E. Phillips Oppenheim
Finanzkönige
E. Phillips Oppenheim

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Kapitel 8.
Ein Versuch

Virginia atmete erleichtert auf. Es war viel leichter gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie war einfach in das Hotel gegangen, hatte sich mit dem Lift bis zum fünften Stockwerk hinauffahren lassen und dann das Zimmer Nr. 57 betreten. Zuerst fürchtete sie, einer der Hotelangestellten könnte in dem Zimmer sein, aber das war nicht der Fall. Sie befand sich jetzt in einem kleinen Vorplatz, auf den drei Türen mündeten. Die mittlere und die rechte waren geschlossen, nur die linke stand auf. Sie führte zu einem einfach, aber gemütlich möblierten Wohnzimmer. Sie trat ein und schloß die Türe hinter sich.

Gleich darauf fiel ihr ein, daß das nicht richtig war; sie ging leise zurück und öffnete sie wieder, so daß sie etwa eine Handbreit offenstand. Schnell sah sie sich in dem Zimmer um. Nur an einem Platz konnten so wichtige Dokumente versteckt sein, und zwar in dem kleinen Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Sie setzte sich nieder und sah alle Papiere durch, die sie fand. Es waren Rechnungen, Quittungen, Prospekte und andere gleichgültige Schriftstücke. Nachdem sie vergeblich alle Schubladen durchsucht hatte, schloß sie den Schreibtisch mit einem Seufzer und warf sich in einen Sessel, der vor dem Kamin stand. Aber plötzlich schrak sie zusammen, als die äußere Türe behutsam geöffnet wurde.

Sie hatte das Gefühl, daß jemand draußen stand und zögerte, näherzutreten. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft schnell. Sicher war es nicht Norris Vine. Der wäre hereingekommen. Sie tat so, als ob sie eine illustrierte Zeitschrift läse, die sie eben aufgenommen hatte. Durch den offenen Spalt konnte sie sehen, daß die Haupttüre langsam Zoll für Zoll weiter aufgemacht wurde, und daß jemand hereinschaute. Sie zwang sich zur Ruhe und hörte nach kurzer Zeit, daß draußen vorsichtig eine Tür geöffnet wurde. Sie führte wahrscheinlich zu Vines Schlafzimmer, in dem sich der Eindringling verstecken wollte. Virginia legte einen Augenblick die Zeitung beiseite und versuchte nachzudenken. Im nächsten Zimmer, nur ein paar Schritte von ihr entfernt und der Haupttüre näher als sie selbst, verbarg sich jemand, der Norris Vine für die ausgesetzte Belohnung ermorden wollte. Was würde sich ereignen, wenn sie still sitzen blieb? Norris Vine mußte jetzt jeden Augenblick kommen. Der Mörder wartete wahrscheinlich hinter der Türe, und der Angriff erfolgte sicher schnell und überraschend. Am Ende würde dieser Mensch sie hier einschließen, wenn er sie entdeckte, oder vielleicht warteten noch schlimmere Dinge auf sie. Auf jeden Fall war in ihrer nächsten Nähe ein Mann versteckt, der einen Mord begehen wollte. Sie war nur durch eine Türe von ihm getrennt, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Wie sollte sie Norris Vine warnen? Sie erhob sich unruhig, setzte sich aber wieder. Allein der Gedanke, sich dem Zimmer zu nähern, in dem dieser Mann wartete, erfüllte sie mit Schrecken. Und doch war es ebenso gefahrvoll, zu bleiben, wo sie war, denn sie konnte Vine nicht verständigen, wenn er die Wohnung betrat. Sie war demjenigen ausgeliefert, der bei dem Kampfe die Oberhand gewann. Vielleicht kannte der Mann im Nebenzimmer ihre Absicht schon und hatte sich längst überlegt, wie er mit ihr fertig werden würde. Sie lauschte mit angehaltenem Atem, und ihre Furcht wuchs immer mehr. Gespannt wartete sie auf den Augenblick, in dem Vine den Griff der Wohnungstüre niederdrücken würde. Sie hatte sich so gesetzt, daß sie den Eingang im Auge behalten konnte.

Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Sie schrak zusammen und wußte zuerst nicht, was sie tun sollte. Aber dann ging sie zu dem Apparat hinüber und nahm den Hörer ab. Im selben Augenblick hörte sie draußen eine leise Bewegung. Der Mann im Nebenzimmer wollte wahrscheinlich auch erfahren, wer Norris Vine zu so später Stunde noch anrief.

»Wer ist dort?« fragte eine Männerstimme kurz.

»Coniston Mansions Nr. 57«, entgegnete Virginia. Sie verstellte ihre Stimme so gut wie möglich.

»Wer spricht denn mit mir? Das ist doch auf keinen Fall Janion?«

Virginia wußte jetzt, daß der Mann am anderen Ende der Leitung Norris Vine selbst war. Bevor sie antwortete, zögerte sie und überlegte dann ihre Worte genau, da der Mann vom Nebenzimmer mithörte.

