Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Einundzwanzigstes Kapitel

Und dies alles kam so. Im »Goldenen Herz«, dessen Restaurant mit einer Metzgerei zusammen betrieben wurde, war geschlachtet worden. Und von den frischen Würsten wollte Adam Ackerle dem Schwager, der kürzlich eine ihm von Ben geschenkte Fünfzigerkiste Zigarren gutherzig mit ihm geteilt, eine besonders fette übersenden.

Er schickte Eveline.

Das war an einem Maienabend. Es hatte geregnet und war wieder klar geworden. Die Luft war herrlich rein. Die Schwarzamseln sangen hinten auf dem Berg, und es duftete wunderschön nach jungem Laub und feuchtem Moos und all den Blüten, die nach dem kurzen Frühlingsregen ihre volle Pracht erschlossen hatten.

Eveline hatte schon Sommer gemacht. Sie trug zu dunklem Rock eine helle Waschbluse, die ihren weißen Hals frei ließ, und in dem Halsgrübchen ruhte an dünnem Silberkettchen eine alte römische Münze, die der Vater einmal am Neckar gefunden hatte.

Sie stieg die Treppen bis zu der kleinen Studentenwohnung – der »Festung«, wie die drei Freunde sie nannten – und schellte. Sie dachte, den Onkel Hugo allein zu treffen, denn der schöne Abend hatte doch sicher die drei Studenten aufs Schloß oder auf die Molkenkur gelockt; und dann wollte sie sich rasch und heimlich einmal die Wohnung der drei ansehen, von der Onkel Hugo ihr und dem Vater so oft und so gern erzählte, wie ulkig und gemütlich sie mit bunten Bildern und spaßigen Dekorationen und allerlei lustigem Kram ausgestattet sei.

An diesem Abend aber waren die drei Studenten zu Hause. Willibald von Gollwitz hatte am Tage zuvor auf Vandalenwaffen gegen einen Schwaben gefochten, mit dem er beim Friseur in der Haspelgasse einen erregten Disput gehabt hatte über die Frage, ob es nötig sei, sich gerade am Sonntagvormittag die Haare schneiden zu lassen. Da der Schwabe, der überhaupt auf die Benennung und besondere Verwendung der einzelnen Tage keinen Wert legte, die Ansicht vertrat, daß er sich die Haare schneiden lassen könne, wann es ihm beliebe, und Willibald von Gollwitz sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, daß in Rücksicht auf die Nebenmenschheit auch der Montag für die beabsichtigte Verschönerung genügt hätte, wobei er sogar andeutete, daß bei der Verschönerung im Fall des Schwaben nicht eben viel herausgekommen sei, so war dem Kartenaustausch die Forderung und der Forderung die Mensur gefolgt. Bei dieser ritterlichen Übung in der Hirschgasse hatte der Schwabe eine Hakenquart und drei unbedeutende Blutige und Willibald von Gollwitz einen Durchzieher und im siebenten Gang eine Hochquart mit Knochensplitterchen und damit die Abfuhr bezogen. Nun saß er vergnügt, genäht, fieberfrei und mit verwickeltem Kopf mit den Freunden, die ihm zuliebe zu Hause blieben, spielte nicht sehr talentvoll Skat und wartete mit den anderen auf Hugos Rückkehr. Den hatten sie in die Schermerssche Weinstube geschickt, ein kräftiges Nachtmahl und zwei Flaschen Mosel zu holen.

Als es draußen schellte, entspann sich eine wortreiche Debatte, wer öffnen sollte. Ben behauptete, daß er erst vorgestern dem Bierführer geöffnet habe, also jetzt nicht an der Reihe sei. Fips Tomasius pochte auf seine Würde als der Älteste, und Willibald von Gollwitz machte entrüstet geltend, daß ihn als schwer Bresthaften in seinem hilflosen Zustand nur die niedrige Gefühllosigkeit gänzlich verrohter Barbaren zwingen könne, auf den Korridor hinauszugehen und den anstrengenden Dienst eines Pförtners zu versehen. Man kam überein, daß der draußen Stehende vielleicht von selbst wieder gehen werde; worin man eine einfache und glückliche Lösung der Angelegenheit sah, da man niemand erwartete. Worauf Ben einen Grand ansagte, den er verlor.

Aber es schellte wieder. Da sich die negative Bereitwilligkeit der Drei zu öffnen, nicht geändert hatte, so beschloß man, das Amt des Portiers für diesen dringenden Fall auszuknobeln. Gerade, als es zum drittenmal ziemlich energisch läutete, fiel Fips Tomasius mit der »niedrigsten Hausnummer« herein. Schimpfend ging er öffnen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er wiederkam. Mit einer Wurst in der Hand und einem eigentümlich verklärten Gesicht.

