geben, wo ich sie finden könnte?« fragte Guy verzweifelt. »Ich bin der Herzog von Mowbray, und ich bin jedem zu großem Danke verpflichtet, der mär hilft, diese junge Dame wiederzufinden.«

Alle Hotelangestellten wurden zusammengetrommelt, aber niemand wußte etwas. Nur der Portier hatte gehört, daß sie einen Chauffeur beauftragt hatte, nach Charing Cross zu fahren.

Guy fuhr zurück zum Grosvenor Square und bestand darauf, seine Tante sofort zu sehen. Unter Protest wurde er vorgelassen und traf sie in ihrem Ankleideraum noch im Morgenrock.

»Aber mein lieber Guy, was soll denn das bedeuten! Du weißt doch, daß ich vormittags für niemand zu sprechen bin!«

»Du mußt mir verzeihen und heute eine Ausnahme machen. Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen soll.«

»Was ist denn los?«

»Virginia ist fort, Sie hat ihre Wohnung im Hotel aufgegeben und keine Adresse zurückgelassen. Wie töricht war es doch von mir, daß ich ihr gestern abend nicht gleich folgte! Sie hat bis heute morgen vergeblich auf mein Kommen gewartet. Es ist unverzeihlich von mir!«

Lady Medlincourt gähnte.

»Bist du hierhergekommen, um mir das zu sagen? Das hättest du auch telefonisch erledigen können.«

»Du hast sie gestern zu rauh behandelt. – Ich war mit ihrem Jawort allein zufrieden. Ich fühle und weiß, daß sie einen guten Charakter hat, und daß auch an ihrer guten Herkunft nicht zu zweifeln ist. Sie ist das einzige weibliche Wesen, das ich auf dieser Welt geliebt habe!«

»Ich verstehe nicht, warum du mir hier solchen Unsinn erzählst. Wenn du sie tatsächlich so liebst, dann geh doch aus und suche sie. Du kannst ja heiraten, wen du willst, auch das Blumenmädchen, das unten an der Straßenecke Veilchen verkauft, wenn es dir Spaß macht. Du kannst aber von deinen Freunden später nicht verlangen, daß sie deine Frau gesellschaftlich anerkennen. Warum bist du eigentlich hergekommen? Soll ich dir einen Rat geben oder soll ich dich trösten? Rat nimmst du ja doch nicht von mir an, und trösten kann ich dich nicht. Also geh jetzt bitte wieder. Ich will baden, und der Friseur wartet.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Guy um und verließ das Haus. Es blieb ihm nichts übrig, als zu einem Privatdetektiv zu gehen, obgleich er es nicht gerne tat.

»Aber die junge Dame darf nicht irgendwie belästigt werden, wenn man ihren Aufenthaltsort ausfindig macht«, gab er ausdrücklich an. »Ich will nur wissen, wo sie ist. Alles andere ist meine Sache. Haben Sie mich verstanden?«

»Vollkommen«, entgegnete der Inhaber des Büros. »Wie steht es mit den Ausgaben? Haben wir unbegrenzte Vollmacht?«

»Ja. Ich habe nur den einen Wunsch, sie wiederzufinden!«

 


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