Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Drittes Kapitel

Die Taufe des Bruders war das erste ganz große Fest in der Familie, dessen ich mich entsinne.

Ich freute mich auf den neuen Samtanzug, den ich zum erstenmal anziehen durfte, auf den vielen Kuchen, auf die Rede des Pastors und darauf, daß ich sicherlich an diesem Tag länger aufbleiben durfte.

Der Samtanzug war denn auch sehr schön. Erst viele Jahre später hab' ich auf einem Bilde, denn ich bin darin photographiert, entdeckt, daß er quer über die Brust eine Naht hat. Was nicht die Regel bei Samtanzügen ist und wohl daher kam, daß der meine aus einem Rock meiner Mutter hergestellt war. Der Kuchen war wirklich reichlich, und der Pastor Knospe redete sehr lange.

Und alles war, während er redete, so still, daß man Tante Tüßchens Seidenkleid, das ihr ein bißchen eng geworden war in den Nähten, zuweilen krachen hörte, wenn der Pastor Knospe Atem holte. Das tat er aber oft und lang und sah dabei nach der Decke, als ob ihm der Leitfaden für die Fortsetzung seiner Gedanken da oben vom Plafond herunterkommen müsse.

Zunächst äußerte er, es sei schön, daß wir uns hier alle im Zeichen des christlichen Sakraments zusammengefunden hätten, und wir sollten uns alle der Weihe dieser Stunde wohl bewußt werden. Dann sagte er, daß dieser kleine »Hermann Otto Wilhelm« jetzt ein Christ sei, wenn er auch noch nichts davon wisse. Das sei aber das Schöne und Heilige am Himmel, daß er sich in seiner Gnade bereits derer annehme, die sich so etwas noch gar nicht verdienen konnten. Dann sprach er von den Aposteln und wie sie getauft hätten – aber da verlor ich ein wenig den Faden, weil unten auf der Straße jemand »Frische Erdbeeren« ausrief. Und die heilige Taufe sei ein Symbol – an dieser Stelle kniff mich Mathilde heftig in den Oberarm und fragte mich, was das sei ein »Symbol«; worauf ich ihr antwortete, sie sei eine Gans. Denn ich wußte es selbst nicht. Und dieses Symbol der heiligen Taufe verbinde nun dieses liebe Menschenkind noch inniger mit uns allen. Hier senkte Frau Margarethe Morgenthau bescheiden ihre große schwarze Haarkrone, denn sie hatte an diesem Vormittag erst die Synagogensteuer bezahlt.

Meinem Vater, der nicht sehr kirchlich gesinnt war, mochte die Rede ein bißchen lang scheinen. Er sah zweimal verstohlen auf die Uhr. Meine gute Mutter, die noch etwas blaß und schmal aussah, saß in einem geblümten Seidenkleide, sehr feierlich aufgebaut, zwischen zwei rund geschnittenen Oleandern, die sonst unten am Hauseingang das Glasdach flankierten, und deren glänzend grüne Zweige sie jetzt kitzelten, wenn sie den Kopf bewegte. Der Senator Buck, der persönlich, wie sein Titel, übriggeblieben war aus der stolzen Zeit der Freien Reichsstadt und mit seinem pergamentnen Vogelskopf aussah wie ein Pharao der siebzehnten Dynastie, dem sie einen weißen Schäferbart zu tief unter den Hals gehängt haben, lehnte geschlossenen Auges am weißen Kachelofen und bewegte die Lippen, hinter denen nicht mehr allzuviel Zähne standen. Es sah sich an, als ob er die ganze Rede emsig memoriere. Seine Gattin stand, gereckt und sehr geschmückt, neben dem Onkel Ammann, der all seine Orden angelegt hatte, die nicht recht zu dem rotgewürfelten Schnupftuch paßten, das der eifrige Schnupfer häufig an die geräumige Nase führte. Herr Morgenthau, der nicht gut hörte, erkundigte sich von Zeit zu Zeit bei der Tante Geheimrat, die majestätisch in einem dunklen Atlaskleid die Situation beherrschte, was der Pfarrer eben gesagt habe. Frau Morgenthau aber senkte meist, bescheiden, die schwarze Haarkrone.

