Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Fünfundvierzigstes Kapitel

Wir haben ihn nicht nach Deutschland überführt. Wir haben ihn oben im Kanton Tessin begraben.

In den Aufzeichnungen, die er Peter Pütz diktiert, fand sich der Satz: »Ich bin als Lebender so gern gereist – als Toter mag ich nicht spazierenfahren.«

So führte ihn sein letzter Wunsch nur die Windungen der Steintreppe hinauf zum stillen Zypressengarten der Madonna del Sasso. Und wenn er sich aufrichten möchte aus seinem Hügel, er könnte zu seinen Füßen sein Häuschen liegen sehen. Unten am See in den Rosen.

Sonnig und friedlich war alles um ihn, solange er noch ausgestreckt lag unter der bunten Mailänder Seidendecke, Sepps Blumen aus dem Gärtchen in den gefalteten Händen.

Peter Pütz, im schwarzen Frack mit Silberknöpfen, hat ihn noch rasiert und ihm zum letzten Male den Scheitel gezogen durch das wellige, starke Haar. Und als der Getreue das blasse, kalte Gesicht seines toten Herrn behutsam mit dem essiggetränkten Tuche rieb, war's zum ersten Male vorbei mit all der schönen Korrektheit; und Peter Pütz schluchzte und schluckte die ausbrechenden Tränen, wie es nirgends im Buche des Prinzen Reuß vermerkt und vorgeschrieben war.

Als der Sarg schon im Hause war, fuhr ein Wagen vor.

»Una Signora – una vecchia – amica del morto... Gaëtano meldete das.

Und schon kam, gestützt auf ein junges Mädchen, das die Rote-Kreuz-Brosche trug, gebeugt, asthmatisch, eine alte Frau die Treppe herauf. Ihr Stock schlug schwer auf die Stufen. Die immer noch roten Backen der alten Dame standen in merkwürdigem Gegensatz zu der schneeweißen Haarkrone über dem breiten Gesicht. Lebendig in dieser schwer bewegten Masse waren nur die dunklen, jung gebliebenen Augen.

»Es soll niemand –« Ev' wollte die Tür schließen. Der Tote gehörte ihr.

»Laß sie herein, Ev',« bat ich, »sie hat vielleicht doch ein Recht. Es ist Frau Margarete Morgenthau.«

Margarete Morgenthau nickte mir nur zu. Ein Blick, mehr mitleidig als neugierig, streifte Ev', die gesenkten Kopfes den Weg zum Bett freigab. Die Begleiterin hielt sich scheu an der Tür, faltete die Hände und sprach mit bebenden Lippen leise ein Gebet.

Schwer auf den Stock gestützt, stand Margarete Morgenthau bei dem Toten. »Ich hab' ihn zuerst gesehen –,« nickte sie; und es war, als ob sie ein Recht verkünde, hier zu stehen, und eine Überzeugung, daß es so sein müsse. »Ich – zuerst. Auf einem Teppich hat er gelegen – und das Muster des Teppichs waren lauter Blumen.«

Sepp ist leise hereingekommen. Er begreift den Tod nicht, aber er fühlt seine Schauer, sieht, daß Mutter und Diener traurig sind, und daß alle Leute auf der Straße leiser reden und zu den Fenstern hinaufschauen, wenn sie am Hause vorbeigehen. Er schmiegt sich dicht an die Mutter und sieht scheu hinüber zu der weißhaarigen fremden Frau, die sich, auf ihren Stock gestützt, niederbeugt zu dem schweigenden, wachsblassen Mann, zu dem er ein einziges Mal »Papa« gesagt hat. Einmal und nie mehr.

Margarete Morgenthau ist gegangen. Sie hat uns nur die Hand gedrückt und dem Buben lang in die Augen gesehen. Dann hat sie genickt und gesagt: »So sah er aus, als er das Myrtenreislein aus der Schwester Brautkranz trug.« Und dann zu Ev': »Ihnen ist ein köstliches Vermächtnis geworden – hüten Sie's!« Geweint hat sie nicht. Sie ist vielleicht zu alt dazu und hat keine Tränen mehr.

Das Räderrollen verhallt auf der Straße nach Lugano.

