Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Neunzehntes Kapitel

Nun war ich mit Ben allein.

Sein schönes, zweifenstriges Zimmer lag selbstverständlich – ich hatte das nicht anders von Ben erwartet – im ersten Stock nach vorn. Die Aussicht über das Wasser war unbeschreiblich. Gerade gegenüber reckte sich der Campanile von S. Giorgio hoch über der Insel auf. Ich dachte mit Respekt an den Herrn von Birkhuhn, der da heute, gleich zweimal, hinaufgeklettert war.

Ben, den der Umgang mit Hoheiten und Ducas rasch zum vollendeten Weltmann gemacht zu haben schien, bot mir Zigaretten an. Ich erkannte das flache Silberetui, das ich ihm damals geschenkt, als er mich meuchlings mit Käthe verlobt hatte.

»Danke, ich möchte jetzt nicht –«

»Nimm nur! Es ist gut gegen die Moskitos. Sie sind ganz leicht, die Zigaretten. Türkische. Teresina raucht sie immer.«

Teresina – da waren wir!

»Sag mal, Ben . . .«

»Ich weiß schon. Aber muß das jetzt sein?«

Er hatte seinen Arm in den meinen geschoben und führte mich ans Fenster. »Sieh mal – da hinaus, Adi! Du bist, ich kann's mir jetzt denken, meinetwegen hierher gefahren. Ich bin ja nicht so dumm – Brav von dir, edel, brüderlich, alles was du willst. Aber jetzt in dieser herrlichen Nacht – sieh nur, wie der Mond die breite goldene Brücke zum Lido baut – dort drüben der dünne Nebelstreif ist der Lido. – Also Adi, all das schenk' ich dir!«

»Das hat mir vorhin Honnefs schon geschenkt. Aber ich muß mit dir reden. Wer ist diese Teresina – und wie kommst du zu diesem Mädel?«

»Also zunächst, Adi – damit du nicht denkst . . .«

»Ich denke erst, wenn ich dich gehört habe.«

»Das ist anständig von dir. Also zunächst – es ist eine Dame!«

»Angenommen. Aber diese Dame war in deinem Reiseprogramm von der Familie in Frankfurt nicht vorgesehen.«

»Sie hat sich mir freiwillig angeschlossen.«

»Das kann ich mir denken. An Anwendung von roher Gewalt hab' ich auch wirklich nicht gedacht. Aber – um das Geringste zuerst zu sagen – du machst Aufwendungen für die Person.«

»Dame, bitte.«

»Meinetwegen. Du hast –« ich sah ihn scharf an, denn ich durfte hier nur vermuten und den Namen des Kommerzienrats nicht nennen, »hast dir irgendwie Geld verschafft, denn was du mitnahmst, das reicht doch nicht für zweie – im Hotel Danieli –«

»Ich habe – Hörst du die Moskitos? Das ist eine ganz lustige Musik, wenn man nicht gerade im Bett liegt. Hast du in deinem Zimmer Bettvorhänge?«

»Ich weiß nicht. Also, bitte, was hast du?«

»Ich habe dem Kommerzienrat Baddach geschrieben, mir telegraphisch etwas hierher anzuweisen. Das hat er getan. Ich bin ihm doch sicher, nicht wahr?«

»Ben – Ben!«

In diesem Augenblick geschah das Merkwürdige. Ich war bei Ben den jähen Umschlag der Stimmungen schon gewöhnt, aber so plötzlich war noch keiner gekommen. Er sprang auf und umarmte mich so stürmisch, daß mir die Zigarette aus dem Munde fiel, drückte mich auf das rotseidene Sofa, setzte sich dicht, ganz dicht neben mich und jubelte mit einer jungenhaften Herzlichkeit, die ich nur bei ihm so rein und so gewinnend gekannt habe: »Adi – was bin ich froh, daß du da bist!«

Da war mein schulmeisterlicher Ton, in den ich mich hineinreden wollte, verflogen. Ich saß neben ihm, ganz Lauschender, ganz Teilnehmender, ganz Bruder und hörte die merkwürdige Geschichte seiner »ersten großen Liebe«.

