Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Der Besuch der beiden Damen bei Ben hatte schon mit jener Arbeit eng zusammengehangen, in die er sich, zu vergessen, stürzen wollte.

Im Stürzen war Ben groß. Er betrieb, was er einmal ins Auge gefaßt, mit einem geradezu fanatischen Eifer, freilich nicht alles mit derselben Ausdauer.

Da er zunächst in Frankfurt bleiben wollte und hier weder die Gründung eines Theaters noch einer Kunstzeitschrift ernstlich in Frage kam, so hatte er sich in die Idee verliebt, eine »Literarische Gesellschaft« zu gründen, die in der Mainstadt noch fehlte.

Keinen Journalistenverein – den gab es, obschon er freilich durch die gereizte Stellung der verschiedenen Redaktionen zueinander mehr auf dem Papier stand, Jahresbeiträge erhob und vom Ableben alter Mitglieder geziemende Mitteilung machte, als durch glanzvolle gesellige Veranstaltungen in die Erscheinung trat. Ben dachte an einen gesellschaftlichen Mittelpunkt für die Schaffenden, deren es doch auch hier, das wußte er, ein Häuflein gab, das sich vielleicht sehen und sammeln lassen konnte, wenn auch seine Namen nicht täglich in den großen Blättern genannt wurden.

Die genaueren Zwecke und Ziele der Literarischen Gesellschaft wollte er später dieser selbst zu bestimmen überlassen. »Zu gegenseitiger Anregung und Befruchtung, zur Entfachung gemeinsamen Interesses an allen Fragen der schönen Literatur und zur ernstlichen Förderung tieferer Kenntnisse der orientalischen, insbesondere der türkischen Poesie.« So hieß es in seinem üppig gedruckten Prospekt.

Mir schienen da recht verschiedenartige Dinge verquickt. Die Pflege der orientalischen, insbesondere der türkischen Poesie dünkte mich eine nachträgliche Rechtfertigung seines kecken Besuchs im Jildis-Kiosk. Aber ich freute mich seines heißen Eifers und war recht angenehm enttäuscht, als er mir eine für den Anfang ganz hübsche Liste der »Gründer«, die zugesagt hatten, strahlend vorlegte.

Eigentlich sollten nur »Schaffende« aufgenommen werden. Das ließ sich aber so streng nicht durchführen, so daß ich auch meinen bescheidenen Namen unter den »Gründern« lesen durfte.

Obenan stand Ruth Baddach. Sie schrieb zwar nicht selbst, aber sie war entschlossen, zu »fördern«. Eventuell auch junge Talente, mit pekuniären Opfern. Solche Selbstlose brauchte man vielleicht nötiger als die Schaffenden. Es folgte mein Schwager Fips Tomasius, der als Referendar sich von den blutigen Attiladramen seiner Sekundanerzeit zu populären juristischen Feuilletons für bescheidene Tagesblätter durchgerungen hatte. Dann Willibald von Gollwitz, der gerade von einer verunglückten Expedition auf dem Amazonenstrom, ohne Geld, aber mit Malaria, heimgekehrt war und über seine Reise im »Rheinischen Kurier« berichtet hatte. Auch Tommy Schupp war, wie ich las, aufgenommen. Er hatte in Göttingen den juristischen Doktor gebaut und wurde jetzt zuweilen in der Weinhandlung seines Vaters, angeblich arbeitend, gesehen. Er hatte zwar nur eine dünne Broschüre über »stachelhaarige Foxterriers« mit Bildern aus dem Zwinger seines Vaters erscheinen lassen – immerhin es war, wenn auch fachwissenschaftliche, Literatur.

Die ältere Generation wurde vertreten durch Otto Honneff, der seinen Freund, den Baron, kürzlich begraben hatte und jetzt, recht grau geworden, seine Frühschoppen im »Prinzen von Arkadien« oft bis gegen Abend ausdehnte, und durch Erwin Schuster, der durch eine etwas unklare Abhandlung über »Hamlet, als Sohn, und Lear, als Vater«, die, mit einem echten Bilde des Verfassers vorn und einem angezweifelten Bilde von Shakespeare hinten, im Selbstverlag erschienen war, den Befähigungsnachweis als Schaffender erbracht hatte. Auch Konrad Körber, ein nie rasierter, stürmischer Lyriker, der reimlose Oden von großem Temperament und beträchtlicher Unanständigkeit schrieb, ohne zunächst einen wagemutigen Verleger zu finden, und Max Güldenring, ein unscheinbarer Beamter der Effektenbank, den sein auf den Geldmarkt einflußloser Verkehr an der Börse zum Epigrammatischen herangebildet, waren, von Ben aufgefordert, in dithyrambisch die neue Gründung begrüßenden Briefen der »Literarischen Gesellschaft« beigetreten.

