Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Achtes Kapitel

Er selber jedenfalls nahm sich den gütigen Spruch, mit dem der Pfarrer Knospe gern die Jugend salbte, eh' er sie entließ, mindestens in seiner zweiten Hälfte zu Herzen.

Ben lebte in Fröhlichkeit. Die Zucht war nicht immer im selben Maße bestimmend für seine Tage. Als Spätling und Nesthäkchen war er ein wenig von den Eltern verwöhnt. Die Schwester war verheiratet, der Bruder auf der Universität. So war er im Hause auf die Gespräche mit den Eltern angewiesen, die den aufgeweckten, munteren Burschen manchmal schon für erwachsen gelten ließen. Auch hatte er ausgezeichnete Ohren, der gute Ben. Und besonders Mitteilungen, die eigentlich durchaus nicht für ihn bestimmt waren, gelangten eigentlich immer zu seiner Kenntnis. Er hatte dann eine harmlose Art, so zu tun, als sei er ins Vertrauen gezogen und um seinen persönlichen Rat befragt. Und manchmal traf er mit einer guten Bemerkung den Nagel mitten auf den Kopf. Dann gab ihm der Vater wohl einen kleinen freundlichen Backenstreich und ermahnte: »Sei nicht so vorlaut, Ben!« Aber seine Augen leuchteten zur Mutter hinüber: ein Kerlchen, was?

Seine drei intimsten Freunde aber waren Tommy Schupp, Fips Tomasius und Willibald von Gollwitz.

Tommy Schupp war bestimmt, später das Weingeschäft Schupp-Söhne zu übernehmen, das sein ungemein geschäftstüchtiger Vater zu hoher Blüte gebracht hatte. Gustav Sebastian Schupp aber hatte den Ehrgeiz, einen akademisch gebildeten Sohn als seinen Nachfolger in dem mit den Bildern vieler Fürsten und edler Lords, ja sogar einem eigenhändig unterschriebenen Porträt Seiner Heiligkeit des Papstes geschmückten Privatkontor in der Gallusstraße zu sehen. Er verlangte deshalb von Tommy, der lieber mit dem »Einjährigen« in der Tasche ausgetreten wäre und auf dem Bureau seines Vaters Zigaretten geraucht hätte, unerbittlich die Absolvierung des Gymnasiums und nach einem Studium, dessen Art und Richtung der Vater nicht vorschreiben wollte, und das er durch einen fürs Korps ausreichenden Wechsel verlockender zu gestalten willens war, die Doktorwürde. Tommy, der seinen Vater mit einer respektlosen Liebe betrachtete, nannte das den »Fimmel seines alten Herrn«. Er sah durchaus nicht ein, wie er später als Doktor irgendeiner Fakultät seinen Kellermeistern, Küfern, Bureauangestellten, Reisenden und Stiften mehr imponieren sollte, denn als bloßer Inhaber und Chef des Hauses »Schupp-Söhne«. Auch behauptete er, es sei seinem Erzeuger bei diesem wissenschaftlichen Ehrgeiz ganz gleichgültig, ob er, der Sohn, einmal als Roßarzt, Kaplan oder Rabbiner heimkehre, wenn er nur unter den Firmenstempel »Schupp-Söhne« vor seinen guten Namen den Doktortitel sehen könne.

Fips Tomasius hingegen wollte und sollte Jurist werden. Von einem Abtrünnigen abgesehen, der leider Mediziner und als solcher ein berühmter Kliniker geworden, waren alle männlichen Sprossen des Stammes Tomasius Richter oder Anwälte. Gerade weil er aber Jurist und nichts anderes werden wollte, fand sich Fips Tomasius mit Ben, der noch über seine Zukunft nicht so gern nachdachte, wie er die Gegenwart genoß, in der heiligen Überzeugung zusammen: daß in seinem künftigen Leben die Trigonometrie und die Logarithmen eine durchaus untergeordnete Rolle spielen müßten. Aus welcher Auffassung sich für beide Freunde häufige und heftige Konflikte mit dem an der Galle leidenden Mathematiklehrer ergaben, die leider nicht selten, da sich der Professor Köberle als der Stärkere erwies, für Fips und Ben mit Arreststunden, ja sogar mit ernstlicher Gefährdung der Versetzung endeten. Fips wurde in diesen Fällen kurz vor der Katastrophe durch seine beispielslose Frechheit gerettet, die es dem nie Verlegenen ermöglichte, bei den entscheidenden Klassenarbeiten, Unwohlsein heuchelnd, beim Besuch eines stillen Ortes, auf den das Mißtrauen des Professors Köberle sich zu folgen scheute, die gestellten Aufgaben von dem heimlich zugesteckten Zettel des Primus abzuschreiben. Unter listiger Hinzufügung einiger kleiner Schönheitsfehler der Ausrechnung, damit das Wunder der plötzlichen Erleuchtung dem ohnehin nie schlummernden Argwohn Köberles nicht allzu auffällig werde.