»Was ist denn los?«

»Die Wurst ist abgegeben worden.«

»Eine Wurst –? Für wen?«

»Für Hugo.«

»Und darüber strahlst du so?«

»Strahl' ich? Das ist vielleicht das Abendrot von draußen.«

»Blödsinn. Du hast ja ganz rote Backen.«

»Ich freue mich, daß es noch edle Verwandte gibt, die anderen Leuten Würste schicken. Spielen wir weiter!« Und er griff energisch die Karten und mischte.

»Hallo – hallo! Du mischst ja nur die Hälfte! Ein verdralltes Huhn! Was hast du denn? . . . Da ist doch was faul.«

»Im Gegenteil. Ben, du spielst aus.«

Ben aber spielte nicht aus. Er sah vielmehr Fips listig an und sagte: »Du, Fips, mir kam vor, es war eine Damenstimme?«

»Was du für feine Ohren hast! Eine Verwandte von Hugo. Eine Tante, glaub' ich – oder Nichte.«

»Hm. Das scheint mir ein Unterschied,« meinte Willibald, »der sich ungefähr aus dem Alter der Dame ersehen ließe.«

Ben aber hatte jetzt einen Einfall. Er eilte nach dem Schreibtisch, raffte den Feldstecher auf und war in zwei großen Schritten aus dem Balkon. Erstaunt saßen die beiden anderen, die Karten in der Hand, und sahen, wie Ben, sich interessevoll über das Eisengeländer vorbiegend, mit dem Glase auf den Wredeplatz niederschaute, der in den letzten Strahlen der Abendsonne lag.

Nach einer Weile kam er herein, nahm die Karten auf und spielte wortlos aus, ohne zu merken, daß ihm die beiden Freunde eine abscheuliche Schundkarte, mit der kein Teufel spielen konnte, hinterlistig arrangiert hatten.

Fips aber war auch zerstreut und gab Willibald so schlecht zu, daß das Spiel trotzdem für sie verloren ging.

Willibald warf jetzt ärgerlich die Karten hin. »Was habt ihr eigentlich? Ich lasse mir das Gehirn verdreschen, verliere edelstes Blut und diverse Knochensplitter – und ihr spielt wie preisgekrönte Trottel! Da ist doch was los?«

»Ben, hast du die – Tante noch gesehen?« fragte Fips unsicher.

Ben lächelte listig. »Ich weiß nicht, ob ich die Tante gesehen habe; aber was ich gerade noch gesehen habe, hat mir genügt.«

Da gab Fips das Spiel verloren. Er schob die Karten zusammen und stand auf: »Also, Kinder, das ist ein Bild von einem Mädel! So was hab' ich überhaupt – Also, ich sage bloß – Jetzt sitzen wir – wie lange? – in Heidelberg und haben das nicht gesehen!«

»Was denn?« Willibald war immer noch nicht im Bilde. »Von was redet er nun wieder?«

Aber Fips wurde philosophisch: »So wenig kennt man seine Nebenmenschen – so wenig! Daß der Hugo ein Holzbein hat, das wußten wir; aber daß er auch eine Nichte hat –«

»Nun ist's wieder die Nichte –?« Willibald von Gollwitz schob ärgerlich an seinem Verband herum.

»– eine Nichte hat, die einfach wie eine junge Göttin so schön ist – das wissen wir nicht.«

In diesem Augenblick kam Hugo von Schermers und brachte in verdeckten Schüsseln drei Portionen Rührei mit Schinken und ein Terrinchen Entenpastete mit geröstetem Brot, dazu Butter, Käse und zwei Flaschen Trabener. Das alles baute er still und liebevoll auf dem Tische auf.

Die drei jungen Leute sahen ihm zu. Ein ganz neues Gefühl hatte Besitz von ihnen ergriffen und drückte sich in ihren schweigenden Gesichtern aus. Eine gewisse Hochachtung. Denn wie Fips Tomasius angedeutet hatte: sie kannten jetzt diesen Nebenmenschen besser. Er hatte nicht nur ein Holzbein, sondern auch eine allerliebste Nichte. Und solcher Besitz adelt in der Anschauung junger Herzen selbst einen in der Fortbewegung behinderten Bedienten, der die Silberknöpfe seiner Hörigkeit am blauen Jackett trägt.