Als einzige Weiblichkeit neben Ruth nahm noch Frau Anna Hayeck, geborene Zimmermann, an den konstituierenden Versammlungen im Café Milani teil. Eine baumlange, brave ältere Dame, die auf Äußerlichkeiten nicht eben viel hielt und deshalb, und weil sie sehr laut sprach, selber aber durch Watte in den Ohren am Zuhören behindert wurde, als Begleiterin auf Spazierwegen nicht eben angenehm war. Sie schrieb Aufsätze zur Erleuchtung des Goetheproblems. Diese Erleuchtung verfolgte, wenn man näher hinsah, im wesentlichen den einzigen Zweck, nachzuweisen, daß die Familie Zimmermann, der Frau Hayeck entstammte, blutsverwandt war mit der Anna Margarete Lindheimer, der dritten Tochter des Kammergerichtsprokurators Kornelius Lindheimer, die der Johann Wolfgang Textor, Goethes Großvater und später Stadtschultheiß von Frankfurt, im Jahre 1727 geheiratet hatte. Womit es einwandfrei erwiesen war, daß die nach Frau Hayecks Aussage außerordentlich angesehene Familie Zimmermann mit Goethe blutsverwandt war; und woraus es sich erklärte, daß die Frau Anna Hayeck, geborene Zimmermann, der Katharina Elisabeth Textor, der späteren Frau Rat, wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Diese Ähnlichkeit mit Frau Aja, die sie durch altertümliche Tracht zu betonen suchte, bestand zwar nur in ihrer Einbildung, machte sie aber sehr glücklich. Sie zeigte sich, wenn's anging, Profil, weil dann die Ähnlichkeit am größten war, und ließ sich mehrfach in einer Haube photographieren, die angeblich aus dem Nachlasse der Frau Rat stammte und dieser von der Bettina von Arnim geschenkt worden war. Ihr Kummer war, daß ihr einziger Sohn, den der eigensinnige Vater nicht Johann Wolfgang, sondern Karl Anton getauft hatte, ein bißchen idiotisch und, wie alle Halbidioten, ein boshafter Trottel war; was er zwar selber als einziger nicht merkte, aber was ihm doch bei den verschiedenen Versuchen, einen Beruf zu ergreifen, recht hinderlich wurde.

Die von Ben begründete »Literarische Gesellschaft« hatte sich ein Zimmerchen im Bürgerverein reservieren lassen für ihre erste gesellige Zusammenkunft. Ben selber hatte den ersten Vortrag übernommen. Über Monla Abd-el Latifî, einen nach seiner Angabe sehr bedeutenden türkischen Dichter des sechzehnten Jahrhunderts aus Kastumal in Anatolien, und seine Werke, insonderheit das berühmte »Lob des Sultans Suleiman, Sohn Selims, Sohn Bajasids, Beherrscher der Ismaeliten, Schatten Gottes auf Erden«. Er war aber leider, da ihm Peter Pütz, Ordnung machend, sein Material verräumt hatte, mit Monla Abd-el Latifî und dem Schatten Gottes nicht fertig geworden. Hatte sich vielmehr am Vormittag händeringend auf meinem Bureau eingefunden und mich beschworen, doch für ihn den Vortrag zu übernehmen. Dieser ehrenvolle Ruf paßte mir sehr wenig, und ich sagte das Ben unverhohlen. Ich war in dieser »Literarischen Gesellschaft« eigentlich doch ein Außenseiter, nur geduldet, nur durch die Verwandtschaft mit dem Gründer zugezogen. Daß ich da als Redner, gar noch als erster der gewiß glänzenden Serie auftreten sollte, wollte mir gar nicht einleuchten. Und gerade heute! Ich hatte – und ich zeigte Ben nicht ohne Stolz den eingeschriebenen Brief – eine vertrauliche Anfrage der Südwestdeutschen Bank in Berlin bekommen, ob ich eventuell bereit sei, als Syndikus bei ihr einzutreten. Das Gehalt und der gebotene Vertrag waren verlockend, Berlin war keine Kleinigkeit – kurz, meine Gedanken lagen durchaus in der Richtung der Strecke Fulda–Bebra–Halle und waren weniger auf den Ruhm gerichtet, rednerische Lorbeeren in einer Literarischen Gesellschaft zu pflücken.