Die drei Tanten Tüßchen, Emma und Leonis standen im Halbkreis vor dem Pastor Knospe, der bald die eine, bald die andere anzusprechen schien, und hielten abwechselnd den Täufling, dessen Kopf wie ein rosafarbenes Pünktchen in all dem blendenden Weiß der Kissen und Spitzen lag. Tante Tüßchen sah dabei aus, als ob sie dieses gefährliche Amt mitten im Seesturm verrichte, und als ob sie erwarte, daß der nächste furchtbare Windstoß ihr die teure Last vom Arm über die Reeling in den Atlantischen Ozean fege. Tante Emma übernahm das Kind mit überirdisch lächelnden Augen, als ob es nicht im Steckkissen, sondern auf der heiligen Gralschüssel läge. Tante Leonis aber, die Hauptpatin, die den Rufnamen »Wilhelm« bestimmt hatte, hielt das Bündel Spitzen, wenn die Reihe an sie kam, krampfhaft fast in Gesichtshöhe vor sich hin, bis ihr die Arme zitterten. Hinter ihr hielt sich im Arrangement der Dekorationsbäume, deren Zweige Tante Tüßchen ängstlich mied, weil sie fürchtete, Läuse zu bekommen, unsere Sophie bereit, das Kindchen aufzufangen, wenn die Kraft der Tante Leonie dieser ungewohnten Zumutung nicht mehr gewachsen sein sollte.

Hermann Otto Wilhelm aber, der winzige Mittelpunkt der feierlichen Zeremonie und dieser erlesenen Versammlung, benahm sich für sein Alter außerordentlich gesittet. Die rosigen Fäustchen links und rechts ans Köpfchen gelegt, guckte er mit runden blauen Äugelchen unverwandt an den Plafond, als ob er erwarte, daß sich dieser auftun und irgend etwas Himmlisches dort herauslassen werde, segnend oder auch nur um die erschrecklich lange Taufrede durch überirdischen Eingriff zu beendigen. Erst als ihm das Taufwasser von der Stirn über das Näschen und in das suckelnde Mäulchen lief und er enttäuscht geschmeckt hatte, daß es sich wider Erwarten nicht um Milch handle, zog er ein bedrohliches Schippchen. Dann brüllte er los, laut und ergiebig.

So war es zu verstehen, wenn auch nicht angenehm, daß Herr Morgenthau durchaus nicht mehr hörte, daß der Pfarrer noch betete; was Herr Morgenthau, als guter Beobachter, vielleicht auch aus den gefaltet erhobenen Händen hätte folgern können. Aber er folgerte nicht und begann seinerseits bereits geräuschvoll mit der Gratulation.

Während dann die Eltern mit den Gästen sich zum Taufschmaus niederließen, die Damen sich noch ein Tränchen wischend, die Herren schon in munterem Männergespräch, bekamen wir, Mathilde und ich, im Ställchen dicke Schokolade mit Napfkuchen. Bei welcher Gelegenheit ich der Schwester meinen felsenfesten Entschluß mitteilte, so rasch wie möglich Pfarrer zu werden. Denn mir gefiel das sehr, daß einer, weil er einen langen schwarzen Rock anhatte, darin er aussah wie ein Lichthütchen, und oben weiße Bäffchen trug, so andauernd in die anderen hineinreden konnte, ohne daß sie etwas sagen durften, bis er ganz fertig war. Dabei brauchte er selbst das Kind gar nicht zu halten. Und nachher bekam er weißen Putenbraten und gemischten Salat, eine Eisspeise und sogar Schaumwein, und wurde nach all diesen Genüssen in einem gemieteten Einspänner nach Hause gefahren.

