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In der Frühe des nächsten Morgens hielt Littlesons Wagen vor dem Büro von Mr. Weiß. Ohne sich anmelden zu lassen, ging der junge Mann sofort zu dem Privatzimmer seines Freundes.
»Haben Sie die neueste Entwicklung der Dinge gehört?« fragte er schnell.
»Nein, was gibt es denn?«
»Phineas Duge ist wieder in der City aufgetaucht. Er ging zu Harry Golds, als ich gerade herauskam. Ich versuchte, mit ihm zu sprechen, aber er hat mich einfach geschnitten. Er hat alle seine Börsenagenten und Makler zu einer Besprechung zusammengerufen, und ich glaube, daß wir heute Verschiedenes auf dem Markt erleben werden. Er wird alles tun, um die Börse zu beunruhigen.«
»Dann war seine Krankheit also nur Vorwand. Wir können das unter keinen Umständen zulassen. Ich will zu seinem Büro gehen. Wir müssen mit ihm sprechen.«
Er gab einem seiner Sekretäre kurze Instruktionen und sah die letzten Notierungen der Börse durch.
»Das bedeutet Krieg bis aufs Messer«, meinte er. »Es wird einen harten Kampf geben. Aber ich verstehe nicht, warum er plötzlich mit uns brechen will.«
Ein Angestellter trat ins Zimmer.
»Miß Virginia Longworth wünscht Sie zu sprechen«, meldete er.
Weiß und Littleson wechselten schnelle Blicke.
»Lassen Sie die Dame sofort nähertreten«, sagte Weiß.
Gleich darauf kam Virginia herein. Sie sah sehr blaß und angegriffen aus, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Stephen Weiß erhob sich sofort und beeilte sich ihr einen Stuhl anzubieten. Aber sie nahm keine Notiz davon. Sie war sehr aufgeregt, und das Sprechen fiel ihr schwer.
»Was kann ich für Sie tun, Miß Longworth?« fragte Weiß. »Ich hoffe –«
»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu erklären, daß Sie beide gemeine Diebe sind«, unterbrach sie ihn. »Geben Sie mir das Schriftstück sofort zurück, das Sie gestohlen haben, sonst kümmere ich mich nicht darum, was mein Onkel sagt, und melde die Sache sofort der Polizei.«
Littleson und Weiß sahen sich erstaunt und betroffen an, dann nahm Weiß seinen Freund auf die Seite.
»Stella hat das Dokument«, sagte er in triumphierendem Ton. »Schicken Sie die junge Dame so schnell wie möglich weg. Wir können froh sein, daß wir die Nachricht von ihr erhalten haben.«
Weiß wandte sich an Miß Longworth.
»Ich wäre zum Dieb geworden, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, und Sie wären ein Dieb gewesen, wenn Sie das Dokument für mich gestohlen hätten, das uns von rechtswegen gehört. Wir hatten moralisch das Recht, uns dieses Schriftstück anzueignen. Aber tatsächlich haben wir es nicht in unserem Besitz. Als Sie mir gemeldet wurden, hoffte ich, Sie würden mir das Papier bringen.«
»Sie wollen also behaupten, daß Sie es nicht haben?« rief sie verächtlich.
»Das versichere ich Ihnen auf mein Ehrenwort«, erklärte Littleson.
»Vielleicht wollen Sie auch abstreiten, daß Sie meine Kusine Stella dazu überredeten, ihren eigenen Vater zu berauben?«
Die beiden sahen sich wieder an. Littlesons Vermutung war also richtig. Stella hatte Erfolg gehabt, nachdem alle anderen versagten!
»Wir wissen nichts von Miß Duge«, erwiderte Littleson. »Auch haben wir das Schriftstück weder von anderer Seite erhalten, noch überhaupt etwas darüber erfahren. Wenn Miß Stella es gestohlen hat, so hat sie es jedenfalls nicht zu uns gebracht. Das ist das Einzige, was ich Ihnen sagen kann.«
Virginia sah, daß sie die Wahrheit sprachen, und wandte sich zur Tür.
»Dann verstehe ich die Zusammenhänge nicht mehr«, entgegnete sie. »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich will jetzt gehen.«
Sie eilte zu ihrem Wagen, der draußen auf sie wartete, und fuhr zu Stella, die in einem Hotel wohnte. Ein Page empfing sie unten in der Eingangshalle und brachte sie mit dem Fahrstuhl zu den Räumen ihrer Kusine. Als sie an die Türe klopfte, öffnete ihr Stella selbst, schrak aber zurück, als sie Virginia erkannte.