Ben aber verstärkte seine von der Mathematik gefährdete Position wieder durch sein erstaunliches Sprachtalent. Diese in der Familie sonst seltene Begabung gestattete ihm, ohne von der französischen oder englischen Grammatik eine nennenswerte Ahnung zu haben, die Konversation in beiden Sprachen mit spielender Sicherheit zu bewältigen. »Ben schläft zwar in der Grammatikstunde,« pflegte mein Vater halb ärgerlich, halb stolz zu sagen, »aber er nachtwandelt dafür durch die Konversation.« Mit den alten Sprachen ging's nicht ganz so flott. Die Prosaiker langweilten ihn beträchtlich; aber die Dichter machten ihm ehrliche Freude. In der Übersetzung des Homer und Horaz stand er nicht hinter dem Primus zurück, der freilich weit gewissenhafter präparierte, aber keineswegs die Findigkeit für die Nuance des passenden deutschen Ausdrucks hatte, wie der nachtwandelnde Ben. Kam hinzu, daß Ben in einem etwas eigenwilligen, sprunghaften Stil deutsche Aufsätze schrieb, die inhaltlich weit über dem Durchschnitt standen, und die seinen Ordinarius tapfer für ihn eintreten liehen, so oft in den Konferenzen der Mathematiker beklagte, daß diesem »nicht unbegabten, aber renitenten Schüler« leider – soweit er und sein Fach in Betracht käme – die Fähigkeit abgesprochen werden müsse, das Klassenziel je zu erreichen.

Willibald von Gollwitz war der dritte und letzte von Bens Intimen. Der Letzte war er leider auch in der Klasse häufig; was weniger in mangelnder Beanlagung, als in seiner großen Vorliebe für spannende Indianerbücher, später für Abenteuerromane seine tiefere Begründung hatte. In der Familie derer von Gollwitz hatten die Landsknechtnaturen und Forschungsreisenden von jeher die größte Rolle gespielt. Willibalds Ahnen hatten in spanischen, russischen, mexikanischen Diensten Bataillone und Armeen geführt; hatten für Potentaten geblutet, die sie nicht kannten, und für Sachen, die sie nichts angingen. Kaum ein Drittel der unternehmenden Herren war im Bett gestorben. Der Großvater Willibalds war dem Pfeilgift eines Patagoniers erlegen; ein Onkel war auf einer Jagd in Zentralafrika von einem Nilpferd totgetreten worden. Und wenn einmal ein Gollwitz, weiß der Himmel wieso, das heutzutage im allgemeinen nicht mehr lebensgefährliche theologische Studium gewählt hatte, so wurde er bestimmt als Missionar von den Hottentotten massakriert oder von den Chinesen in den Hoang-Ho geworfen. Der Vater Willibalds war relativ einfach gestorben, indem er bei Vionville als Rittmeister vom Pferd geschossen und nicht mehr gefunden wurde. Seine Witwe legte den Trauerschleier, der ihrer gut konservierten Blondheit gut stand, nicht ab, und dieser lang wehende Trauerschleier genoß einer gewissen Berühmtheit unter den Platanen auf dem Hofe des Gymnasiums. Wenn er eines Tages in der letzten Pause um zwölf Uhr dunkel über den Hof flatterte, so wußten die Schüler der Oberklassen aus Erfahrung, daß die Versetzung drohte und Willibald von Gollwitz in Gefahr war, dem Ausrücken seiner Klassenkameraden nicht beiwohnen zu dürfen. Ben nannte das: die Familie von Gollwitz flaggt Halbmast. Aber er war immer selbst etwas in Sorge um das Schicksal seines Freundes, dessen Leistungen als Schüler zu seinen erstaunlichen Kenntnissen in der Lebensgeschichte der Cortez, Pizarro, Colleone, aber auch Robinson, Peter Simpel, Ivanhoe und Quentin Durward in keinem Verhältnis standen. Kam hinzu, daß die demokratischen Überzeugungen einiger Lehrer so weit gingen, daß sie an dem Adelsprädikat des Schülers Anstoß nahmen. Auch der Vorname »Willibald« mißfiel dem Professor Kunkel zum Beispiel sehr. Er faßte sein Urteil über Namen und Person des Schülers in dem kurzen Satz zusammen: »Willi hätte genügt – aber du genügst nicht