Aber Ben war der Ansicht, daß mir das Berliner Syndikat – er gratuliere übrigens, das sei famos! – nicht weglaufe. Er stellte mir vor, daß, wenn ich nicht einspringe, der ganze Abend ins Wasser falle. Gleich der erste! Er, Ben, sei aber dann bis auf die Knochen blamiert. Honneff, den er gebeten, habe gesagt, er sei kein Redner und er brauche vier Wochen Zeit, sich vorzubereiten. Erwin Schuster habe sich bereit erklärt, die Forumszene aus dem Cäsar und die Bürgersche »Leonore« zu deklamieren. Aber man könne eine neue Literarische Gesellschaft doch nicht mit den ältesten Deklamationen eröffnen. Der Lyriker Konrad Körber stehe gar nicht im Adreßbuch und sei nur durch seinen Freund Güldenring zu erreichen, der aber heute den ganzen Vormittag auf der Börse zu tun habe. Kurz, es bleibe keine andere Lösung als die, daß ich, der ich doch das öffentliche Reden gewohnt sei, mich erbarme. Er habe nun schon eine Goethebüste aufs Podium stellen lassen und einige Palmen und Blattpflanzen um den Katheder, die Gründer seien geladen, der Wirt benachrichtigt, der Kellner bestellt. Das könne doch nicht alles umsonst sein.

Ben tat mir schließlich leid in seinen Gründernöten. Die Palmen und Blattpflanzen, die ich vom Gericht nicht gewöhnt war, schüchterten mich zwar wieder etwas ein. Aber schließlich, als ich seine hilflos flehenden Augen sah, sagte ich seufzend zu.

Da ich aber über den türkischen Dichter Monla Abd-el Latifî aus einleuchtenden Gründen nicht sprechen konnte, so erklärte ich mich bereit, über ein Thema, das mich bisher stärker interessiert hatte als Suleiman, Sohn Selims, Sohn Bajasids, Beherrscher der Ismaeliten, mir rasch ein bißchen was zu überlegen. Und so sprach ich zu meinem eigenen Erstaunen an diesem Abend nach einigen enthusiastischen Eröffnungsworten Bens, der als Einziger im Frack war, in der ersten offiziellen Sitzung der Literarischen Gesellschaft. Sprach als erster Redner im Kreise dieser Schaffenden über »Verbrechen und Literatur«.

Dicht vor mir, nur durch die Palmen und Blattpflanzen getrennt, deren Arrangement allerdings einer Aufbahrung nicht unähnlich war, saßen Ruth Baddach und Ben. Ruth nahm die mir bekannte langgestielte Lorgnette nicht vom Auge und schien, was mich ein wenig zerstreute, mehr physiognomische Studien zu machen, als meinen Darlegungen Gehör zu schenken. Mein Bruder Ben strahlte. Er lächelte mir, so oft ich ihn ansah, dankbar und ermunternd zu. Dann wieder überzeugte er sich durch einen Rundblick, wie ich auf die übrigen Festteilnehmer wirke. Hin und wieder gab er dem Kellner, der abscheulich knarrende Stiefel trug und den Husten hatte, energische Zeichen mit der Hand, seiner Stiefel und seiner Bronchien Herr zu werden.

Den Kopf mit den weißen, gebrannten Locken weit zurückgelegt, saß Erwin Schuster in einem Fauteuil und begleitete meine Sätze mit höchst ausdrucksvoller Mimik. Ihm gegenüber blinzelte Otto Honneff, der ein ermüdendes Tagewerk hinter sich haben mochte, in sein Rotweinglas. Mein Schwager Fips machte sich eifrig Notizen, und mir kam der Gedanke, er könne, seiner Neigung zum Disputieren nachgebend, die Frechheit haben, mir in der Diskussion nachher Irrtümer nachzuweisen. Willibald von Gollwitz, der nicht gut aussah, hatte seine Uhr vor sich hingelegt und fühlte sich von Zeit zu Zeit selber den Puls. Hin und wieder nahm er aus einem Schächtelchen eine Pastille und trank, gewissenhaft schluckend, klares Wasser nach.