Er hatte das Licht gelöscht. Aber der Mond goß Helle genug in das Zimmer, das seine Fenster auf Wasser und Himmel öffnete. Und draußen warf der Lenzwind, der sich erhoben hatte, klatschend die Wellen der Adria an die feuchten Quader des Kais.

In einem Mailänder Café hatte Ben, als er aus der Brera kam und vom Sposalizzio des Raphael, einer Damenkapelle gelauscht. Sie wurde von einer fetten Sizilianerin dirigiert und spielte temperamentvoll, aber nicht sehr rein, wie das bei Damenkapellen, auch außerhalb Italiens, wohl vorkommt. Eine überaus herrliche Blonde zupfte seelenvoll mit Elfenhänden die Mandoline. Es war Teresina. Die Schilderung, die Ben, zunächst ohne sie zu nennen, von ihr entwarf, entsprach ja nicht ganz meinen persönlichen Wahrnehmungen; aber es blieb kein Zweifel: sie war es. Das Auge des Verliebten sah sie so; und die Glut seiner wortreichen Schilderung ließ mich erkennen, daß die Lieblichkeit aller Madonnen, die er bis zu dieser Stunde, von den Reisehandbüchern und ihren oft irreführenden Sternchen beraten, mit gläubigen Blicken in Kirchen, Museen und Galerien gesucht, rasch und gründlich verblaßt war neben dem leuchtenden Rot, das Teresina mehrfach im Tag auf die Lippen ihres hübsch geschnittenen Mundes legte. Der Toskaner Wein, den er, der Musik lauschend, genoß, hatte, wie er selbst zugab, Bens Mut in einer Weise erhitzt, daß er alsbald Außerordentliches wagte. Er kaufte von einem Blumenmädchen einige nicht billige Kamelien und ließ sie durch den Kellner in einer Pause der reizenden Mandolinenspielerin überreichen. Mit jenem bezaubernden Lächeln, das Ben noch niemals so hold und rein in den irdischen Kreisen Frankfurts oder in den himmlischen Kreisen der oberitalienischen Kunst erschaut, hatten ihre dunklen Augen den mutmaßlichen Spender gesucht. Hatten ihn schließlich gefunden und mit einem verschämten Blitzen innigen Dankes scheu gegrüßt. In der nächsten Pause war die Künstlerin, ganz zufällig, an seinem Tischchen vorbeigekommen. Er hatte die froh Erstaunte tapfer angesprochen, und sie zeigte sich anmutig erfreut über sein begeistertes, wenn auch sprachlich nicht einwandfreies Lob ihres herrlichen Spiels. Einer Einladung, nach Beendigung des Konzertes eine Tasse Schokolade mit dem Bewunderer ihres Talentes zu trinken, versprach sie nach einigem Zögern Folge zu leisten. Hielt auch Wort. Trank zu seiner Freude nicht eine Tasse Schokolade, sondern vier. Nahm auch einen Chartreuse. Sprach mit bestem Appetit der Paste zu, die der aufmerksame Kellner mehrfach erneuerte; und öffnete schließlich mit jenem kindlichen Vertrauen, das ihre hervorstechendste Eigenschaft war, ihr reiches Herz. Ein echtes Frauenherz. Ein südliches, aber ein schönes.