Dieser kleine Kreis der Unzertrennlichen Ben, Tommy, Fips und Willibald drohte gesprengt zu werden, als das Ewigweibliche in den Gesichtskreis trat. Oder vielmehr, als die Augen der Jünglinge sehen lernten, was schon da war und sich knospenhaft entwickelte. Käthe Tomasius, der ich zum achtzehnten Geburtstag gratuliert hatte, schrieb mir in meine Examensnöte nach Kassel, wo ich dabei war, den Referendar zu bauen: ». . . Ihr Bruder Ben hat jetzt Tanzstunde mit meiner Schwester Elsbeth. Auch unser Fips, Tommy Schupp und Willibald von Göllwitz beteiligen sich als Kavaliere. Es ist sehr amüsant, wie galant sich die Freunde um mein Schwesterchen bemühen. Fips, der Bruder, aber grollt: »Zu dumm! Was ist denn an dem Aff?!« Er erzählt, daß »die Pute« vor zwei Jahren noch mit Puppen gespielt hat (wenn Fips nicht zu Hause ist, tut sie's heute noch), und daß sie sich im Dunkeln fürchtet. Aber keine dieser schlechten Eigenschaften schreckt die jungen Ritter ab. Sie haben jetzt sogar noch ein »Lesekränzchen« gegründet und lesen »Nathan den Weisen« mit verteilten Rollen. Elsbeth natürlich die Recha. Die Bewerbung um die Rolle des Tempelherrn hat leider zu Tätlichkeiten zwischen Tommy und Willibald geführt. Jetzt liest ihn Ben. Übrigens wirklich sehr nett im Ton und sehr tempelritterlich. Nur das schroff Abweisende gegen die gute Daja und gar gegen Recha will ihm nicht recht gelingen. Das liegt seiner Natur wohl nicht. Die vielen Schülerinnen Ihres Herrn Vaters, zu denen ich ja auch dankbar gehöre, haben ihn eben von kleinauf gewöhnt, den Frauen »zart entgegenzukommen«. Bei uns riß sich doch die ganze Pension vor Jahren darum, den kleinen Kerl auf den Schoß zu nehmen und ein bißchen abzuknutschen, wenn er Ihren Vater abholen kam . . .«

Das hat sich dann wohl an seinem Leben ein wenig gerächt.

Er hatte, als Kind, zu viel auf dem Schoß hübscher, junger Frauen gesessen, der gute Ben. Hatte zu selbstverständlich die Liebkosungen kleiner Hände hingenommen, den flüchtigen Kuß weicher Lippen in seinen Locken, wie etwas Alltägliches, gespürt. Ein süßes Gift war wohl in den vielen Leckerbissen enthalten, die von zierlichen Fingern seiner Jugend in den Mund gesteckt wurden. Und in die Zärtlichkeit für das hübsche, blauäugige Kind mischte sich, nie ausgesprochen, die Liebe stürmisch erwachender Herzen für einen stattlichen Mann, der, als Lehrer, mit schöner dunkler Stimme alles kündete, was junger Frauen Seelen ahnen, fürchten, hoffen läßt: von Kriemhildens Rache bis zu Gretchens Liebe, von Tristans Meerfahrt bis zu Werthers jähem Ende.