»Sie sind es?« rief sie bestürzt.
Virginia trat ins Zimmer.
»Was haben Sie mit dem Dokument gemacht, das Sie aus dem Geheimfach meines Onkels stahlen?«
Stella schloß die Türe und sah ihre Kusine ruhig an, die sie beim Packen gestört hatte. Kleider und Hüte lagen im Zimmer umher, und im Zimmer nebenan nahm eine Zofe Wäsche aus dem Schrank. »Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte sie Virginia. »Sie glauben doch nicht, daß ich alle diese Gefahren auf mich genommen habe, um nachher das Schriftstück wieder aus der Hand zu geben, das ich mir mit so großer Mühe beschafft habe? Sie brauchen mich nicht anzusehen, als ob Sie auf mich losspringen wollten. Ich habe das Dokument natürlich nicht hier in meiner Wohnung. Schon vor vielen Stunden habe ich es fortgebracht!«
»Wem haben Sie es gegeben?« fragte Virginia scharf.
»Das wird mein Vater eines Tages erfahren. Aber es geht ihn ja kaum etwas an. Die Leute, die durch die Veröffentlichung des Schriftstückes getroffen werden, verdienen ihre Strafe. Ich sah, daß mein Vater viel zu klug war, um seinen Namen darunter zu setzen.«
»Sie haben das Dokument also nicht Mr. Littleson und seinen Freunden gegeben?«
»Nein,« erwiderte Stella lachend, »obgleich sie mir die Summe von hunderttausend Dollars dafür geboten haben.«
Virginia setzte sich. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und am Morgen kein Frühstück zu sich genommen. Tränen standen in ihren Augen.
»Stella, Sie haben sehr grausam an mir gehandelt und mein Leben ruiniert. Ihr Vater hat so viel für meine Familie getan, aber jetzt wird das alles aufhören, und er wird mich wieder zurückschicken. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, wieder in diese ärmlichen Verhältnisse zurückkehren zu müssen.«
»Ich kann nicht einsehen, daß mein Vater Sie dafür verantwortlich machen könnte.«
Virginia schüttelte traurig den Kopf.
»Er gehört zu den Menschen, die nur nach dem Erfolg urteilen. Er hat mir vertraut, und es ist ihm gleich, ob es mein Fehler oder mein Mißgeschick war, daß ich keinen Erfolg hatte. Stella, bedeutet es denn so viel für Sie, dieses Dokument zu behalten? Warum bringen Sie es denn nicht zurück? Sie könnten sich doch dadurch mit Ihrem Vater wieder aussöhnen. Ich will ja auch gerne meine Stellung bei ihm aufgeben, wenn er nur dieses Papier wieder zurückerhält.«
Stella lächelte ein wenig bitter.
»Jetzt muß ich Ihnen aber sagen, daß Sie meinen Vater nicht verstehen. Er wird mir nie wieder verzeihen, und ich wünsche seine Verzeihung auch gar nicht. Wenn Sie geglaubt haben, ich ließe mich zum Werkzeug von Littleson und Weiß machen, dann haben Sie sich schwer geirrt. Dieses Dokument habe ich mir nur im Interesse des Mannes angeeignet, den ich liebe. Es ist ganz gleich, wie er heißt und wer es ist. Aber wenn es meinen Vater glücklicher macht, können Sie ihm ja ruhig sagen, daß seine Geschäftsfreunde jetzt nicht sicherer sind als zu der Zeit, da er dieses Schriftstück noch besaß.«
Virginia sah sich traurig im Zimmer um.
»Und Sie wollen fortreisen?«
»Ja, ich gehe nach Europa. Ich hasse die ganze Atmosphäre hier. Es ist ein unnatürliches, häßliches Leben. Ich will in eine Gegend gehen, wo die Leute einfacher und ehrlicher sind, nicht spekulieren und in nutzlosem Luxus ihre Kraft vergeuden.«
»Werden Sie sich verheiraten?«
Stella wandte sich ab, so daß ihr Gesicht nicht zu sehen war.
»Nein, ich glaube nicht.«
Ein kurzes Schweigen folgte, und Virginia erhob sich.