Ihre eminente Begabung für Musik war von ihrem talentvollen, aber charakterlosen Vater, der unedel an allen Menschen, besonders den ihm nächststehenden zu handeln pflegte und deshalb auch – denn sie glaubte an gerechte Strafen des Himmels – später ruhmlos verschollen ist, früh erkannt und zum schnöden Gelderwerb verwertet worden. Erst als Wunderkind, dann als Mitglied einer Kapelle, die in anrüchigen Häusern, von denen sie gar nicht reden wollte – Ben auch nicht – spät in der Nacht zu äußerst leicht geschürzten Tänzen aufspielte, hatte sie ihren Unterhalt redlich selbst verdient. Und den des Vaters, der sie zwar häufig prügelte, aber sonst nicht weiter beachtete oder zu Edlem erzog. Bis dieser Unnütze dann, vielleicht nicht ganz ohne Mitwirkung der gereizten Kriminalbehörden, ganz aus dem jungen und schon so leidvollen Leben der erblühten Tochter verschwand. Ein ungemein vornehmer Kavalier aus Rom, dessen hohe Stellung sie, dankbar für genossene Guttaten, auch nicht mit der leisesten Andeutung verraten wollte, hatte sich dann ihrer reizgeschmückten Jugend angenommen. Freudig, freigebig, selbstlos. Das einzige, was dieser wahrhaft Edle von ihr verlangte, war ein bißchen Musik. Er litt leider an Schlaflosigkeit infolge der mit seiner hohen und verantwortungsreichen Stellung verbundenen Aufregungen und konnte nur einschlafen, wenn sie leise und gefühlvoll Mandoline spielte. In grüne Seide gekleidet, mußte sie das tun; in grüne Seide, die er liebte, weil ihre Farbe seinen Augen, ihr Rauschen seinen Ohren wohltat. Er war unglaublich sensibel, aber ein Kavalier vom bereits etwas gelichteten Scheitel bis zur immer noch elastischen Sohle. Das hätte man ihm angesehen, auch wenn er nicht überall Kronen, auf die Wäsche gestickt, getragen hätte. In seiner selbstlosen Zuneigung hielt der vornehme Herr der Seelenfreundin Dienerschaft, Wagen und Pferde. Schenkte ihr auch schönen Schmuck, von dem sie heute noch einiges besaß und der – entgegen der Gepflogenheit vieler anderer Kavaliere – fast durchweg echt war. Nur eine doppelreihige Perlenkette hatte sich leider bei der Nachprüfung durch eine Pfandleihe in Florenz als täuschend gefertigte Imitation erwiesen. Doch nahm Teresina an, daß der Spender selber, der Arglose, beim Einkauf von einem listigen Händler betrogen worden sei.

Dieses ideale, auf reiner Geistigkeit und der gemeinsamen Liebe zur Musik aufgebaute Freundschaftsverhältnis wurde bedauerlicherweise jäh gestört durch einen Tuchfabrikanten aus Monza, der die liebreizende Künstlerin in einer Konditorei kennen lernte und mit Blumen, Besuchen und kandierten Früchten zudringlich wurde. Eines Tages, als ihm Teresina gerade, da er unschöne Anforderungen an die Arglose stellte, in edler Wallung ihres Mädchentums die Türe gewiesen, ereignete sich etwas Betrübliches. Ausgerechnet in dieser Türe begegneten sich die beiden Herren, der hohe Aristokrat aus Rom und der niedrig denkende Fabrikant aus Monza. Die für jeden Wissenden so harmlose Situation war für Unaufgeklärte wie geschaffen zu Mißverständnissen. Zwei Ohrfeigen klatschten, die später weder der hohe Aristokrat aus Rom noch der Tuchfabrikant aus Monza in Empfang genommen haben wollte; die aber doch irgendwie zur Verteilung gekommen sein mußten.

Der hohe Herr zog sich grollend auf seine Besitzungen in den Sabinerbergen zurück; wenn er nicht dort Selbstmord beging, was Teresina für unsagbar schrecklich, aber sehr möglich erklärte. Der Tuchfabrikant ließ sich niedrigerweise auch nicht mehr sehen. So blieb der armen Teresina nichts übrig, als ihren kostbaren Schmuck bis auf kleine traurige Reste, ihr schönes Silber, ja sogar die wertvollsten ihrer Toiletten und alle Pelze zu verkaufen, um ihren Verpflichtungen gegen Hauswirt und Lieferanten nachzukommen.