*

Ist's nicht manchmal, als ob Familien die großen Wendepunkte ihrer Geschicke ahnten? Als ob, unausgesprochen, durch aller Herzen der Gedanke zöge: reicht euch noch einmal die Hände – der Tag hat nie mehr seinesgleichen. Ich hab's in der unseren, ich hab's in anderen Familien erlebt, daß ein Fest plötzlich sich reicher, inniger ausgestaltete und schmückte, als wüßten's alle, die daran teilnahmen, es wird das letzte sein dieser Art; so werden wir's niemals mehr begehen.

So aber schmückten sich jene weißen Weihnachtstage, von denen ich erzählen will; so leuchten sie in meine Erinnerung herüber. Wir waren noch einmal alle zusammen, die wir zusammengehörten. Auch Kurt hatte sich zum erstenmal seit der Verlobungszeit zum Fest freimachen können. Fürst und Erbprinz verbrachten das Christfest in Rom und gedachten eine Reise nach Sizilien anzuschließen. So hatte Kurt, der Oberschloßhauptmann, die »Buden alle zugemacht«, wie er das nannte, hatte auf kurzer Rundreise durch das Ländchen, die selbst im Bummelzügle nicht allzu lang währte, die verschiedenen Schlösser, Jagdschlösser, Stadthäuser unter tüchtige Kastellane gestellt, die nötigsten Reparaturen angeordnet und dann mit Weib und Kind einen dreiwöchigen Urlaub nach Frankfurt angetreten.

Mit Weib – und Kind! Der Stammhalter, jetzt vier Jahre alt, war mitgekommen. Ein strahlendes, quecksilbrig vergnügtes Bübchen, das David hieß. Dieser Vorname begegnete in der Familie Kopfschütteln. Tante Tüßchen befürchtete sogar, ein etwa nachfolgendes Brüderchen werde nun Eleasar oder Isidor getauft. Aber da war nichts zu ändern. Die Großmutter Hildegard von Möckwitz, geborene Freiin von Erlenriede, hatte als Patin so gewünscht und bestimmt, weil in der Familie der Freiherren von Erlenriede der älteste Junge stets David geheißen hatte; und, wie sie sich kühl und gewählt ausdrückte, auf aller Davids Tun hatte sichtlich des Himmels Segen geruht.

Ben aber, stolz und vergnügt in der Würde des jungen Onkels, fand es sehr lustig, daß nun, wie er das formulierte, die uralte Familie Jakobs, die er bisher allein repräsentierte, in diesem kleinen David einen zweiten Vertreter hatte.

Zu Ehren des Jungen und zur fröhlichen Erinnerung für die zwei anderen Generationen wurde alles im Besucherzimmer noch einmal aufgebaut, wie zu jener Zeit, da Mathilde noch lange Hängezöpfe und ich kurze Hosen trug. Die Abende vor dem Fest fanden uns bei geheimnisvoller Arbeit unter der schon geschmückten Tanne, deren waldfrischer Atem die Wohnung würzig durchzog. Die Puppenküche Mathildens mit all dem blanken kleinen Kupfergeschirr wurde säuberlich eingerichtet. Ich selber, meiner neuen Würde als Referendar nicht achtend und froh, den elenden Examenskram vergessen zu können, stellte daneben voll Eifer meinen Kramladen im alten Glanz der Firma wieder her und füllte das dreistöckige »Lagerhaus« mit listig versiegelten Miniaturkisten, von denen jede ein kleines Scherzgeschenk für ein Familienglied enthielt. Bens vielbeschossene Festung bekam neue saubere Fähnchen auf die Türme; und die in den Ketten gelockerte Zugbrücke wurde vom Vater eigenhändig repariert; eine Arbeit, die ihn, der zu solchen Dingen nicht sehr begabt war, da er sie dicht am überheizten Kachelofen verrichtete, redlich schwitzen ließ.

Die Tanten Emma und Leonie aber saßen, Brillen auf den Nasen, Tannennadeln auf den schon etwas angeschneiten Scheiteln und Flocken vom Baumschnee an den Kleidern, vor dem »Putzgeschäft«, das noch Mathildens Mädchennamen am blanken Firmenschilde trug, und stellten in Kästen und Erker zu den verblichenen Puppenhutmodellen von Anno dazumal entzückende kleine Handarbeiten auf Seide und Stramin, die sie eigens für diesen Zweck an vielen stillen Abenden in bunten Mustern gestichelt. Dabei sah Tante Emma oft sorgenvoll über die Brille zu der Schwester hin, deren Züge seltsam starr geworden waren, deren Augen einen unstet flackernden Glanz zeigten.