. . . Am Morgen nach jenem Skatspiel hatte Ben in der Nähe der Heiliggeistkirche zu tun. Wovon er aber vor den Freunden kein Wesens machte. Ihm fiel ein – oder eigentlich er hatte an nichts anderes gedacht schon während des Kollegs von sieben bis acht über Logik und Propädeutik – fiel ein, daß er vielleicht ein Körbchen Früchte als Aufmerksamkeit nach Hause schicken könnte. An Tante Tüßchen oder an Frau Morgenthau oder an irgendwen. Ja so, es war Frühling, da gab's keine Früchte. Also Blumen. Blumen gab's, und die konnte man bestimmt in das Präsentkörbchen tun. Oder sonst was. Die Hauptsache war das Körbchen. Das mußte unbedingt an der Heiliggeistkirche gekauft werden. Und zwar heute, gleich. Er hatte sich von Hugo das Lädchen so genau und umständlich beschreiben lassen, als ob es sich um einen Weg durch Schnee und Eis tief in den zerklüfteten Himalaja handele, um einen Pfad, der leicht verfehlt werden konnte.

Als er die bescheidene Bude ohne Schwierigkeit gefunden, entfernte der alte Adam Ackerle gerade erst die Bretter von dem Verschlag. Er hatte gestern abend wieder den alten Kummer seines Lebens etwas reichlich begossen. Den Käufer gewahrend, rief er nach hinten: »Eveline – bedien du doch mal den Herrn!«

So stand Ben, nicht ganz zwölf Stunden, nachdem er sich das heimkehrende Mädchen gerade noch ins Sehfeld des Feldstechers eingefangen, an der Mauer der Heiliggeistkirche der Tochter des Korbmachers gegenüber, die jung und schön war wie dieser Heidelberger Morgen im Mai . . .

Als Fips Tomasius aus dem Handelsrechtkolleg kam, das der als Examinator gefürchtete Professor Solomon Baddach, Ruths Onkel, dreimal wöchentlich von acht bis neun Uhr las, führte ihn ein Umweg an der Heiliggeistkirche vorbei. Wenn er später behauptete, ihm sei plötzlich eingefallen, daß er sich endlich mal die Grabmäler des Kaisers Ruprecht und seiner Gemahlin Elisabeth von Zollern betrachten könne, welcher Beider erlauchte Gebeine seit Jahrhunderten in dieser ehrwürdigen Kirche am Marktplatz beigesetzt sind, so entspricht das wohl kaum ganz den Tatsachen. Die Wahrheit ist, daß Fips gern das Mädel wiedergesehen hätte, das gestern einen verwirrenden Eindruck auf sein eigentlich schon von Mariechen, der schlanken Blondine, die im »Rodensteiner« mit so seelenvollem Augenaufschlag die Krüge mit dem Löwenbräu auf die Bierfilze setzte, in Besitz genommenes Herz gemacht hatte. Als er aber den kleinen Korbladen gefunden hatte, vor dem er neben allerlei Marktkörben auch das rohrgeflochtene Kostümgestell einer üppigen Dame kopf- und armlos zu sehen war, entdeckte er im Innern des mehr als bescheidenen Raums seinen Freund Ben, der einen ziemlich ruppigen schwarzen Spitz, wie eine große Rarität, streichelnd bewunderte, wobei er unverwandt in die Augen der hübschen Eveline sah, die wohlgefällig lächelnd dabeistand. Da pfiff Fips Tomasius ärgerlich vor sich hin, schob die lederne Kollegienmappe höher unter den Arm und beschloß, nichts gesehen zu haben.

Am Nachmittag kamen dann zwei große Marktkörbe an, die Ben für die Besorgungen Hugos in der Stadt persönlich gekauft hatte, und die durchaus ausgereicht hätten, den Wochenbedarf für eine kinderreiche Familie heimzutragen. Dieser merkwürdige Ankauf führte zu allerlei Vermutungen der Freunde und zu listigen Bemerkungen, denen Ben aber mit kühlem Bekennermut die Spitze abbrach, indem er erklärte, es sei möglich, daß diese Körbe, wie Willibald behauptete, für die Küche einer Fremdenpension zu achtzig Betten gedacht seien. Es sei auch möglich, wie Fips höhnte, daß er, Ben, genau so gut hätte einen Leiterwagen für die paar Besorgungen Hugos anschaffen können. Aber es sei drittens möglich, sogar noch viel möglicher, als die beiden zugestandenen Möglichkeiten, ja, er möchte andeuten: es sei in hohem Grade wahrscheinlich, daß die beiden Freunde sich demnächst über seine, Bens, Pläne und Unternehmungen beträchtlich erstaunen würden.