Enttäuscht, aber nicht verzweifelt, warf sie sich wieder in die Arme ihrer geliebten Kunst. Mehrere ehrenvolle Engagementsanträge für Konzerte nach Südamerika, nach Buenos Aires und Rio de Janeiro schlug sie aus. Sie mißtraute diesen fernen Ländern und dem Kunstverständnis ihres Publikums. Auch hielt sie sich selbst in ihrer Bescheidenheit noch nicht für reif, in anderen Erdteilen als Solistin aufzutreten. Sie schloß sich also der Damenkapelle an, in der Ben sie gefunden hatte. Und zwar – o glücklicher Zufall – gleich am zweiten Abend ihres Auftretens in diesem Café war sie ihm hier begegnet! Daß der Kellner, als ihn Ben mit der Blumenhuldigung zu ihr schickte, sich dahin geäußert: die Dame spiele schon seit sechs Monaten mit der Kapelle jeden Tag zweimal hier, war ein Irrtum des zerstreuten Angestellten oder vielmehr eine Verwechslung mit der brünetten Florentinerin, die neben ihr, ziemlich talentlos, geigte. An dieser Florentinerin war übrigens, wie Teresina, ohne sie schlecht machen zu wollen, bemerkte, nichts echt, als das reichliche Gold in ihren Vorderzähnen.

Ben, in dessen Seele die Reize des Südens in Duft, Klang und Farbe feinste Schwingungen ausgelöst hatten, und der sich die letzten Nächte, wenn er nicht gerade seinen Pantoffel nach Mäusen warf, mit der Lektüre von »Romeo und Julia« als Vorbereitung auf Verona beschäftigt hatte, war von dieser, wie er rühmend hervorhob, in schlichtester Natürlichkeit vorgetragenen Lebensgeschichte eines schuldlos einsamen schönen Mädchens aufs heftigste bewegt. Er bat Teresina an die Reinheit seiner Gefühle zu glauben, wenn er ihr vorschlug, sich mit ihm am anderen Morgen um zehn Uhr in San Ambrogio zu treffen, wo er ihr dann weitere Vorschläge zu unterbreiten gedenke. Als er eine halbe Stunde später als verabredet, denn er hatte vom Domplatz aus den falschen Omnibus benutzt, im romanischen Pfeilerhaus des heiligen Ambrosius von einem Bilde Luinis zum andern ging, unruhig, ärgerlich und ohne rechte Stimmung für Kreuzabnahmen und altchristliche Sarkophage, sah er plötzlich vor der Statue der heiligen Marcellina in tiefer Andacht eine edelgewachsene junge Dame knien, deren unerhört blonder Haarknoten unter dem Spitzentuch brennend leuchtete wie gefangenes Sonnengold. Teresina! Sie war es und hatte, wie sie ihm später errötend bekannte, aus gläubigem Herzen ein Gebet verrichtet: daß er, Ben, sie ein wenig lieben möge. Daß dieses Gebet aber, sei es nun von der angegangenen Heiligen, sei es vom heißen Trieb seines Herzens allein, der Erfüllung entgegengeführt worden, gestand Ben der schönen Teresina am Grabstein des Kaisers Ludwig II., der im Vorhof von San Ambrogio einsam begraben liegt. Teresina, deren Herz von einer warmen Frömmigkeit erfüllt war, zeigte sich ängstlich bewegt, daß sie solch weltliches Geständnis an einem geweihten Ort anhören müsse. Aber Ben beruhigte sie darüber und erklärte, daß diese Kirche auf den Trümmerresten eines heidnischen Bacchustempels erbaut sei. Dieses hatte er selbst, in deutscher Gründlichkeit sich vorbereitend, nachts in seinem Reisehandbuch gelesen; und der Gedanke an den weinfrohen Heidengott hatte ihm den Mut gestärkt, zwischen frommen Fresken und gemalten Martyrien dem weltlichen Gefühle für dieses schöne Mädchen Raum zu geben. Sie waren dann zusammen zu Fuß durch die heiße Stadt geschlendert zum Corso di Porta Romana. Haltmachend vor der prachtvollen Fassade der Ospedale Maggiore, hatte ihm Teresina verschämt erklärt, daß sie heute nacht sich das Gelübde abgelegt habe, der Kunst zu entsagen und Krankenschwester zu werden, wenn Ben, der tiefen Eindruck auf sie gemacht, wie nie ein Mann zuvor, sie nicht liebe. Da war Ben, selig seinen Arm in den ihren legend, mit ihr hinübergegangen und eingetreten in die Kühle von San Nazaro; und vor dem Hauptwerk Luinis, von dem er aber keinerlei bleibenden Eindruck empfing, vor der schrecklichen Marter der heiligen Katharina, hatte er gewagt, das schöne Mädchen zum erstenmal fest an sich zu drücken und ihr zu sagen, daß sie der Kunst erhalten bleiben müsse und er dafür sorgen werde, daß der Weg ihrer Kunst sich würdig und ihrem Talent wie ihren weiblichen Vorzügen entsprechend gestalte . . .