In einer Ecke aß ein schlecht rasierter Jüngling einen Hering mit Pellkartoffeln. Er war bestimmt der Neutöner Konrad Körber. Er schwang dazu das Messer, als ob der Fisch noch am Leben sei und seiner Konsumierung wilden Widerstand entgegensetze. Dazu wackelte der schiefsitzende Zwicker diesem Mitgründer der Literarischen Gesellschaft auf der windschiefen Nase. Hin und wieder entrollte eine Pellkartoffel der Messerklinge und fiel zu Boden. Erhob der Schmausende zufällig seinen Blick, so lag eine unverkennbare Feindschaft gegen den Redner in seinen zugekniffenen Äuglein, die mich über die Zwickergläser hinweg mißbilligend durchbohrten. Still, sinnend und in sich gekehrt, saß ihm Max Güldenring gegenüber, der Epigrammatiker und Beamte der Effektenbank. Ein kümmerliches Männchen, das durch einen fliegenden dunkelroten Schlips seine Zugehörigkeit zur Kunst dokumentierte. Daß er sich mit einem Federmesserchen die Nägel säuberte, machte seinem Reinlichkeitssinn alle Ehre, zerstreute mich aber doch; und ich hätte viel drum gegeben, wenn er weniger gründlich bei dieser Reinigung zu Werke gegangen wäre.

Immerhin, so ungewohnt mir dieses erlesene Publikum und seine Lebensgewohnheiten war, es schien mir ganz leidlich zu gelingen mit meinem Vortrag. Ich legte, von ein paar Notizen unterstützt, frei redend ungefähr das Folgende dar. Die schreibenden Künstler haben drei Wege, uns für das Verbrechen und den Verbrecher zu interessieren. Entweder: sie lassen die Tat vor uns geschehen, lassen uns teilnehmen an allen Einzelheiten und zeigen nun das Spiel zwischen dem Verüber, den wir kennen, und seinen Verfolgern. Oder: sie führen uns an den Schauplatz des Verbrechens, sie geben die Details, verraten aber den Täter nicht. Sie reizen unseren Scharfsinn, mit den Spürern und Häschern unter der Fülle der vorgeführten Gestalten den wahren Täter langsam zu finden. Schritt für Schritt in die Enge zu treiben, zu fassen, zu überführen, zu richten. Die erste Art der Schilderung, sagte ich, sei die billigere, früher beliebtere; eine Rinaldoliteratur, die leicht zur Verherrlichung gewisser Banditen und Brigantentypen führe, denen dann auch mit Reminiszenzen an den edlen Räuber Moor vornehme und heroische Züge aufgeprägt würden. Die zweite Art der Schilderung sei in den letzten Jahrzehnten in Mitteleuropa mehr beliebt gewesen. Als Musterbeispiel in prägnanter Kürze wies ich auf Edgar Allan Poes Novelle vom »Mord in der Rue Morgue« hin, wo unter höchst rätselvollen Umständen eine geheimnisvolle Bluttat ausgeführt wird, deren Entschleierung der Leser mit atemloser Spannung folgt, um allmählich zu dem zwingenden Schlusse zu gelangen, daß überhaupt gar kein Mensch der Täter ist, sondern – ein Tier, ein Affe. Der dritte Weg endlich, führte ich aus, sei der: ganz aus der Seele des Schuldigen heraus die Tat, ihre Verfolgung, ihre Sühne zu erzählen: uns nicht etwa nur zum Zuschauer des aufregenden Kampfes zwischen einem Verbrecher und der Gesellschaft, die ihn fassen und richten will, zu machen, sondern uns psychologisch zu erklären: so geschah das Furchtbare, so mußte es geschehen; dies waren die Gefühle vor, bei und nach der Tat; und so hat der Verfolgte empfunden bei dem furchtbaren Kampf, List gegen List, um sein Leben, bis ihm die Kraft oder die Intelligenz versagte, bis er zusammenbrach. Als berühmtestes Beispiel der Weltliteratur hierfür rühmte ich den »Raskolnikow« des Russen Dostojewski. Das Ineinanderfließen von Leidenschaft und kalter Berechnung, des wahrhaft rechtlichen Empfindens und der bloßen Komödie der Rechtschaffenheit, dem Drang zur Wahrheit und den Zwang zur Verschlagenheit zugleich sei in solchen Büchern gedeutet. Ich müsse anerkennen, daß sie vielleicht die stärkste Kulturarbeit verrichten; denn sie geben, wie das ein italienischer Strafrechtslehrer gut ausdrückte: eine Bestätigung des heutigen Mißklangs zwischen der fortschreitenden Bewegung der Psychologie und Psychiatrie und der Beschaulichkeit der Strafgesetze . . .

Mir kam vor, ich machte meine Sache ganz brav. Wenigstens in Anbetracht der unleugbaren Tatsache, daß ich vor acht Stunden noch keine blasse Ahnung gehabt hatte, daß und was ich sprechen werde.

Ben, der mir, so oft ihn mein Blick streifte, ermunternd leise zugenickt hatte, kam, als ich geendet, auf mich zu und drückte mir dankbar die Hand. Ihm schien der Abend gerettet, die Gesellschaft würdig eingeleitet, und er fand dafür die herzlichsten Worte.


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