Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Vierzigstes Kapitel

Sechsmal war seitdem der alte Fritz auf seinem hohen Postament unter den Linden durch einen neuen Frühling geritten. Sechs Herbste hatten ihn mit goldenen Lindenblättern umwirbelt. Sechs Winter hatten ihm Mantel und Dreispitz mit glitzerndem Schnee beworfen. Aus all den Bübchen, die bang und erwartungsvoll an jenem klaren Oktobermorgen zum erstenmal der Schulpforte zugetrippelt waren, sind Quintaner geworden, die schon mit Julius Cäsar im bello gallico die vokabelreiche Rheinbrücke schlagen, seufzend Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen und sich deutsch und brav beim Uhlandschen »Herzog Ernst von Schwaben« langweilen.

Ben gibt noch immer den »Letzten Schick« heraus, wandert noch täglich auf sein Bureau, kauft noch immer Abreißkalender und ähnliche Nützlichkeiten in dem kleinen Papierlädchen, sieht noch immer von seinem Arbeitssessel überm Pult im Eichenrahmen das alte Frankfurt mit Dom und Pauluskirche. Die hellgelbe Ledermappe, die er bei jenem ersten Gang trug, ist ihm längst in der Stadtbahn gestohlen; er hat sie durch eine noch geräumigere dunklere ersetzt. Das gut coiffürte und blendend manikürte Fräulein ist schon verheiratet, wieder geschieden und als Vorsteherin ins Bureau zurückgekehrt, in dem jetzt noch ein ältliches Mädchen die Registratur besorgt, und eine schwammige Blondine, solange Ben anwesend ist, phlegmatisch tippt und, sobald er gegangen, heißhungrig die Fortsetzungen der Romane in »Morgenpost«, »Voß« und »Lokal-Anzeiger« verschlingt.

In einem Raum, der atemberaubend nach schwarzen Zigarren riecht und in dem immer Nußschalen zwischen Manuskripten, Büchern und Zeitschriften herumkrachen, amtiert noch immer Tobias Moscheles, wenn er nicht gerade in der gepolsterten Telephonzelle geheimnisvolle, andeutungsreiche Gespräche führt oder sich auf einem seiner nicht minder mysteriösen Geschäftsgänge befindet, für die er monatlich hundert bis hundertzwanzig Mark Droschkengelder und annähernd das Doppelte an »Repräsentationsgeldern« liquidiert. Es hat sich nämlich im Laufe der Zeit herausgestellt, daß gerade die besten Zeichner und wichtigsten Mitarbeiter der Zeitschrift eine Vorliebe dafür haben, die geschäftlichen Besprechungen nicht in den Redaktionsräumen, sondern in einem Café der Innenstadt oder des Westens abzuhalten. Wobei dann im Sinn und Auftrag des Verlages Tobias Moscheles die nicht immer geringe Zeche zu bezahlen sich moralisch verpflichtet fühlt.

