Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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46.
Selbstgespräch eines Mannes, der mit seinem Nachdenken unglücklich weit kömmt.

Mehr als recht hat die Frau; aber was will ich machen? Ich kann nicht helfen. Unmöglich kann ich mir aus allem, worin ich stecke, heraushelfen. So sagte er, fluchte dann wieder auf Arner, als ob dieser ihm alles auf den Hals gezogen, und dann auf den Pfarrer, daß er ihn auch noch in der Kirche rasend gemacht habe. Dann kam er wieder auf den Markstein, und sprach: Ich versetze ihn nicht, den verwünschten Stein; aber wenn es jemand täte, so würde der Junker um den dritten Teil seiner Waldung kommen. Dann wieder: Das ist ganz richtig! der achte und neunte obrigkeitliche Markstein würden ihm das Stück in gerader Linie wegschneiden. Aber behüte mich Gott davor, ich versetze keinen Markstein! Dann wieder: Wenn es auch kein rechter Markstein wäre? Er liegt da, wie seit der Sintflut; er hat keine Nummer und kein Zeichen. Dann ging er in die Stube, nahm sein Hausbuch, rechnete, schrieb, blätterte, tat Papiere voneinander, legte sie wieder zusammen, vergaß, was er gelesen, suchte wieder, was er eben geschrieben hatte, legte dann das Buch wieder in den Kasten, ging die Stube auf und ab, und dachte und redete immer mit sich selber vom Markstein ohne Schloßzeichen und Nummer. »Sonst ist kein einziger Markstein ohne Zeichen. Was mir in Sinn kömmt! Ein alter Arner soll die obrigkeitliche Waldung so hart beschnitten haben. Wenn es auch hier wäre? Bei Gott, es ist hier! Es ist die unnatürlichste Krümmung in die obrigkeitlichen Grenzen hinein. Bei zwei Stunden geht sie sonst in geraderer Linie als hier, und der Stein hat kein Zeichen und die Scheidung keinen Graben. Wenn die Waldung der Obrigkeit gehörte, ich täte dann nicht unrecht; ich wäre treu am Landesherrn. Aber wenn ich mich irrte? Nein, ich versetze den Stein nicht! Ich müßte ihn umgraben; in der finstern Nacht müßte ich ihn einen starken Steinwurf weit auf der Ebene fortrücken bis an den Felsen, und er ist schwer. Er läßt sich nicht versenken wie ein Brunnquell. Am Tage würde man jeden Karststreich hören, so nahe ist er an der Landstraße, und zu Nacht . . . Ich darf nicht, ich würde vor jedem Geräusche erschrecken. Wenn ein Dachs daher schliche, oder ein Reh aufspränge, ich würde ohnmächtig bei der Arbeit hinsinken. Und wer weiß, ob nicht im Ernst ein Gespenst mich über der Arbeit ergreifen könnte? Es ist wahrlich unsicher des Nachts um die Marksteine, und es ist besser, ich lasse es bleiben.«

Nach einer Weile sagte er dann wieder: Warum wohl so viele Leute weder Hölle noch Gespenster glauben? Der alte Schreiber glaubte von allem kein Wort; und der Vikari – es ist bei Gott! nicht möglich, daß er etwas geglaubt hat. Der Schreiber sagte es überlaut und wohl hundertmal zu mir: Wenn ich tot sein werde, da sei es mit mir aus wie mit meinem Hund oder mit meinem Roß. Er glaubte das, fürchtete sich vor nichts, und tat, was er wollte. Wenn er recht gehabt hätte? Wenn ich es glauben könnte, wenn ich es hoffen dürfte, wenn ich es in mein Herz hinein bringen könnte, daß es wahr wäre – bei der ersten Jagd würde ich hinter den Gebüschen Arnern auflauern und ihn totschießen; ich würde dem Pfaffen sein Haus abbrennen. Aber es ist vergebens; ich kann es nicht glauben, ich darf es nicht hoffen. – Es ist nicht wahr! Narren sind es, verirrte Narren, die es glauben, oder sie tun nur dergleichen. – O, o, es ist ein Gott! es ist ein Gott! – Markstein, Markstein, ich versetze dich nicht!

So redete der Mann und zitterte, und konnte dieser Gedanken nicht los werden. Entsetzen durchfuhr sein Innerstes. Er wollte sich selbst entfliehen, ging auf die Straße, zum ersten besten Nachbar, sprach mit ihm über Wetter und Wind und von den Schnecken, die im Herbst vor drei Jahren den Roggen verdünnert hatten. Dann kam er nach einer Weile mit ein paar Durstigen wieder in sein Wirtshaus, gab ihnen zu trinken, daß sie blieben, nahm noch ein Jastpulver vom Scherer, und brachte so endlich den Tag des Herrn zu Ende.


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