Und damit hatte Ben recht. Es gab aber einen Dritten, der sich noch mehr erstaunte. Und das war Hugo Hagedorn, der eines Tages – es war Anfang Juni und ein Sonntag – morgens früh beim Aufräumen des gemeinsamen Wohnzimmers der drei Studiosi, die noch tief in ihren Betten lagen, eine Jahrmarktphotographie fand, schlecht und verschwommen auf einer Metallplatte, aber verblüffend durch die dargestellte Gruppe. Da war nämlich Ben Mewes, stud. phil. links von einer abgestumpften Säule zu sehen. Auf der Säule stand: »Erinerung zum Souvenir«, was Hugo zu wenig schien in Beziehung auf die Erinnerung, die nur ein »n« hatte, und zu viel in Beziehung auf das Souvenir, das doch in der Erinnerung schon drin lag. Rechts von der abgestumpften Erinerung-Souvenir-Säule aber stand ein etwas geniert lachendes Mädel, dem ein breiter Strohhut mit zwei Möwenflügelchen an der Seite, das Gesicht ins Mohrenhafte beschattete. Und auf der abgestumpften Säule saß, erstaunt und unzufrieden, ein schwarzer Spitz. Hugo Hagedorn aber hätte geschworen, daß er den schwarzen Spitz kannte und das Mädel auch. Und es wurde ihm seltsam zumute, als er dachte, daß vielleicht der junge Herr, den er von den drei Studenten am meisten liebte ob seines gütigen Herzens und seiner frohen Art, mit diesem Mädel, das seiner leiblichen Schwester leibliches Kind war, jene zarten Beziehungen unterhalten könnte, die die Sommersonne in Heidelbergs lieblicher Umgebung so oft und gern segnend beschien und der Mond über Schloß und Königstuhl noch öfter und lieber.

Ben trat ein, als Hugo Hagedorn, der sich, sein Bein zu schonen, ein wenig gesetzt hatte, das merkwürdige Bild noch sinnend in den Fingern hielt.

Als Ben jetzt in einem weißen Flanellanzug, der für die Frische des Morgens vielleicht ein wenig kühn war, vor ihm stand, schnellte Hugo empor, hielt aber immer noch krampfhaft das Bild in der Hand. Einen Augenblick sahen sich die beiden an, dann wurden beide rot. Und schließlich sagte Ben, indem er seinem Diener das Bild sanft aus der Hand nahm:

»Sie müssen nichts Schlechtes denken von mir, Hagedorn – und erst recht nicht von – der Dame.«

Die »Dame« tat Hugo Hagedorn sehr wohl. Ihm fiel ein, daß er sich schon oft Gedanken gemacht, wer wohl der erste sein würde, der seine hübsche Nichte küßte. Daß es ein Student sein müßte, der sie später doch nicht heiratete, schien ihm immer eine ausgemachte Gewißheit. Denn in kleinbürgerlichen Kreisen der Universitätsstädte denkt man in solchen Dingen nüchtern und richtig; hat auch der Exempel genug erlebt, die den Verlauf der Dinge in anderen Fällen vorausahnen lassen. Da war's denn Hugo Hagedorn immer, wenn er des Schwagers liebreizendes Mädel sah, eine heimliche Freude und Genugtuung, daß sie nicht, wie andere Weiberchen, die er gekannt hatte, nach dem äußerlichen ging. Nicht nach einer verwegenen roten Mütze mit Goldborte den Kopf herumriß, nicht nach ein paar Durchziehern und einer verschnürten blauen Pakesche blinzelte, nicht hinter einem hochadeligen Namen herseufzte, auf den ein weißer Stürmer gestülpt war. Wenn's denn schon einer sein soll, der nicht gleich an den Altar winkte und in die Genügsamkeit des ehelichen Kämmerleins, so schien ihm ein so hübscher, froher, gütiger Junge wie Ben, der den Leuten nicht nach den Holzbeinen sah, sondern ins Herz, eben recht. So kam es, daß Hugo Hagedorn, der vielleicht jetzt, als Mutterbruder dieses schönen Kindes, hätte den Moralischen, den Ablehnenden, vielleicht gar den Entrüsteten spielen sollen, nur die unbeholfenen treuherzigen Worte fand in seinem badischsten Badisch:

»'s ischt halt e arg lieb Kerlche, die Eveline.«

Da ging Ben in überwallendem Gefühl zu seiner besten Zigarrenkiste – das heißt es war eigentlich Willibalds seine, aber das entdeckte er erst später und glich es aus – tat einen tüchtigen Griff hinein, so energisch, daß einige Deckblätter beschädigt wurden, und drückte Hugo Hagedorn ein halbes Dutzend Importen in die Hand. Wozu er das für diese Situation vielleicht ungewöhnliche Wort sprach:

»Rauchen Sie die Stengel auf unsere Gesundheit, lieber Hagedorn!«


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