Moscheles ist auch die Seele der Neugründungen, die sich um den »Letzten Schick« gruppieren. Aus einer kleinen Ausstellung von Originalzeichnungen, die für die Zeitschrift gefertigt waren, und die sich meist inhaltlich um die Dame, ihre Moden und Bedürfnisse drehten, entstand in zwei Räumen unter der Redaktion eine »Permanente Kunstausstellung moderner Meister der Eleganz«, in der man, auf dicken Smyrnateppichen wandelnd, an den Wänden Porträte und Studien schöner Frauen westlicher Bankiers und östlicher Tingeltangels neben Tanzstudien und Gesellschaftsbildern bewundern konnte. Angegliedert war ferner in den Parterreräumen des Hinterhauses seit zwei Jahren eine »Schule für Körperkultur und edlen Anstand«, in deren tempelartigen Sälchen zwei ältliche, sehr wohlriechende Fräuleins, die ehemals dem Königlichen Ballett angehörten, jungen Damen die Anstandsregeln des guten Tons beibrachten und nach einer vom Vicomte de Lussignac erfundenen Lehre in besonderem Kursus den »Rhythmus der häuslichen Verrichtungen« lehrten. Darunter verstand der merkwürdige Vicomte, der nun schon das vierte »Duell« hinter sich hatte, die ins gewöhnliche Leben übertragene Grazie der Bewegungen sowohl als des Lächelns im Verkehr und der Rede bei der Begrüßung von Gästen, beim Einschenken von Tee und Schokolade, beim Arrangement von Spielen, beim Besuch von Theater und Konzerten, bei Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen. Tobias Moscheles, der angeblich die Aufsätze und Broschüren des Vicomtes de Lussignac aus dem Französischen übersetzte und mit dem bonapartistisch gesinnten Vicomte in regem Briefwechsel stand, der sich sogar in den Buchungen der Portokasse gewissenhaft belegt fand, hatte gelegentlich einer auf Verlagskosten unternommenen Pariser Reise innige Freundschaft mit dem Vicomte geschlossen. Er überwachte nun, gewissermaßen als dessen Jünger und Prophet, die interessanten Kurse, in denen Berlin der Lichtstadt Paris voraus war. Die eigenartige Zusammensetzung der Schülerinnen dieses aussichtsreichen Unternehmens brachte es mit sich, daß Tobias Moscheles, der als Förderer starker Talente Ausgezeichnetes leistete, bald mit einer in höhere Gesellschaftskreise strebenden jungen Witwe bei Dressel frühstückte, bald in abgeschlossenem Weinzimmer am Belle-Alliance-Platz mit einem stellenlosen Gelbstern nach dem Theater Hummermayonnaise aß. Da er sich auch als Lehrer an dieser privaten Hochschule betätigte, dreimal wöchentlich Vorträge über die Schönheit der Lebensführung und zweimal über die Philosophie der Grazie nach dem System des Vicomtes de Lussignac hielt, wofür er sich einen der Neuheit und Schwierigkeit der Materie entsprechenden hohen Gehalt ausgesetzt hatte, so konnte er seine noblen Passionen bestreiten, ohne höhere Schulden zu machen, als sie Ben am Ende jeden Quartals ihm seufzend zu bezahlen bereit war.

Ben sah wohl den peinlichen Zwiespalt zwischen Lehre und Leben seines betriebsamen »Adjutanten«, wie sich Tobias Moscheles mit dem ihm eigenen fröhlichen Humor gern nannte. Er hatte auch den Blick für den grellen Kontrast, in dem die äußere Erscheinung und die Gewohnheiten dieses Busenfreundes des Vicomtes de Lussignac mit dem Inhalt seiner kulturtragenden Vorträge standen; aber Tobias Moscheles war zu sehr mit dem ganzen Unternehmen verwachsen, als daß Ben daran denken konnte oder wollte, sich von diesem Betriebsamen zu trennen. Kam hinzu, daß Ben selbst mit der Zeitschrift viel zu tun hatte, deren Aufsätze, soweit sie nicht reine Fragen der Mode, der Kosmetik, des Schmuckes und des Tanzes betrafen, alle durch seine glättende und bessernde Hand gingen.