Mathilde ihrerseits meinte, daß wiederum Begräbnisse, die doch auch vom Pfarrer besorgt werden müßten, gewiß nicht so lustig seien. Da gab es weder Putenbraten noch Eisspeise, noch Sekt, aber leicht nasse Füße und einen Rachenkatarrh. Im Hinblick auf diese dunklere Seite der Seelsorge wurde ich wieder schwankend in der eben getroffenen Berufswahl.

Wir gingen ins Schlafzimmer, wo Hermann Otto Wilhelm in seinem immer noch rosafarbenen Korb lag und sich verdientermaßen ausschlief von Rede, Taufwasser und Gebrüll. Wir setzten uns rechts und links an den Korb, dessen Farbe durch Frau Morgenthaus irrtümliche Prophezeiung bestimmt war, und tauschten ganz leise, das sanft schlummernde Brüderchen nicht zu wecken, unsere Eindrücke und unsere Gedanken über die Orden des Onkels Ammann, über die Haarkrone der Frau Morgenthau, über die Kosten eines Einspänners, das Alter des Senators Buck, die Verwendung der Reste des gemischten Salats und den mutmaßlichen Wohlgeschmack des Schaumweins. Dann wurden wir still, denn die Amsel sang so schön von dem Akazienbaum in den Abend, der den Wolken die goldenen Säume lieh.

»Findest du,« fragte Mathilde plötzlich und sah dabei mit ihren großen, lieben, braunen Augen in den Korb, »findest du, daß er jetzt als Hermann Otto Wilhelm anders aussieht wie vorher?«

Ich fand das nicht und sagte es ihr.

Und sie nach einer Weile: »Ich meine, weil er doch jetzt ein Christ ist.«

»Ja,« nickte ich, »das ist er jetzt; aber er weiß es noch nicht.«

»Vielleicht,« Mathilde machte ein nachdenkliches Gesicht, »vielleicht wissen viele, viele Menschen gar nicht, was sie sind. Und nur der liebe Gott weiß es.«

»Das ist ja auch genug, wenn der's weiß.«

»Ja, vielleicht.«

Dieses merkwürdige Religionsgespräch hatte uns feierlich gestimmt, und wir hörten wieder auf die Amsel. Bis sie fortflog in den Abend.

»Du, Adolf, du bist doch auch getauft, nicht wahr – und ich auch – und wir wissen gar nichts mehr davon, als was uns die anderen erzählen. Das kann wahr sein und kann auch nicht.«

»Es ist wahr. Papa lügt nie.«

»Mama auch nicht. Aber irren können sie sich doch. Ich meine aber, man sollte recht, recht viel behalten von dem, was man erlebt hat – damit man später nicht immer bloß den anderen glauben muß.«

»Das sollte man wohl.«

Eine Weile schwieg Mathilde. Ihr hübsches Köpfchen arbeitete.

Es war schummrig geworden im Zimmer. Der alte Schrank knackte. Von drüben über dem Korridor hörte man gedämpftes Lachen der Taufgesellschaft.

»Du, Adi, wollen wir uns vornehmen – wir beide –, daß wir den Tag heute ganz, ganz fest im Gedächtnis behalten und wer da war und die Rede und all das, und wie wir hier zusammengesessen haben?«

»Das wollen wir, Mathilde!«

Wir reichten uns feierlich, wie nur Kinder sein können, die Hand über den Korb, in dem das Brüderchen lag und lächelte.

»Und später« – sie beugte sich über die weißen Kissen, in denen Hermann Otto Wilhelm, die Fäustchen am Kopf, seinen ersten Christenschlaf tat, und ihre dicken kastanienbraunen Mädchenzöpfe kringelten auf die gestickten Engelchen der Decke – »und später, wenn er groß ist, erzählen wir's ihm. Alles.«

»Das wollen wir wirklich tun!«

Und wir haben Wort gehalten. Er hat später durch unsere Erzählungen alle Einzelheiten von seiner Taufe so genau und lückenlos erfahren und gekannt, wie wir selbst. Von der Ankunft der Tante Tüßchen angefangen, die gewohnheitsmäßig zu früh kam, aus Furcht, was Unterhaltsames zu versäumen, bis zur Abfahrt des Pfarrers in dem Einspänner, der zwei Stunden hatte warten müssen, weil der Rauentaler so blumig und so kühl war, den der frohgelaunte Vater »nur für die Herren« nach aufgehobener Tafel noch selbst aus dem Keller geholt hatte.