So weit war Ben gekommen in seiner Erzählung, die sich bemühte, klar, ehrlich und sachlich zu sein. Ich bin überzeugt, hätte er mir dies alles auf dem Roßmarkt in Frankfurt oder auf dem Weg am Main entlang nach der Gerbermühle mitgeteilt, ich hätte ohne weiteres das, was romantisch und unwahrscheinlich an dieser Geschichte war, kühl beiseite getan und ihm sofort ernstlich ins Gewissen geredet. So aber saß ich im Mondschein im alten Palazzo Dandalo. Draußen rauschten die Lagunen, und der genossene rote Wein ging noch spürbar im Blute um. Die Namen all der Heiligen und Kirchen sprachen mit; und Bens leuchtende Augen predigten mir ein wunderliches Evangelium der Jugend und Lebensfreude. Vielleicht wäre ich jetzt mit einem Händedruck geschieden, aber da fand Ben das verhängnisvoll abschließende Wort:

»Und nun werde ich sie ausbilden lassen.«

»Ausbilden lassen –? In was denn –? Wo denn?«

»Nun natürlich in der Musik. Auch ihre Stimme ist ja fabelhaft. Ein Schmelz und eine Sicherheit im Tonansatz und – aber du sollst sie hören, morgen. Sie soll singen in der Gondel. Wir fahren nach dem Lido hinüber – nur wir drei. Der Erbprinz fällt mir sowieso auf die Nerven. Und der Duca redet so viel und ist so schrecklich, wie soll ich sagen – so schrecklich italienisch, ich weiß nicht, ob du mich verstehst . . .«

»Ja, ja. Aber lassen wir den Duca! Wo willst du denn dieses Mädchen ausbilden lassen?«

»Natürlich in Deutschland. Ich werde sie doch nicht hier all den Anfechtungen ausgesetzt lassen. Der Tuchfabrikant aus Monza ist doch nicht der einzige, dem diese Unbeschützte auffällt. Er ist doch nur ein Typ und –«

»Ben, du bist . . .« Ich wollte sagen »verrückt«. Aber der Mond verbot mir's. So sagt' ich nur: »Du bist – noch nicht einundzwanzig Jahre!«

»Hier heiraten junge Männer oft schon mit zwanzig.«

»Um Gottes willen, du willst sie doch nicht . . .« Ich sah plötzlich Tante Tüßchen im Winkel sitzen und besorgt das Haupt schütteln: »Hab' ich's nicht gesagt? Die Familie Teresina! Die schreckliche Familie Teresina!«

Ben war ans Fenster getreten. Schlank und jung hob sich seine Silhouette vom Goldgrund des Nachthimmels. Die Mosaiken in den Tornischen der Kirchen, an denen uns der nächtliche Weg vorbeigeführt, fielen mir ein. Alles war hier anders, war stilisiert, ins Unwirkliche, Künstlerische erhoben. Die mitteleuropäischen Begriffe von Herkommen, Moral, Vernunft gerieten ins Schwanken, zerflossen in einen fernen Nebel. Ein Heimkehrender sang unten die Herzogarie aus dem Rigoletto. La donn' è mobile com' pium' al vento . . . Neben seinen schweren Schuhen trippelten kleine zierliche Füße. Deutlich unterschied man's in der Stille der Nacht. Und immer wieder platschten im Rhythmus die Wellen an die Quader des Kais.