»Nein, hier ist nicht Janion. Was wünschen Sie denn?«

»Ich möchte wissen, ob mein Kammerdiener dort ist. Wer sind Sie denn, und was tun Sie in meiner Wohnung?«

»Was, der ist aufs Land verreist?« rief Virginia möglichst laut und erstaunt. »Heute abend kommt er also nicht hierher?«

»Was schwätzen Sie denn für einen Unsinn!« sagte Vine ärgerlich. »Ich bin Norris Vine, und ich will jetzt endlich hören, wer Sie sind, und was Sie dort tun?«

»Wenn er nicht kommt, sollten Sie doch etwas vorsichtiger sein, bevor Sie mich hier in eine leere Wohnung schicken. Ich habe hier nun schon eine halbe Stunde auf einen Mann gewartet, der kurz vor elf kommen soll, und nun sagen Sie mir, daß er heute aufs Land gereist ist. Warum vergewissern Sie sich denn nicht, bevor Sie mir einen solchen Auftrag geben? Sie glauben alles, was man Ihnen sagt, und halten die Sache damit für erledigt. Was soll denn nun werden? Wer zahlt mir meine Zeit, die ich hier unnütz vertan habe? Von dem Risiko, daß man mich für einen Dieb hält, will ich gar nicht reden!«

»Wenn Sie mir nicht sofort sagen, wer Sie sind,« erklärte Vine jetzt laut, »dann komme ich selbst mit einem Polizisten in die Wohnung. Können Sie denn nicht verstehen, daß ich meinen Diener Janion sprechen will? Er soll meinen Frack zum Klub bringen.«

»Natürlich bleibe ich nicht hier«, erwiderte Virginia entrüstet. »Welchen Zweck hätte es denn, noch hier zu warten, wenn dieser Mann erst in den nächsten Tagen wiederkommt? Ich bin jedenfalls fort, bevor die Polizei kommt. Hängen Sie jetzt bitte ein.«

»Wenn Sie noch entwischen wollen, müssen Sie schnell machen. Ich rufe jetzt die Hoteldirektion an.«

Virginia hängte ein. Sie zögerte einen Augenblick vor dem Spiegel, als ob sie ihren Hut besser aufsetzen wollte. In Wirklichkeit wollte sie nur dem Horcher Zeit geben, sein Versteck wieder aufzusuchen. Dann ging sie mit klopfendem Herzen, aber festen Schritten zur Türe und öffnete sie kühn. Der kleine Vorraum war leer. Sie öffnete die Wohnungstüre, die auf den Korridor führte. Wenn sie die erst hinter sich hatte, war sie sicher. Zum erstenmal sah sie, daß der Schlüssel zur Wohnungstüre auf der Innenseite steckte. Sie zog ihn ab und ging nach draußen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wenn sie nun die Türe verschloß und um Hilfe rief, war der Mann gefangen, der Norris Vine ermorden wollte. Aber hatte sie dadurch irgendeinen Vorteil? Und konnte sie selbst ihre Anwesenheit erklären?

Sie kam zu der Überzeugung, daß es besser war, ihn entkommen zu lassen, ging rasch zum Fahrstuhl und klingelte. Dann wandte sie sich um und sah gespannt nach der Türe, die zu Vines Wohnung führte. Es brannte nur eine schwache Lampe im Korridor, und vom Dienstpersonal war niemand zu sehen. Gespannt sah sie auf den Türdrücker. Was würde nun geschehen, wenn der Mann herauskam, bevor sie in dem Lift war. Wieder klingelte sie und hörte endlich zu ihrer größten Beruhigung, daß sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Gerade als sie einstieg, öffnete sich die Wohnungstüre vorsichtig. Erschöpft sank sie auf den gepolsterten Sitz.

»Bitte, zum Parterre«, sagte sie. »Kommt Mr. Vine gewöhnlich auf diesem Wege zu seinen Räumen?«

»Abends immer. Der andere Fahrstuhl fährt nämlich nach elf Uhr nicht mehr.«

Sie erreichte die Eingangshalle. Der Portier öffnete die Flügeltüre und Virginia trat ins Freie hinaus. Auf der anderen Seite der Straße wartete sie und beobachtete den Hoteleingang. Nach zehn Minuten kam ein Herr in Frack und Zylinder heraus, der einen weißen Seidenschal um den Hals gebunden hatte. Er rauchte eine Zigarette und trug einen Spazierstock mit Silbergriff in der Hand. Virginia ging wieder auf die andere Seite des Fahrdamms, mischte sich unter die Menschenmenge und folgte dem Mann in kurzer Entfernung. Gleich darauf rief er ein Auto an.

»Claridge Hotel, so schnell wie möglich!«

Sie fuhr zusammen, denn sie hatte nicht nur die Stimme des Mannes erkannt, der heute nachmittag im Café hinter ihr gesessen hatte, sondern sie wußte plötzlich auch, daß er zu den drei Leuten gehörte, die sich beim Abendessen so aufdringlich benommen hatten.

 


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