Auf seinen sogenannten Redaktionsstab konnte er sich wenig verlassen. Er hatte für die novellistische und lyrische Abteilung den Lyriker Otto Honneff aus Frankfurt kommen lassen, weniger veranlagt durch den felsenfesten Glauben an die Eignung dieses sich den Siebzigern nähernden Dichters just für diesen Posten, als durch einen Brief, in dem ihm der väterliche Freund seiner Jugend sorgenvoll mitteilte, daß er mit seinem Vermögen annähernd zu Ende sei und nicht wisse, von was er seine Monatsrechnung im »Prinzen von Arkadien« und im »Falstaff« in naher Zukunft bezahlen solle. Anständig, wie Ben war und selbst im Verkehr mit den vielfach eigenartig orientierten Künstlern, die von seiner Zeitschrift lebten, blieb, hatte er sich erinnert, daß er eigentlich in kindlichem Unverstand jene aussichtsreiche Verbindung des Lyrikers mit der Tante Leonie vor vielen Jahren verhindert hatte und mithin eine freilich nicht einklagbare Schuld daran trug, daß Otto Honneffs Vermögen schon in der Nähe seines siebzigsten Geburtstags und nicht erst viel später zu Ende ging. So saß denn seit drei Jahren der von der Gicht schiefgezogene Lyriker, dessen Gedichte niemand mehr las und dessen Prosa nie bedeutend gewesen war, zwischen einem halbleeren Tintenfaß und einer ebensolchen Burgunderflasche in einem überheizten Zimmerchen neben Ben, rauchte aus einer langen Pfeife, die noch aus seiner Festungszeit stammte, einen scharfen, alle Ritzen durchdringenden Knaster, las die illustrierte Konkurrenz, schrieb boshafte Bemerkungen an den Rand, suchte seine Brille, schimpfte auf die Regierung, löste Schachaufgaben und schrieb zwischendurch an seinen Erinnerungen, die aber über das Kapitel seiner Bekanntschaft mit dem Baron von Schwarzschild nie hinauskamen.

Immerhin war seine von Ben anständig bezahlte Tätigkeit, die sich doch auch mal auf Korrekturlesen und Bereicherung der Rätselecke um einen Originalbeitrag erstreckte, für das Unternehmen noch ersprießlicher, als die Wirksamkeit Konrad Körbers, dem Ben auf bewegliche Briefe Anna Hayecks, Max Güldenrings und eine Befürwortung des Freundes Fips Tomasius ein Asyl gewährt hatte. Nach verschiedentlichen Entziehungskuren, die eine dauernde Heilung nicht herbeigeführt hatten, und nach einer Konfiskation eines Bändchens Oden, die der Dichter »Das Weib, nur mit Rhythmen bekleidet von Konrad Körber« genannt, hatte sich die Familie des Dichters bereit gefunden, ihm eine bescheidene Jahresrente zu zahlen unter der einzigen Bedingung, daß der Neutöner die Städte Frankfurt, Hanau, Wetzlar und Apolda niemals wieder zu längerem oder kürzerem Aufenthalt aufsuche. In den genannten Städten lebten nämlich Angehörige der Familie Körber, deren Lebensanschauungen und Gewohnheiten sich mit denen des Dichters in unvereinbaren Gegensätzen befanden. Hanau und Wetzlar zu meiden, fiel dem gemaßregelten Dichter nicht schwer; auch Apolda lag nicht auf der Route seiner Herzenswünsche; dahingegen schmerzte ihn das Aufenthaltsverbot für Frankfurt tief, da er davon geträumt hatte, im Geistesleben dieser Stadt, die ihn geboren, eine führende und beherrschende Rolle zu spielen. Schließlich aber unterschrieb er den nicht gerade ehrenvollen Vertrag und begab sich auf dem Umweg über Leipzig, wo er die erste Monatsrate seines seltsamen Stipendiums gleich am Bahnhof restlos im Kümmelblättchen an zwei polnische Kavaliere verlor, nach Berlin. Er besuchte Ben und rechnete ihm vor, daß er von dem ausgesetzten »Ehrensold« der Familie, wie er die bedingte Unterstützung etwas euphemistisch nannte, ein seiner Herkunft und seines Genies würdiges Leben nicht führen könne; daß er aber, als ein am Leben Gescheiterter, bereit sei, seine hohen Gaben um des lieben Brotes willen in die schweren Ketten des elenden Kulidienstes eines Berufes zu schlagen. Und Ben, der verblendeten armen Teufeln gegenüber nie nein sagen konnte, weil er die Sorglosigkeit der eigenen Glücksumstände stets als eine unverdiente Gunst empfand, stellte den Stipendiaten der Familie Körber als Redakteur an. Tat es, obschon Tobias Moscheles nach einer flüchtigen Bekanntschaft mit dem in Aussicht genommenen Kollegen ohne Begeisterung geäußert hatte: »Nach was riecht er? Nach Absinth. Nach was sieht er aus? Nach nischt. Was kann er? Das, wonach er aussieht. Und was soll er hier? Das weiß der liebe Gott!«