»Sie will selbst nicht, daß ich sie heirate –« sagte die Silhouette am Fenster. »Wenigstens jetzt noch nicht. Erst soll sie fertig ausgebildet sein fürs Konzertpodium. Erst müssen die großen Erfolge da sein – und sie werden kommen! Ich habe in Frankfurt ans Hochsche Konservatorium gedacht. Der Vater war doch mit Professor Scholz gut bekannt, der . . .«

Jetzt kam mir plötzlich der Gedanke, es sei Fastnacht. Das war doch ein Witz, daß Ben, unser Ben, der nächstens erst großjährig wurde, die italienische Geliebte – denn das war sie doch gewesen – in Frankfurt ausbilden ließ. In der Stadt, in der unsere Mutter mit Frau Pfarrer Knospe und Frau Rat Tomasius und Frau Senator Buck alle Dienstage ihr »Kränzchen« hatte; in der Tante Tüßchen das Konzert im Palmengarten gratis von ihrem Balkon hörte, und Frau Morgenthau, in ernster Besorgnis den Kapotthut mit den Kirschen wiegend, die Heiratsschancen der benachbarten Jugend zum nie versagenden Gesprächsstoff machte?

Ich bat Ben, sich wieder neben mich zu setzen und mir aufmerksam zuzuhören.

Dieses aber verweigerte er, Müdigkeit vorschützend, entschieden. Er bat mich, nun in mein Hotel zu gehen, wenn ich nicht vorziehe, bei ihm zu übernachten. Für welchen Fall er selbst auf dem Sofa schlafen werde.

Diesen letzten Vorschlag lehnte ich dankend ab. Ich nahm mir vor, jetzt mein Hotel aufzusuchen und morgen in aller Frühe, ausgeschlafen und nüchtern, vom Einfluß des Mondes und Wellenschlags befreit, mit dem guten Ben ernste Worte zu reden.

So trennten wir uns. In der Tür aber hielt mich Ben noch einmal zurück, sah mir treuherzig in die Augen und sagte mit einem leichten Pathos: »Am Grabe der Julia in Verona – du mußt dir allerdings nicht zu viel darunter vorstellen – ich war auch enttäuscht. Es ist nur ein Steintrog, nicht mehr – und er liegt voll schmieriger Visitenkarten – die meisten mit deutschen Namen natürlich. Am Grabe der Julia – hab' ich Teresina das Wort des Romeo – denk' dir, sie kennt Shakespeare kaum! Sie hat gemeint, er lebt noch – so köstlich naiv ist sie in vielem, ja. Die italienischen Institute sind wohl schlecht. Und Lehrer, wie unseren Vater, für Literatur und so – gibt's nicht. Aber denke – ganze Gesänge des »Inferno« kann sie auswendig, sagt sie. Ja, also – am Grabe der Julia hab' ich ihr Romeos Wort zitiert: »Die Tat allein beweist der Liebe Kraft« . . . Und für mich war das an dieser Stelle – wenn's auch nur ein Trog voll Visitenkarten ist und kein echter Sarkophag – für mich war das ein Schwur. Das mußt du festhalten, Adi, wenn du etwa morgen auf dieses Thema zurückkommen willst.«

»Das will ich allerdings. Aber jetzt – gute Nacht!«

Tief in Gedanken war ich zunächst die Riva nach der falschen Seite hinaufgelaufen. Kam also nach längerer Irrfahrt in der Nähe der Gardini Publici heraus, statt an den Markusplatz. Als ich ziemlich ärgerlich und todmüde wieder zurückfand und noch einmal am Hotel Danieli vorkam, graute der Morgen schon. Die Fenster in Bens Zimmer waren dunkel. Er schlief gewiß und träumte von Abenteuer, Liebe und Edelmut.

Am Kai aber vor dem Hotel war's schon lebendig. Eine Gondel schwebte an der Treppe. Stimmen klangen aus der aufgesetzten Felze.Das Häuschen der venezianischen Gondeln Männerstimmen. Mir kam vor, ich kannte sie.

Eine Frauenstimme lachte dazwischen. Tonleitern. Auch das hatte ich schon gehört. Heute oder –? Ein paar elegante Rohrplattenkoffer standen dem Ruderer zu Füßen. Andere vorn.

So früh schon reist eine Gesellschaft ab, dacht' ich. Aber ich war froh, daß ich's nicht sein mußte, und daß ich endlich ins Bett kam . . .

Als die Sonne schon hell am wolkenlosen Himmel lachte und die Luft schon warm und golden war, viel später leider, als ich gedacht, machte ich mich, ziemlich von Moskitos zerstochen, wieder auf den Weg zu Danieli.