. . . Am Tag der Beerdigung kommt Tobias Moscheles mit dem Frühschiff. Er ist die Nacht durch den Gotthard gefahren. Übernächtig und mit wirrem Bart, Staub auf dem Smoking und dem umflorten Zylinder, schleppt er einen Riesenkranz mit Schleife. »Telegraphisch bestellt,« sagt er stolz. »Wie hab' ich's gemacht? Ich hab' im Café Bauer in Berlin das Adreßbuch von Lugano nachgeschaut. Praktisch. Einfach an die Firma depeschiert: »Kranz für fünfzig Mark – mit Inschrift.« Aber die Leute hier können scheint's kein Deutsch. Bitte, sehen Sie – »dem vererten und geliebten Scheff« – verert ohne h! und Scheff mit einem Sch. Man meint, der Honneff hat Korrektur gelesen! Hat man nicht immer seinen Ärger, auch wenn man seelisch erschüttert ist!«

Obschon Tobias Moscheles seelisch erschüttert war, fand er doch noch Zeit, eine Flasche Barletta zu trinken und Keks dazu zu essen, das Anwesen zu taxieren, nach dem Testament zu fragen und ausführlich zu erzählen, wie er sofort bei Empfang der Nachricht die Ansicht vertreten, daß »Der letzte Schick« und die »Schönheitsschule« und die Wüllichsche Fabrik mindestens einen gemeinsamen offiziellen Vertreter auf Geschäftskosten zur Beerdigung senden müßten. Die Wahl sei, seinem Vorschlag entsprechend, auf ihn gefallen. Es sei ihm eine Herzenssache, dem edlen Mann und Chef und, das dürfe er sagen, dem teuren Freunde persönlich die letzte Ehre zu erweisen. Er wollte dann gleich noch ein paar Tage zur Erholung im Tessin bleiben und einen veralteten Bronchialkatarrh pflegen. Man müsse die Feste, auch die traurigen, feiern, wie sie fallen.

Und er fragte Peter Pütz, ob er vielleicht eine gute Pension in Melide wisse und wieviel man da wohl anlegen müsse für ein hübsches Zimmer und drei reichliche Mahlzeiten mit Licht und Bedienung.

Ich sah zu Ben hin, der schon im Sarg lag. Er lächelte nicht. Die seelischen Erschütterungen der leidtragenden Tobiasse dieser Erde erreichten sein einst so fröhliches Herz nicht mehr.

. . . Der evangelische Pfarrer von Lugano, ein älterer Schweizer von herzlicher Schlichtheit, sprach oben am offenen Grab ein Gebet. »Der Mann hat mich nicht gekannt und weiß nichts von mir,« hieß es in Peter Pütz' Aufzeichnungen nach Bens Diktat, »so soll er nicht über mich reden. Aber gesegnet wär' ich gern von ihm.«

Vom See her trug die klare Luft ein frohes Lied heraus, als ich die drei Schaufeln Erde warf. Junge Mädchen sangen, nicht ahnend unseren Schmerz in der Höhe, da unten in einem gleitenden Kahn. Und mir war's, als ob Bens lieber Leichtsinn, der alle Erdensorgen durchdrang und besiegte, einen Gruß schickte zu seinem letzten Fest.

Und der Pfarrer neigte sich und segnete den Hügel, auf den Peter Pütz und Gaëtano rasch die Kränze und Blumen gehäuft, daß es aussah, als quelle ein reicher Strauß südlicher Schönheit siegreich aus grauen Schollen.

»Und so schlafe denn in Frieden, Hermann Otto Wilhelm Mewes, geliebt, beweint und unvergessen! Ruhe über unserem See, als treu beherbergter Gast, in der fremden Erde, Bruder aller, die um dich gelagert schlummern und die du nicht gekannt; Kind Gottes, der deine früh befreite, gütige Seele empfangen möge im reinen Licht seiner ewigen Gnade! Amen.«

Zum letzten Male war der Name Hermann Otto Wilhelm von einem Munde gekommen. Fremd und seltsam klang er an mein Ohr. Gewiß, so war der Bruder getauft, aber so hieß er nicht für uns, die um ihn gewesen. Es war mir, als ob ich den Toten noch einmal rufen müsse bei dem anderen, bei seinem echten Namen, unter dem wir ihn gekannt und geliebt. Und so trat ich rasch an den Hügel, grüßte den Schlafenden zu letztem Abschied und sprach laut, als ob er's doch noch hören könnte:

»Hab Dank und leb wohl, mein Bruder Benjamin!«

Dann gab ich der Frau, die er geliebt hatte, den Arm und nahm den blonden Jungen an der Hand, der seinen Vater gefunden und verloren hatte an einem Tag.

Und langsam stiegen wir drei von dem stillen Zypressengarten der Madonna del Sasso durch die Rebenterrassen und Magnoliengärten hinab in das hell besonnte Städtchen. Hinab ins Leben.

Die Worte Bens, die er mit fiebernden Lippen gesprochen, klangen mir wie reines Geläut durch die Seele: »Alles Schöne war erst gestern – und alles Schlimme liegt so weit.«

Das Lied der jungen Mädchen jubelte noch immer vom See her. Aber wir sahen den Nachen nicht mehr, in dem sie saßen.

Der fuhr jetzt wohl dicht am Ufer hin.

 


 


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