Aber das hatte Ben vielleicht vom lieben Gott direkt gelernt, daß er immer noch etwas mit gescheiterten Existenzen zu machen wußte und in seiner Gutmütigkeit so tat, als ob immer noch ein Brauchbares in Schiffbrüchigen stecke. Als es sich erwiesen hatte, daß Konrad Körber als Schriftleiter nur Konfusion anrichtete, Mitarbeiter brüskierte, Manuskripte verschlampte, Briefe verlegte, Korrekturen nicht besorgte und sich mit allen Angestellten zu zanken geneigt war, verwandte ihn Ben als Annoncenakquisiteur. Als der Dichter in dieser Eigenschaft zwar neue Inserenten nicht zu werben vermochte, wohl aber einige der getreusten alten zu geharnischten Protesten beim Verlag veranlaßt hatte, sah sich Ben genötigt, ihm auch diese Betätigung seufzend wieder abzunehmen. Da es ihm nun schien, der haltlose Mann, der doch immerhin ein Talentfünkchen in der Brust trug und ein Frankfurter war, müsse, wenn man ihn loslasse, vor die Hunde gehen, und zwar gleich vor die schlimmen Berliner Hunde, so ersann Bens Findigkeit eine neue, eigenartige Aufgabe für ihn, die er ihm honorieren konnte. Konrad Körber bekam den ehrenvollen Auftrag, für den Verlag des »Letzten Schicks« die Vororte Berlins aufmerksam zu durchwandern und sich scharf danach umzuschauen, wo sich etwa eine fensterlose Hauswand oder ein geräumiger Bretterzaun für eine große Bilderreklame der Zeitschrift eignen könne. Auf diese Weise war man den unbequemen Dichter in den Geschäftsräumen los. Konrad Körber nannte sich von diesem Tage an »Propagandachef« und fuhr nun alltäglich nach selbstgewählter Route mit der Elektrischen in die Vororte und spürte nach Hausmauern und Bretterzäunen, die noch nicht beklebt waren und die für Anpreisungen der Unternehmungen des Verlags nach seiner Ansicht in Frage kamen. Jeden Sonnabend erschien er dann bei Ben, um mit etwas verglasten Augen und nicht restlos beherrschter Zunge in umständlichem Vortrag zu melden, daß er hinter der Kadettenanstalt in Lichterfelde einen noch jungfräulichen Bretterverschlag entdeckt habe, der sich für eine Reklame der »Permanenten Kunstausstellung moderner Meister der Kunst« trefflich eigne; oder daß er links vom israelitischen Friedhof in Weißensee eine Selterwasserbude angetroffen, deren Hinterwand wie gemacht erscheine, eine Anpreisung der »Schule für Körperkultur und edlen Anstand« in Wort und Bild auf das große Publikum wirken zu lassen. Für diesen meist niemals benützten wertvollen Wink erhob er dann neben seinem anständigen Wochenfixum eine kleine Provision und tanzte Sonntags, wie der Ausläufer des Verlags beobachtet haben wollte, die neuesten Rundtänze mit den Grunewalder Köchinnen in Halensee.

Es ist möglich, daß sich Ben seine geistige Arbeit und Pioniertätigkeit, auch den Kreis seiner Mitarbeiter in Berlin etwas anders gedacht hatte; aber es ist sicher, daß Ruth dies alles ohne Begeisterung sah. Langsam, aber unaufhaltsam hatte sie sich innerlich von Ben immer mehr entfernt. Solange ihr Einfluß auf ihn der allein maßgebende war, sah sie in seiner Schwäche nur die Güte, die ihr, der härter Geschaffenen, wohlgefiel. Als aber die Weltklugheit und der Egoismus, das Unglück und die Taktlosigkeit der Anderen Ben und seine menschenfreundliche Hilfsbereitschaft auszunützen bestrebt waren, sah sie in der Güte nur noch die Schwäche. Und da Frau Morgenthau leider recht behalten hatte und der Ehe der von Ben sehnlichst gewünschte Nachwuchs dauernd versagt blieb, so schob sich nichts Versöhnliches, aufs neue bindend und glättend, zwischen diese beiden so verschiedenartigen Menschen, die einmal geglaubt hatten, füreinander bestimmt zu sein.