Bei der syrischen Granitsäule, auf der seit Jahrhunderten der längst entthronte Stadtheilige Theodor das Krokodil bändigt, begegnete mir der Dichter Otto Honneff. Sehr aufgeregt rief er mir entgegen:

»Kommen Sie rasch! Ihr Bruder Ben ist ganz verzweifelt!«

»Verzweifelt? Was ist denn?«

»Sie ist auf und davon!«

»Wer?«

»Nun die Diva! Die Blondgefärbte, Lippengemalte!«

»Wie denn? Abgereist?«

»Ja doch! Mit dem Erbprinzen und dem Adjutanten. Die Hotelgondel hat die Herrschaften zum Frühzug nach Rom gefahren.«

Das also war die Stimme gewesen! Und das Lachen, die Tonleiter! . . . Armer, armer Ben!

Im Vestibüle des Hotels traf ich die baltischen Damen. Die Baronin ritt, wie ein Feldherr, zwischen segeltuchüberspannten Koffern umher. Auf einem davon saß, wie ihr eigenes Grabdenkmal, die Komtesse und starrte mit visionären Augen auf eine gelblederne Hutschachtel zu ihren Füßen.

»Vorigen Oktober« – die Komtesse sprach das als einzige Antwort auf meinen Gruß langsam vor sich hin, als ob sie sich selber examiniere – »auf dem Bahnhof in Reval hatte ich plötzlich diese Vision: ich sah Ernst Erich in einer Gondel mit einer Dame. Die Gondel war schwarz und die Dame war hochblond. Und auf der schwarzen Gondel standen Koffer, Koffer, Koffer.«

Mir kam der Gedanke: wenn sie's vor einem Jahr in Reval vorausgesehen, warum hat sie hier in Venedig, wo die Gondeln zu Hause sind, nicht aufgepaßt? Und dann dacht' ich weiter: es ist ganz gut so, daß sie nicht aufgepaßt hat.

Ich ging hinauf zu Ben. Er stand am Fenster, die geballten Fäuste trotzig in die Taschen des Sakkos vergraben.

»Ben?«

»Was?« Hart und abweisend klang's, wie er nie sonst sprach.

Ich trat dicht an ihn heran und legte den Arm um seine Schulter.

Er lachte vor sich hin, aber das Lachen klang nicht sehr lustig. »Das nennt sich ein Prinz! Eine Hoheit! Mein Gast ist er gestern abend noch – oder ich bin seiner gewesen, das ist ja schließlich egal – und heute morgen entführt er mir – mit Gewalt, denn anders ist das nicht möglich gewesen – das glaube mir!«

»Ich glaub's dir,« sagte ich begütigend, aber ich hatte die Tonleiter aus der Gondel im Ohr.

»– entführt er mir dieses Mädel, dieses prächtige Mädel, dieses eminente Talent, das zu bilden mein Stolz, meine Lebensaufgabe werden sollte!«

Es war vielleicht das beste, ich redete jetzt nicht mit ihm von seinen Lebensaufgaben und wie sie die Familie auffaßte.

Ich trat an den Tisch, auf dem die Morgenpost lag. Zwei Briefe und eine Karte, nachgesandt von Verona.

Alle drei Handschriften kannt' ich. Ein dicker Brief von der Mutter. Ein langes elegantes Kuvert mit den großen verwegenen Buchstaben, die Ruth Baddachs energischen Charakter verrieten. Und eine Karte mit der zarten kalligraphischen Adresse, die Elsbeths Ordnungssinn malte.

Noch nicht einundzwanzig und so viel besorgte Frauen, dacht' ich unwillkürlich. Mir fiel der Vater ein, der ruhig lächelnd mit seinem gleichmäßigen Schritt aus dem Unterricht in den Instituten kam und der Mutter die Veilchensträußchen hinlegte, die er heute wieder auf seinem Pult gefunden . . . So was vererbt sich, so was rächt sich, dacht' ich. Was kann man dagegen tun?

»Aqua fresca – aqua fresca!« Von unten rief's eine heisere Stimme.

Karren rollten. Kinder schrien. Holzpantöffelchen klapperten über die Steintreppen. Der venezianische Tag begann.


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