Es war ein offenes Geheimnis in der Familie, das jeder kannte, keiner im Gespräch berührte: Tante Leonie war gemütskrank. Damals, nach jener peinlichen Szene im Ställchen, da sie, bereit, dem Dichter Honneff das erbetene Jawort fürs Leben zu geben, den Freier in weinschwerem Schlaf, auf einen Kranzkuchen das liederreiche Haupt gebettet, wiederfand, hatte sie noch mit wachem Entschluß jenen Zusatz zu ihrem letzten Willen geschrieben. In der Nacht aber war der erste Anfall erfolgt, der die Schwestern wochenlang in schwerer Sorge um die zerrüttete Seele ließ. Laute Ekstasen wechselten mit brütendem Schweigen tiefer Depressionen. Hellere Tage kamen, an denen die Kranke ganz vernünftig, fast wie immer, sich gab, an allem Anteil nahm, ja sogar Klavier zu spielen verlangte. Aber gerade das und die Lektüre bis tief in die Nacht hatte ihr der Doktor Schilling streng verboten. Dann deklamierte sie wieder stundenlang, die Augen im blassen reglosen Gesicht geschlossen, tiefliegend, wie eingedrückt. Sprach Verse aus fabelhaftem Gedächtnis. Ganze Gesänge der Danteschen »Hölle«, des Byronschen »Don Juan«, des Lenauschen »Faust«. Und dann kamen wieder seltsam verwirrte Tage, an denen sie sich für die verlassene Braut des Lord Byron oder des Nikolaus Lenau hielt. Sie wartete mit Blick und Rede auf die reuige Wiederkehr des Entfernten, den die Völker feierten in den ihr gewidmeten Liedern; und keine sanfte Belehrung konnte sie davon überzeugen, daß beide Dichter längst tot und begraben seien. Dabei blieb sie auch an diesen verwirrten Tagen durchaus friedlich, schmückte sich nur das mählich ergrauende Haar mit Blumen und Brust und Hände mit allem Schmuck, den sie besaß. Sie sah verschämt lächelnd in den Spiegel, den sie sonst kaum beachtet hatte; und in ihre Bewegungen kam etwas Tänzelndes, Spielerisches. Sie las wohl auch von weißen Blättern ganze Briefe vor, voll Zärtlichkeit und schöner Gedanken; nie geschriebene Briefe, die sie von ihrem fernen Bräutigam empfangen haben wollte und in denen für alle Familienmitglieder liebe Grüße und kleine Freundlichkeiten enthalten waren. Ein paar Stunden später, meist nach einem tiefen, traumlosen Schlaf, wußte sie nichts mehr von diesen Briefen, Hoffnungen und Erwartungen, widmete sich, scheu und schweigsam, kleinen häuslichen Pflichten, die man ihr, um sie zu beschäftigen, anvertraute, stickte im gespannten Rahmen mit ruhigsten Fingern die feinsten Blumen und Girlanden und sah aus müden, traurigen Augen, wie aus weiter, weiter Ferne, jeden an, der gütig zu ihr sprach.

So saß sie auch, allen, die sie sahen und liebten, Angst und Wehmut weckend, an jenen Abenden vor der Weihnacht, ein müdes Lächeln um die schmalen Lippen, an Mathildens altem Puppenladen; und es war, als ob ihr zerrütteter Geist die wieder zum Kind gewordene mit all diesen Dingen selber spielen lasse. Der Dichter Otto Honneff wurde nie mehr genannt, nicht von ihr und in ihrer Gegenwart nicht von den anderen. Der Vater sah ihn noch oft, lesend im Bürgerverein, schlafend im Schauspielhaus, Schach spielend im Café Milani und nahm jedesmal die Überzeugung mit nach Hause, daß er die Anteilnahme des Poeten am Schicksal der einst Geliebten, ökonomisch in lyrischen Dosen über einen goldgeschnittenen Liederband verteilt, einmal auf dem Büchermarkt wiederfinden werde.