Wenn es auch schwer war, mit Bens versöhnlicher Natur in harte Konflikte zu geraten, so stellten sich doch Meinungsverschiedenheiten und Mißhelligkeiten immer häufiger ein, die von Ben mit betrübtem Schweigen verschleiert und ertragen, von Ruth mit ätzender Ironie beleuchtet und erörtert wurden. Das erste schwere Sichmißverstehen lag mehr als fünf Jahre zurück und hing mit dem plötzlichen Tode des Kommerzienrats Baddach zusammen.

Es wurde nie aufgeklärt, ob damals die Familienpapiere Gigis endlich doch noch gekommen waren und ihre solid bürgerliche Abkunft erwiesen hatten, oder ob der verliebte Kommerzienrat geflüsterte Geständnisse gehört und verziehen hatte; jedenfalls die Hochzeit war schließlich gerichtet worden. Der Kommerzienrat war zur letzten Anprobe seines Hochzeitsfracks beim ersten Schneider Frankfurts auf dem Roßmarkt vorgefahren. Als der Wiener Zuschneider, sehr befriedigt vom eleganten Fall der Beinkleider und dem tadellosen Taillensitz, für einen Augenblick das Probierzimmerchen verlassen hatte, ein Stückchen Kreide zu holen, fand er wiederkommend den Kommerzienrat zwischen den vier verstellbaren Spiegeln sitzend mit herabhängendem Kinn und halbgeschlossenen Augen. Und alle vier verstellbaren Spiegel kündeten sofort dem entsetzten Zuschneider: der Kommerzienrat war tot. Ein Schlaganfall hatte den Ungewarnten, in einem letzten Genuß des Anblicks seiner noch immer guten Figur in vier verstellbaren Spiegeln, rasch und schmerzlos erledigt. In seinem zweiten Hochzeitsfrack wurde er vier Tage später auf dem schönen Frankfurter Friedhof beigesetzt. Die alten Kranzverkäuferinnen in ihren Buden am Friedhofsportal sprachen noch wochenlang von der Länge des Kreppschleiers der trauernden Braut, der zur Gefaßtheit ihres Schmerzes in keinem rechten Verhältnis stand. Bei der Testamentseröffnung stellte sich heraus, daß der Kommerzienrat, seiner Gesundheit sicher, seinen letzten Willen so unglücklich gefaßt hatte, daß erst die ehelich verbundene Gattin einen wesentlichen Teil des großen Vermögens bekommen hätte, während die Braut in Trauer nun rechtlich nichts zu verlangen hatte. Ben nahm als selbstverständlich an, daß man sich nicht an das Recht klammern werde, das diese sicher nicht beabsichtigte Fassung des Schriftstücks der Tochter gab. Aber Ruth vertrat ohne jede Schwächenanwandlung den Standpunkt, daß Gigi von ihrem Vater bei Lebzeiten reich genug beschenkt worden sei, und daß nunmehr die Weisheit des Himmels gegen sie entschieden habe. Sie ließ ihr durch meinen Nachfolger im Frankfurter Anwaltsbureau ein paar tausend Mark Abfindungssumme anbieten, wenn sie nicht den Prozeßweg beschreite. Als die schlecht Beratene dennoch prozessierte und den Prozeß trotz persönlichen Erscheinens im schwarzen Kreppschleier verlor, bekam sie gar nichts. Sie verkaufte Pferde, Schmuck und Einrichtung und trat ein halbes Jahr später mit weißen Kakadus im meergrünen Trikot wieder im Wintergarten auf, genau in der Nummer, die drei Jahre zuvor das Herz des alternden Baddach bezaubert hatte. Ben aber hatte, wenn Ruth von diesem Prozeß, von Gigi und den Kakadus sprach, immer das schmerzende Gefühl, als rede eine ganz fremde Person von ganz weither herzlos von der Übertölpelung eines sonst klugen Mannes, der, so gut er sonst zu rechnen verstand, seine Jahre schlecht gezählt und seine Lebenskraft überschätzt hatte. Und er sah immer den Kommerzienrat Baddach in seinem noch knopflosen Hochzeitsfrack, in dem noch die Stecknadeln der Anprobe glänzten, zwischen vier verstellbaren Spiegeln sitzen und traurig und hilflos ins Leere lächeln.