»Sie sind böse zu mir gewesen, Stella. Ich hätte ja klingeln können, dann hätte man Sie hinausgewiesen. Aber ich wollte im Hause Ihres Vaters keine Gewalt gegen Sie anwenden.«
»Es tut mir leid«, erwiderte Stella leise. »Ich bin auch wie all die anderen törichten Frauen, die einen Mann lieben. Ich tue alles für ihn. Fürchten Sie sich nicht und glauben Sie nicht, daß ich nicht auch darunter leide. Wenn Sie meinen Rat annehmen wollen, so gehen Sie in Ihre Heimat zurück und führen dort ein einfaches Leben. Sie sind nicht für die Großstadt geboren. Ich war früher auch ganz anders. Gehen Sie zurück, solange es noch Zeit ist. Ich kann nichts für Sie tun, es hat also keinen Zweck, daß Sie noch hier bleiben. Aber wenn Sie jemals in Not kommen sollten und Hilfe brauchen, dann schreiben Sie an meine Rechtsanwälte, Barring & Co., entweder nach London oder nach Paris. Ich werde alles für Sie tun, was in meinen Kräften steht.« –
Virginia fuhr nach Hause zurück und kleidete sich mechanisch um. Gegen acht Uhr stieg sie furchtsam die Treppe zum Speisesaal hinunter. Ihr Onkel saß bereits auf seinem Platz, erhob sich ernst, als sie eintrat, und setzte sich wieder, als sie sich niedergelassen hatte. Seine Gesichtszüge glichen einer Maske. Er sagte nichts, und die paar Bemerkungen, die sie während des Essens machte, bezogen sich nur auf allgemeine Dinge. Aber nach dem Dessert raffte sie schließlich ihren Mut zusammen und sprach über den Einbruch und seine Folgen.
»Onkel, ich muß dir noch Verschiedenes mitteilen. Ich war heute in dem Büro von Mr. Weiß. Er wußte nichts davon, daß das Dokument nicht mehr in deinem Besitze ist. Dann ging ich zu Stella, und sie sagte mir, daß sie das Schriftstück nicht im Interesse und im Auftrag dieser Leute genommen hat, trotzdem sie ihr die Summe von hunderttausend Dollars dafür geboten haben.«
Wenn Phineas Duge erstaunt war, zeigte er es doch in keiner Weise. Er sah seine Nichte nur einen Augenblick forschend an, bevor er antwortete.
»Stella hat die Macht in ihrer Hand nutzlos weggeworfen«, sagte er kühl. »Norris Vine steht dicht vor dem Ruin. Wenn ich will, kann ich ihn in den nächsten Tagen zu Fall bringen.«
Ein hartes, grimmiges Lächeln lag auf seinen Zügen.
»Nun wundere ich mich nicht mehr, warum meine Geschäftsfreunde noch immer in einer so tödlichen Furcht leben.«
Virginia erhob sich traurig und niedergeschlagen.
»Onkel, ich habe das Vertrauen, das du in mich gesetzt hast, nicht rechtfertigen können. Ich nehme an, daß du mich nicht länger brauchen kannst, und halte es für besser, daß ich nach Hause zurückkehre.«
Er nahm seine Brieftasche heraus, überzeugte sich von dem Inhalt und reichte sie ihr über den Tisch hinüber.
»Ganz wie du willst. Ich habe eine große Schwäche, aus der ich kein Hehl mache. Ich kann keine Leute um mich dulden, die einen Mißerfolg hatten, und da du zu ihnen gehörst, so möchte ich nicht, daß du hier bleibst. Solltest du aber irgendwie die Möglichkeit haben, die Folgen deiner Unvorsichtigkeit mit Hilfe dieses Geldes wieder gutzumachen, dann kannst du zu mir zurückkehren. Ich würde dich dann gerne wieder aufnehmen. Mit dieser Summe kannst du dich mindestens ein Jahr lang frei bewegen. Ich überlasse es dir, wie du dich entscheiden willst.«
Nach diesen Worten verließ er das Speisezimmer.
Virginia stand am Tisch. Sie hatte die Brieftasche genommen und sah ihm nach. Als er gegangen war, sank sie wieder in ihren Stuhl und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Einen Augenblick vergaß sie, wo sie war. Der Duft der Rosen, mit denen der Tisch verschwenderisch geschmückt war, erinnerte sie an den kleinen Garten in ihrer Heimat und an das glückliche Leben, das sie dort geführt hatte.