Die Kerzen jener Weihnacht sind in meinem Herzen noch nicht erloschen. Heller als all die anderen Bäume, die ich erlebt, die ich mit entzündet und mit gelöscht habe, brennen seine Lichter durch die toten Jahre zu mir herüber. Die Stimmen seiner kleinen Silberglocken klingen noch in mein andächtig lauschendes Ohr, und unter dem Moos der Krippe, um die zwischen Wollschafen und Ziegen die drei Könige knieten vor dem wächsernen kleinen Kindlein in der Krippe, tönt leise wieder die Schweizer Spieluhr ihr »Stille Nacht, heilige Nacht . . .« Und selbst den Fehler im dritten Takt, den das Genfer Spielwerk jedesmal quieksend verübt, seit Ben es einmal beim Abräumen des Tisches an Silvester fallen ließ, lieb' ich im treuen Gedächtnis. Denn auch der Quiekser im Weihnachtslied gehört zur Christnacht in meinem längst geschlossenen Elternhause.

Nie hab' ich meinen Vater froher, gütiger gesehen, als an jenem heiligen Abend. Und es ist so hübsch, hat so etwas Rührendes, wenn Riesen froh und gütig sind. Er hatte der Mutter, die sonst die Kasse mit ängstlicher Umsicht führte und gut Bescheid wußte in unseren leicht überschaubaren Finanzen, von einem Extraverdienst aus heimlichen Privatstunden, die er gegeben, ein Harmonium gekauft. Ben mußte am Tag von Heiligabend zwei Stunden mit ihr spazieren gehen, damit sie das umfangreiche Geschenk ja nicht abladen sah zur bestellten Zeit! Ganz weit von unserem Hause entfernt, drüben am Main, auf der Sachsenhausener Seite am Städelschen Institut, mußten die beiden – er verlangte feierlich ihr Ehrenwort – auf und ab spazieren, was bei dem Schneewind, der über den Fluß heulte, keine reine Freude war. Aber er fürchtete, daß sonst der Wagen mit dem Harmonium ihnen begegnen und der Kutscher gerade sie fragen könne, wo hier »Nummer 15« sei, oder wo der Doktor Hubert Mewes wohne, für den er ein Harmonium abzuliefern habe. Dann war die Überraschung gestört, und das durfte nicht sein. Und wie er's dann mit Bärbchens und meiner Hilfe mit Tischtüchern zudeckte, das Harmonium, daß es sich ja nicht durch seine Form verrate, wenn die Mutter die letzte ordnende Hand an die Bescherung legte und den Baum ansteckte; wie er sich kindlich freute auf ihr erstauntes, froh aufleuchtendes Gesicht – ich werde das nie vergessen. Und oft, oft deck' ich mit ihm in Erinnerung noch einmal mit weißen Tüchern das Harmonium zu, das ich nur dreimal habe spielen hören . . .

Und in die Wehmut jener Erinnerungen mischt sich ein Lächeln.

Das wundervolle Geläut der Frankfurter Glocken, in dem die brausende Gewalt der Domglocke die helleren Schwestern dunkel übertönte, konnte man in unserer Wohnung, wenn der Ostwind über die Stadt strich, besonders gut hören. Und Ostwind setzte an jenem kalten, klaren Winterabend ein. Kein Fensterchen im Hause aber gewährte durch seine Lage den vollen Genuß dieses weihevollen Konzertes so rein und deutlich, als das Fensterchen der wenig anmutigen Besenkammer, die sonst niemals zu Feierlichkeiten irgendwelcher Art mit herangezogen wurde. Zu diesem engen und schmucklosen Raum führte ein kleiner Gang, der gerade die Familie faßte, wenn keiner auf den Gedanken kam, sich zu bewegen. Der Vater aber hielt darauf, daß wir, ehe das helle Silberglöckchen zur Bescherung rief, dem frommen Konzert der großen Schwesterglocken aus Frankfurts Türmen die Herzen öffneten.

Und so standen wir, alle, heiliger Gefühle voll, gedrängt im Gang zu der Besenkammer, und lauschten, die Blicke versenkt in die Silhouetten von Putzeimern und Bürsten, schweigend und andächtig, wie über Straßen und Dächer der im Mondschein liegenden alten Reichsstadt Frankfurt der geisterhafte Gesang der Glocken, die Weihnacht kündend, zu uns herüberschwang.