Schon in der zweiten Hälfte des Trauerjahrs füllte sich Ruths Salon mit allerlei Glanz und Ruhm und Tagesgröße. Die neue Wohnung in einer ersten Etage des vornehmsten Westens, die das junge Paar für die japanischen Museumsräume der von Tokio glücklich heimgekehrten Witwe Jänisch eingetauscht, war prunkvoll und gediegen möbliert, mit vielen schönen Truhen, Schränken, Vitrinen und Bildern aus Ruths Vaterhaus ausgestattet und schuf mit ihren sehenswerten Stücken alter Kunst des Barocks und der Renaissance den in aller Vornehmheit behaglichen Rahmen für eine Geselligkeit großen Stils.

Teeabende mit Musik, die sich bald einer gewissen Berühmtheit erfreuten, führten Ruth in die Gesellschaft ein oder besser die Gesellschaft bei Ruth. Ein paar Wohltätigkeitsfeste taten das übrige. Auf einer dieser Veranstaltungen errichtete sie mit Bens schönen aus dem Orient mitgebrachten Teppichen, Geweben, Waffen und Keramiken ein vielleicht nicht sehr echtes, aber sehenswertes Beduinenzelt. Sie selbst, als Wüstenschöne in einem hellen Faltenwurf, der den ebenmäßigen dunklen Glanz ihrer Haut beträchtlich hob, kredenzte darin aus winzigen Täßchen mit lächelnder Anmut sehr kostspieligen Tee. Nicht nur die Garde, auch die Finanz und Intelligenz fühlte sich an jenem Abend in die Wüste gelockt. Es war ein offenes Geheimnis, daß sich ein östlicher Gedichtzyklus des damals in eine kurze Mode kommenden Lyrikers Rebserp mit ihr beschäftigte und das lodernde Feuer spiegelte, das in dem Herzen dieses leicht empfänglichen und leicht vergeßlichen, lebensfrohen Genießers bei ihrem Anblick ausgebrochen war:

Dunkle Fatme, der Rebekkas
Holde Anmut ward geschenkt.
Wenn sie vor den Toren Mekkas
Dürstende Kamele tränkt,
Allahs lieblichste Gedanken
Flattern um dein Lockenband –
Und wie schmeicheln diese schlanken
Finger deiner Kinderhand!
Heiß entzündend zu Gesängen,
Blickt dein Auge still und groß.
Wie an Judas Felsenhängen
Glüht die Rose Salomos!

Dunkle Fatme! Mit sich nehmen
Dein Gedächtnis muß der Gast,
Dem du je im Lande Jemen
Stutenmilch geboten hast.
Bist du vor das Zelt getreten
In der Wüste nächt'ge Ruh',
Lacht als Stern dir des Propheten
Frauenfreud'ges Auge zu.
Und ich schlürf das Glück zur Neige,
Wenn du, heiß in Liebesangst,
Biegsam, wie Magnolienzweige,
Um den Hals die Arme rankst . . .