*

Er hieß also nun Hermann Otto Wilhelm. Der Rufname war Wilhelm.

Niemand hat ihn je so gerufen. Und wenn er später unter ein Papier von Wichtigkeit seinen Namen schreiben mußte, gab's immer ein kleines Zögern und Besinnen. Denn die Familie nannte ihn nur Benjamin, abgekürzt »Ben«, und die Freunde auch.

Zum erstenmal aber hörte ich den Namen nennen an einem Sonntag. Das war nicht lange nach der Taufe.

Da sah unser Vater mit uns beiden, Mathilde und mir, lächelnd zu, wie das Brüderchen gebadet wurde.

»Ein rundes Kerlchen ist's,« sagte er zur Mutter, die das Köpfchen, das in ihrer hohlen Linken lag, einseifte mit der rechten Hand. Und seine Stimme klang froh und stolz, als er so sprach. Später hab' ich mich erinnert, daß er schon viel weiße Fäden hatte damals im starken, schwarzen Schnurrbart; und so mag sich sein Stolz wohl erklären.

Dann zog er uns beide, Mathilde und mich, dicht an sich. Und während wir ein bißchen überspritzt wurden, alle drei, von Wassertropfen und Seifenschaum, fragte er: »Habt ihr auch eure biblische Geschichte gut im Kopf, ihr zwei Strolche?«

»Wir sind jetzt beim Riesen Goliath,« erzählte Mathilde, »der war von Gath und sechs Ellen und eine Handbreit hoch, und das Gewicht seines Panzers war fünftausend Lot Erzes . . .«

Ich aber schwieg, denn ich wußte nicht recht, wo wir in der biblischen Geschichte hielten, weil ich in der letzten Religionsstunde meine Rechenaufgaben gemacht hatte.

Aber der Vater schien gar nicht an den Riesen Goliath von Gath zu denken und auch nicht an mein schuldbewußtes Schweigen. »Im ersten Buch Mose steht's,« belehrte er, »da, wo Joseph, der des Pharao Minister geworden, die geängstigten Brüder empfängt. Da sagt Juda zu Joseph: »Wir haben einen Vater, der ist alt, und einen jungen Knaben, in seinem Alter geboren; und sein Bruder ist tot, und sein Vater hat ihn lieb.«

»Was du bibelfest bist,« bewunderte die Mutter und seifte.

»Ich hab's gesucht und nachgelesen. Und nun behalt' ich's. Und weiter heißt's da: »Der Knabe kann nicht von seinem Vater wegkommen; wo er von ihm käme, würde er sterben.« Und dieser Knabe, der von Jakobs Söhnen der jüngste war und der letzte, hieß Benjamin. Der da –« und des Vaters schlanke Männerhand, die kräftig und doch so edel geformt war, wie ich selten eine Hand gesehen, legte sich behutsam auf das nasse Kinderköpfchen. »Der – der ist unser Benjamin. Und er soll Glück bringen im Lande Kanaan und in Ägypten!«

Seit dieser Stunde hieß Hermann Otto Wilhelm nicht anders als Benjamin und, da der Name bald zu lang befunden wurde, einfach »Ben«.

Mathilde aber, die alles gern wörtlich nahm, fragte mich nachher ganz kleinlaut, ob denn der Vater nach Kanaan auswandern wollte und wo das läge.

Ich aber spürte, daß er das wohl nur so bildmäßig gemeint habe, und daß uns der kleine Benjamin auch in Deutschland Glück bringen könne.

Nicht bloß in Kanaan und Ägypten.


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