Dann brannte der Baum.

Der kleine David war allen Glanzes, aller Freude Mittelpunkt. An »Onkel« Bens Hand tobte er jauchzend von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, zog die Holzpferde des Stalls an den Schwänzen, griff räubernd in die Rosinen der Puppenspeisekammer, überflog die Buntheit der Münchener Bilderbogen, warf im Kaufladen die Mehlkiste um, stülpte das Schmetterlingsnetz auf den geflaggten Festungsturm, langte sich einen Schokoladengockelhahn so heftig vom Baum, daß das Wachs der Lichte auf Mathildens Blusen und Handschuhe tropfte, und vertiefte sich dann in einen Zauberkasten. Die rätselvollen Geheimnisse dieses Kastens ließen ihn die ganze Umgebung vergessen. Ebenso das Weihnachtsgedicht, das ihm die stolze Mutter beigebracht und von dessen himmlischem Inhalt er so tief und heftig in den ihm geläufigeren »Struwwelpeter« entgleiste, daß eine Umkehr ins Reich des Christkinds nicht mehr möglich schien. Weshalb denn die entzückten Großeltern diese Programmnummer zur Zufriedenheit erledigt erklärten.

Dann setzte sich Tante Emma an das Harmonium, und meine Mutter, in Vaters Arm gehängt, sang mit ihrer immer noch schönen Stimme das alte liebe Weihnachtslied: »Es ist ein' Ros' entsprungen . . .« Dabei liefen ihr ganz leise zwei Tränen über die freudeerhitzten Wangen.

Später – als sie dachte, niemand sieht's, ich hab's aber doch gesehen – brach sie einen Zweig von dem geschmückten Baum, ein Ästchen, an dem goldene Fäden glitzerten. Das legte sie im Nebenzimmer still auf das »Altärchen« vor des toten Ernstchen Bild. Dann kam sie zurück und küßte uns alle auf die Stirn, Mathilde, mich und Ben.

»Kinder, ich dank' euch.«

»Aber, Mutter, wofür denn?«

»Dafür – daß ihr da seid; daß ihr gesund seid.«

So sind die Mütter. Sie mühen sich in Angst und Nöten ein hartes Leben lang um uns; und wir haben nichts zu tun als da zu sein, zu lächeln, gesund zu sein – und sie danken uns noch, daß wir ihnen so viel Müh' und Sorge gemacht haben.

Bei der Weihnachtsgans, die nie fehlen durfte, war's lustig. Kurt erzählte kleine Hofgeschichten mit parodistischem Humor, und neckte Mathilde mit ihrer nicht allzu großen Sicherheit auf dem höfischen Parkett. Mathilde wieder neckte Ben mit seiner Vorliebe für Leseabende und lange blonde Zöpfe. Sie stellte sich unwissend, von wem das gestickte Lesezeichen sein könnte, das, geheimnisvoll an der Tür abgegeben, nun als Mittelstück zwischen Büchern, Krawatten, Schlittschuhen auf Bens Tischlein prangte. Einander mit den Augen anzwinkernd, riet die Familie auf die gute Frau Morgenthau als Spenderin oder gar auf Frau Meincke, die bald achtzigjährige, schwerhörige Nähfrau. Ben aber parierte die Neckerei nicht schlecht, indem er mit gutgespieltem Ernst behauptete, seine Vermutung gehe dahin: daß ihm der Direktor Tycheles, der ihn nicht ausstehen konnte, weil er auf den Treppen drei Stufen nahm und auf Schulkorridoren leise sang, dies als Zeichen der Versöhnung geschickt habe, daß er's in den Tacitus lege.

Dann wurde der kleine David, der das Rätsel einiger Kunststücke des Zauberkastens bereits in etwas gewaltsamer Weise gelöst hatte, zu Bett gebracht.

»Onkel« Ben leitete die Zeremonie. Wobei es mir, der ich in das halbdunkle Schlafzimmer hinzukam, fast so schien, als ob der gute Ben bei aller Sympathie für den Neffen, auch für die dörfliche Anmut des drallen Kindermädchens, das sehr rote Backen hatte und sehr kurze Ärmel trug, nicht mehr blind sei.