Jedem, der Ruth kannte – und zu diesen gehörte gottlob Ben in erster Linie – war es klar, daß die also Angesungene immerhin eher noch Stutenmilch im Lande Jemen verabreicht, als ihre Arme in Liebesangst, biegsam wie Magnolienzweige, um des Dichters Hals gerankt hätte. Aber als der jugendliche Held des Kleisttheaters, Philippos Kallistos, ein auf Kephalonia geborener genialer, aber etwas unsauberer Grieche, der die deutsche Sprache mehr sang, als sprach und sich rezitierend in alle Frauenherzen hineintremolierte, diesen Zyklus in den Mittelpunkt seines »Intimen Vortragsabends« stellte und, in blühenden Rosenbüschen auf violett beleuchtetem Podium sitzend, die fünfzehn Gedichte zu der roten Loge hinaufsprach, in der Ruth sehr schön, sehr kühl, sehr stolz mit dem etwas verlegen lächelnden Ben, dem Maler Werner Fritzlar, dem Komponisten Alois Dondörfer und dem türkischen Gesandten saß, da hatte der Berliner Westen für einige Tage den willkommenen Gesprächsstoff, den ihm die politisch ruhige Lage breit und interessevoll zu behandeln erlaubte. Der Komponist Dondörfer aber komponierte einige der Lieder aus dem Zyklus und auf dem Widmungsblatt stand Ruths Name.

Schon im dritten Jahre ihres Berliner Aufenthalts fehlte in Ruths Salon kein Stand und kaum ein Name, den ein gesellschaftlicher Ehrgeiz sich noch hätte wünschen können. Ein unverheirateter, sehr dekorativer Unterstaatssekretär, der Männern gegenüber voll unnahbarer Hoheit war, im Verkehr mit hübschen Frauen aber die galanten Bräuche alter Minnehöfe diensteifrig wieder aufblühen ließ, zog viele Diplomaten nach sich, die gern gut aßen und schöne Hände küßten. Gelehrte, die Freunde einer gepflegten Unterhaltung, und Schriftsteller, die Verehrer eines gepflegten Weinkellers und einer raffinierten Küche waren, fanden sich ein. Künstler, wie Werner Fritzlar, den der Hof mit Aufträgen überhäufte, und der demgemäß den Jungen als überlebter Byzantiner galt, wie der Komponist Dondörfer, dessen Musik so sehr der Zukunft gehörte, daß ihr die Gegenwart ratlos und ängstlich, den Anschluß zu versäumen, gegenüberstand, wie der Schauspieler Kallistos, der heute als Romeo die Backfische des Westens zu dummen Briefen begeisterte, morgen den ältesten Oberlehrern durch Rezitation des Urtextes der Odyssee Tränen in die blonden Vollbarte rollen ließ, sie alle gehörten bald zu den selten fehlenden Stützen des Salons. Der Professor Kaltenborn, der die wohlgenährten Damen der Hochfinanz malte und sich davon zuweilen durch wundervoll im Fleisch leuchtende Akte erholte, sang in Ruths Salon mit schönem Bariton seine Lieblingslieder. Der erfolgreiche Lustspieldichter Kobus, der unter den Neueren den flottesten Dialog schrieb, zeichnete schweigsam seine köstlichen Karikaturen der Gesellschaft auf die Menükarten. Und in der Angst, ihre Männer oder Seelenfreunde ganz an diesen Kreis zu verlieren, kamen auch, säuerlich lächelnd, die durch Geburt oder Schönheit oder seltener durch beides ausgezeichneten Damen der Kreise, die sonst die tödliche Langeweile gern mit dem hochmütigen Bewußtsein bezahlen, unter sich zu sein.

