Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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169.
Zu einem guten Ziel kommen ist besser als viele Wahrheiten sagen.Dieser Abschnitt ist der Ausgabe von Pestalozzis sämtlichen Schriften (1819) entnommen. Die früheren Ausgaben enthielten Hummels Lebensgeschichte in Form einer Predigt, welche der Pfarrer über den armen Sünder hielt, während der Verurteilte unter der Kanzel allem Volk zur Schau dargestellt wurde. Der Geist der Zeit hat in Rücksicht auf öffentliche Strafen eine merkwürdige Umgestaltung erfahren, indem man allgemein einsieht, daß öffentliche Ausstäupungen, Pranger und Stuhlpredigten weder dem Unglücklichen selbst noch dem Volke frommen. Anmerkung des Herausgebers

Nun näherte sich der Tag, an welchem der Pfarrer den Vogt der Gemeinde wieder vorstellen, und über ihn predigen sollte. Aber schon am ersten Abend, nachdem er als Gefangener ins Pfarrhaus gebracht worden war, und ihn der Pfarrer auch auf diese Strafe, die noch auf ihn warte, vorbereiten wollte, zeigte er das äußerste Entsetzen vor dieser Strafe, und sagte gerade heraus: er wollte lieber noch einmal unter den Galgen als unter die Kanzel stehen. Der Pfarrer konnte den äußersten Grad des Entsetzens nicht begreifen, wollte ihm Vorstellungen machen, und sagte: Das ist entsetzlich geredet! Der Vogt erwiderte: Ich kann nicht helfen. Unter dem Galgen wußte ich, daß ich dem Henker unter den Händen sei, und meine Vergehungen kamen mir an diesem Ort so lebendig vor Augen, daß ich, bis zum Einsinken von ihnen ergriffen, nicht sah, was um mich her und mit mir vorging. In der Kirche aber wird es durchaus nicht also sein; es wird mir nicht sein, ich leide eine Strafe, es wird mir nur sein, man treibe das Gespött mit mir; und die Hundert und Hundert, die ich dann mich kaltblütig und boshaft angaffen sehen werde, werden mir tausend und tausend Sachen in den Kopf bringen, von denen ich wünschen muß, daß keine einzige von allen bis an mein Grab mir in Kopf komme.

Der Pfarrer tat etliche Stunden nacheinander alles, um ihn von dieser leidenschaftlichen Ansicht dieser Strafe abzulenken; aber es war unmöglich. Tränen flossen ihm haufenweise über die Wangen, wenn der Pfarrer nur ein Wort davon anfing. Einmal sagte er gerade heraus: Denkt, Herr Pfarrer, wie es mir wird sein müssen, wenn die Vorgesetzten, die um kein Haar besser als ich sind, und von denen viele, wenn ihre Taten näher untersucht würden, eben wie ich unter den Galgen gehörten, in ihren Kirchenstühlen wie heilige Männer dastehen, und ihre Weiber, die ich so oft in meinem Haus voll und toll sah, anstatt auf Ihre Predigt zu achten, die ganze Zeit über ihre Augenweide an meinem Dastehen haben werden! Herr Pfarrer, denket, was alles dieses für einen Eindruck auf mich haben wird, und habet wenigstens Mitleiden mit mir, wenn ihr es nicht ändern könnet. Gewiß aber ist, ich wollte lieber noch einmal unter den Galgen als unter die Kanzel.

Der Pfarrer ward durch diese Vorstellung wirklich bewegt, suchte aber noch ein paarmal ihn von dieser Ansicht seiner ihm noch bevorstehenden Strafe zurückzulenken. Da er es aber unmöglich fand, schrieb er gegen das Ende der zweiten Woche seiner Gefangenschaft dem Junker folgenden Brief:

Wohledelgeborner, gnädiger Herr!

Ich bin schon wieder in der Lage, Sie zu bitten, dem Vogt das unter der Kanzel stehen zu schenken, wie ich Sie gebeten, dem Treufaug das Grabmachen zu schenken. Ich redete, sobald er als Gefangener ins Pfarrhaus gebracht wurde, mit ihm, und wollte ihn auf das unter die Kanzel stehen, das auf ihn warte, vorbereiten; aber er sagte mir, er wollte lieber noch einmal unter den Galgen als so in die Kirche. Ich fand es im Anfang unverschämt, und konnte es nicht begreifen; aber er erklärte sich über den Einfluß, den diese Strafe auf ihn machte, so lebhaft, daß ich einsah, sie werde weder auf ihn noch auf das Volk einen wohltätigen, sondern einen sie beiderseits so verwildernden Einfluß haben, wie keine Kirchenhandlung je einen solchen auf einen Menschen haben soll. Ich muß also, wenn ich meiner Ueberzeugung folgen will, Ew. Gnaden bitten, den Mann am Sonntag in seinem Gefängnis zu lassen, und mich mit der Gemeinde allein reden zu lassen usw.

Der Junker antwortete ihm auf der Stelle.

Lieber Herr Pfarrer!

Sie fassen meine Strafurteile alle mit so viel Menschenkenntnis und Menschenfreundlichkeit ins Auge, daß ich fast denke, ich sollte keines mehr ausfertigen, ohne es vorher durch Ihre Zensur passieren zu lassen, und doch bin ich gar nicht der Meinung, daß die bürgerlichen Urteile viel gewinnen würden, wenn sie alle nur durch ein kirchliches Exequatur als gültig und vollständig erklärt werden müßten. Ihre Ansicht des Gegenstandes ist indessen so richtig und auffallend, daß ich fast nicht begreifen kann, daß solche Strafen Jahrhunderte bestehen konnten, ohne daß ihre Unschicklichkeit jemals öffentlich zur Sprache kam. Leben Sie wohl, lieber Herr Pfarrer etc. etc.

Zufrieden ging jetzt der Pfarrer auf seine Studierstube, und bereitete sich auf seine Morgenpredigt. Er hatte aber schon vorgestern die Lebensbeschreibung des Vogts aus der Hauptstadt gedruckt zurückerhalten, und sie in der ganzen Gemeinde austeilen lassen. Sie lautet wörtlich also.


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