Die beiden überwachten, als ich eintrat, zu beiden Seiten des Kinderbettchens eine vor dem Schlafengehen nicht unwichtige Angelegenheit, die der kleine David, auf einem Töpfchen im Bett sitzend, noch besorgen sollte. Es war ihnen aber im anmutigen Privatgespräch entgangen, daß der David es vorgezogen hatte, einen Hanswurst im Arm, bereits im Sitzen einzuschlafen.

Erst mein Eintritt weckte den Jungen wieder und führte die Angelegenheit durch den kleinen Schreck zu gutem Ende.

Ben stellte mir nun, über das Bettchen hinweg, mit einigen feierlichen Worten die ländliche Schöne vor, die ich längst kannte. Er erwähnte rühmend, daß ihr Vater eine Kuh, zwei Schweine und fünfzehn Hühner besitze, wobei er bei den Schweinen drei Ferkel und bei den Hühnern einen Hahn nicht mitgerechnet habe. Mithin habe es die einzige Tochter solchen Vaters eigentlich nicht nötig, hier fremde Kinder zu betreuen. Aber die Annemarie wollte ein bißchen die Welt sehen.

Dieses Annemarie genannte Wesen ihrerseits, das die weite Welt sehen wollte und mit der Bewachung von David auf seinem Töpfchen bescheiden begann, lachte den hübschen Jungen mit breiter Fröhlichkeit an. Sie schien durchaus erfreut, daß ihr Schützling einen Onkel in so munteren Jahren besaß, der sie und ihre Familie zu schätzen wußte.

Als ich mich in die Unterhaltung mischte, widmete sich Ben wieder ausschließlich dem Neffen.

»Jetzt sind wohl alle deine Wünsche erfüllt, Davidchen?«

David, dem Annemarie gerade das Nachthemdchen hinten zuknöpfte, gähnte. Dann schüttelte er leicht den Kopf.

»Nicht? Noch einen Wunsch hast du?« Ben verwunderte das sehr, obschon er selber stets reich an Wünschen war.

David schien sich, müde wie er war, auf die Pantomime beschränken zu wollen. Er nickte bloß.

»Ja, da werd' ich mal mit dem Christkindchen reden,« meinte Ben großartig und onkelhaft, als ob solches Zwiegespräch die einfachste Sache von der Welt wäre.

Das Davidchen sah ihn ungläubig an: »Das tann mir das Tristkind dar nicht deben,« äußerte es ketzerhaft.

»Nanu!« Ben nahm die Partei des Christkinds. »Das Christkind kann dir das nicht geben? Das wär' ja noch schöner!«

»Nein.« Das Davidchen blieb bei seinem betrüblichen Unglauben.

»Was ist es denn, das du dir wünschst, Davidchen?«

»Ei, ich wünsch' mir ein Schwesterchen.«

Jetzt wollte sich die Annemarie schier umbringen vor Lachen. Ich mußte die kleine Badewanne wegstellen, sonst hätte sie die bestimmt umgeworfen in ihrer geräuschvollen Vergnügtheit.

»So – ein Schwesterchen?« Ben wußte, wie es schien, auch nicht recht, ob da das Christkind zuständig war.

»Ei, ich hab's im Sommer schon unserm Storch desagt.«

»Dem Storch?«

»Ja, der is über unser Haus deflogen.«

Das Davidchen legte beruhigt das blonde Köpfchen aufs Kissen. Es schien die Angelegenheit in guten Händen zu wissen.

»Eurem Storch? Tja –« Ben lächelte verschmitzt, »wer weiß, Davidchen, ob das Euer Storch war, der da gerade über euer Haus geflogen ist? Das kann ein ganz anderer Storch gewesen sein.«

Das Davidchen öffnete noch einmal groß die blauen Augen. Ich war neugierig, was es aus diesen scharfsinnigen Skeptizismus wohl erwidern könnte.

Langsam fielen dem Davidchen die schweren Augen wieder zu, und aus müdem Mäulchen kam noch das abschließende Wort:

»Och, Onkel Ben, das spricht sich so bei den Störchen 'rum.«

Und seelenruhig entschlief der blonde Kleinstädter, der seine deutschen Störche kannte.


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