Mit Ruth aber ging eine Veränderung vor sich, oder vielmehr es begannen Eigenschaften durchzuleuchten, die früher gebändigt und versteckt lagen. Immer mehr beherrschte ihr Tun und Lassen der Ehrgeiz, eine Rolle zu spielen und die gesellschaftliche Leiter Sprosse um Sprosse sicher und rasch zu erklimmen. Um Bens Unternehmungen kümmerte sie sich nur noch, wenn der »Letzte Schick« Bilder aus dem Kreise ihrer Trabanten brachte. Etwa im Modeteil »die Phantasiekostüme der Tänzerin Mahûde«, die eigentlich eine verarmte Adlige war, eine Freiin von Gonzenheim, und die in Ruths Salon zuerst ihre ägyptischen und indischen Tänze, mit nackten Füßen, spangenrasselnd, vorgeführt hatte; oder »Alexander Kallistos beim Rollenstudium« oder einen »Blick in Werner Fritzlars Atelier« mit sieben kaum angefangenen und schon gelangweilten Prinzessinnen auf den Staffeleien. Für den Verkehr mit Ben hatte sie sich in einen kühl bemutternden Ton hineingelebt, durch den für den Hellhörigen zuweilen eine leise Ironie durchklang. Sie ließ ihn nicht selten fühlen, daß der Glanz, der von ihrem Salon und ihrem Verkehr ausstrahlte, nicht sein Verdienst sei; und wenn er dann andeutete, daß er auch sein Glück nicht darin finde, so bemerkte sie mit einem abweisenden Lächeln, daß er allerdings durch den vertrauten Umgang mit den Dichterfürsten Otto Honneff und Konrad Körber und mit dem bonapartistischen Vicomte de Lussignac verwöhnt sei, aber immerhin auch den Kreis gelten lassen müsse, den sich die etwas höheren Ansprüche seiner Frau zu schaffen gewußt hätten.

So stand Ben jeden Abend in tadellosem Frack, das grüne Bandendchen des Osmanje schamhaft im Knopfloch, zwischen Ruhm, Adel und Finanz in seinen eigenen pompösen Räumen verbindlich lächelnd, Zigarren und Kognak anbietend, herum, oder er hörte im Hintergrund einer Loge, von deren Brüstung Ruths feurige Ringe blitzten, zum dreißigsten Male, daß Vetter Turiddu von sizilianischer Bauernehre erschlagen sei; oder er sah den feisten Dondörfer, schwitzend mit den Bewegungen eines Veitstänzers seine neue Symphonie, Opus 129, dirigieren, die sich für ein der Zukunftsmusik noch nicht erschlossenes Ohr anhörte, als werde eine Hotelküche von unwirschen Spülmädchen aufgeräumt. Und wenn ich dann in solch unbewachten Momenten einen Blick in Bens Antlitz warf, dann fand ich den leichtherzigen Frohsinn von einst gelöscht darin, und es lag wie ein Schleier von müder Resignation über den immer noch jugendlichen Zügen. Ben war nicht glücklich.

Der einzig restlos Glückliche in seinem Hause aber war vielleicht Peter Pütz, der hochherrschaftliche Diener. Ohne den Gedanken an das Friseurgeschäft aufzugeben, ohne in den Übungen an Rosa Riemenschnuts herrlich roter Haarfülle nachzulassen, ging der gelehrige Schüler des Prinzen Reuß auf in den schwierigen und verantwortungsreichen Obliegenheiten, die der immer stärker anwachsende, immer vornehmere Verkehr an die Geläufigkeit seiner Zunge, die Biegsamkeit seines Rückens und die Sicherheit seiner Formen stellte. Abends spät beim Zubettegehen memorierte er die Namen und Titel der neu Erschienenen des Tages, schlug in seinem antiquarisch erstandenen Gothaischen Almanach die Adligen nach und versah seine neuen persönlichen Bekanntschaften mit einem blauen Kreuzchen. Dann legte er sich zufrieden zu Bett und träumte, glücklich lächelnd, er sei der Leibkammerdiener des Beis von Tunis oder der Zeremonienmeister des Schahs von Persien. Nur einmal hatten seine Träume, die sich immer in derselben Richtung bewegten, das glückliche Lächeln von seinem ausrasierten Munde gescheucht und ihn in schwere Schweiße gejagt. Da hatte ihm, wie er Rosa Riemenschnut am anderen Morgen mit umwölkter Stirne gestand, sehr lebhaft geträumt, er sei, ohne jede Bewerbung seinerseits um diesen merkwürdigen Posten, plötzlich zum Obereunuchen des Großsultans ernannt worden. Gerade als diese peinliche Ernennung in feierlicher Weise perfekt werden sollte, hatte der barmherzige Wecker geschnarrt.


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