Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zwölftes Kapitel

Es gibt sonderbare Zufälle. Ben hatte Mittwochs und Sonnabends seinen Reitkursus. Jung, schlank, geschmeidig wie er war, erlernte er die Kunst, ein Pferd mit Hand und Schenkeln zu regieren, rasch. Und wenn es auch nicht eben die feurigen Berberhengste waren, die manchmal in der Mutter angstvollen Träumen, aber nicht in den Ställen von Zwerg und Söhne vorkamen, so gab ihm der Stallmeister doch schon bald die schwierigeren Pferde. Zu denen in erster Linie ein Schimmel, eine gewisse »Undine«, gerechnet wurde, die hartmäulig und unzuverlässig war, und ein nervöser Fuchswallach, namens »Kobold«, der dieser Bezeichnung alle Ehre machte, indem er mit Vorliebe plötzlich in irgendwelche offene Türen einzubiegen strebte, gleichviel wohin diese Öffnungen führten und ob ihr Rahmen hoch genug war, auch den Reiter ohne Schrammen und Beulen mit durchzulassen.

Schon nach Bens zwölfter Unterrichtsstunde war ein »Musikreiten« des Mittwochskursus angesetzt in Gemeinschaft mit einem Dienstagkursus, der von Damen geritten wurde. Ben hatte zu diesem ersten Reitfest der Mutter neue Gamaschen abgeschmeichelt, von Tante Tüßchen prachtvolle Schnallsporen erwirkt und meine besten Ballhandschuhe dazu angezogen, so daß er, hübsch und frisch, wie er war, in sicherem Sitz auf dem »Kobold« eine ganz gute Figur machte, als er als erster in die geschmückte Bahn einritt, sieghaft lächelnd, als habe er eben das Derby zu Epsom gewonnen.

Und nun kam der Zufall – wenn man geneigt bleibt, nach genauer Kenntnisnahme der Tatsache das noch so zu nennen. Als erste Dame des Dienstagkursus ritt eine halbe Minute später zur entgegengesetzten Tür heraus aus dem Stall in die Bahn, schlank, federnd im Sitz, das runde Hütchen verwegen auf dem tiefschwarzen Haarknoten – Ruth Baddach.

Sie grüßte lächelnd, den blanken Silberknopf des Reitstöckchens an die Hutkrempe legend, den ob dieser Begegnung höchst verblüfften Ben. Der hatte von seinen Reitstunden bloß dem Fips Tomasius, sonst niemandem, etwas erzählt; und dem eigentlich auch nur, um seinen durch die Muskelschmerzen in den Oberschenkeln bedingten breiten Matrosengang auf dem gemeinsamen Schulweg zu erklären. Er hatte sich all die Wochen mit heimlicher Vorfreude ausgemalt, ein wie stolzes und ritterliches Bild die Überraschung ergeben müßte, wenn er eines Morgens, Sporen am Gurt, auf tänzelndem, schäumendem Roß erst am Fenster der Elsbeth Tomasius und dann in der Liebigstraße am Fenster der Ruth Baddach vorbeiritt und, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt, die jungen Damen aus dem Sattel grüßte.

Und nun hatte Ruth Baddach auf diese Überraschung durchaus nicht am Fenster in der Liebigstraße gewartet, sondern war selbst in einem sehr gut sitzenden und die Anmut ihrer knospenden Büste hebenden Reitkleid zu Pferd gestiegen und grüßte ihn dort drüben in anmutiger Sicherheit mit dem silberbeknopften Reitstock.

Durch diese unvorhergesehene Programmänderung geriet Ben in eine üble Verwirrung. Er vergaß die neuen Sporen, vergaß den vorschriftsmäßigen Knieschluß, vergaß vielleicht überhaupt, daß er im Sattel saß. Hierdurch verletzte er irgendwie »Kobolds« stallberühmte Empfindlichkeit. Die Gemütsbewegung des Reiters offenbar durchaus mißverstehend, stieg der nervöse Fuchs fast senkrecht in die Höhe und schlug dann sofort hinten aus. An den blitzartigen Wechsel dieser Übungen noch nicht gewöhnt, flog Ben, wie geschleudert, über den Hals des edlen Tieres und lag, als er die Situation wieder begriff, ohne Hut, mit meinen geplatzten Handschuhen in der Bahn.

»Machen Sie das öfter?« fragte Ruth mit ironischer Anteilnahme, nachdem sie sich, herantrabend, überzeugt, daß Ben sich weiter nicht beschädigt hatte.

Ben beteuerte ärgerlich, daß dies das allererste Mal gewesen sei. Dann machte er sich, innerlich fluchend, daran, »Kobold«, der fröhlich schnaubend einen kleinen Siegesgalopp die Wand entlang riskierte, wieder einzufangen.

Da gerade die Musik in der Seitenloge die Instrumente stimmte, was »Kobolds« neckischen Übermut zu stacheln schien, und in der Mittelloge einige Zuschauer, darunter Offiziere der Bockenheimer Husaren in ihren hellblauen Jacken, erschienen, so trieb die ärgerliche Unternehmung dieser Pferdejagd ohne Lasso dem guten Ben den Schweiß aus allen Poren.

Tante Tüßchen aber, die eben mit meiner Mutter und Frau Morgenthau in die Loge neben der Musik eintrat, war der Ansicht, dies sei die erste Programmnummer, daß jeder sein Pferd einfange. Erfreut über den schönen Eifer, mit dem Ben sich dieser offenbar nicht leichten Aufgabe entledigte und bald hinter dem »Kobold« hersprang, bald ihn, eine Bahnecke abschneidend, zu überlisten suchte, klatschte sie herzlichen Beifall.

»Was macht er denn?« fragte Frau Morgenthau erstaunt. »Ich denke, wir sollen sehen, wie er reitet –? Aber er läuft ja zu Fuß?«

»Er fängt sich erst sein Pferd,« erläuterte Tante Tüßchen. »Das ist so.«

»Aber er hat ja Sand auf dem Rücken?« meinte die Mutter besorgt. Und dachte dabei, ihr wäre es lieb, wenn auch alles weitere an diesem Nachmittag zu Fuß abgemacht werden könnte. Und dann sagte sie plötzlich – und ihre Augen blickten verträumt vor sich hin – mehr zu sich selbst, als zu den anderen: »Was wohl mein guter Hubert dazu sagen würde, wenn er seinen Jüngsten jetzt so sehen könnte, wie er, gespornt, Sand auf dem Rücken, hinter einem davongaloppierenden Pferde herläuft?«

Und im Nachdenken machte sie die alte Erfahrung, daß es schwer ist, sich vorzustellen, was Tote zu einer neuen Zeit und ihren neuen Sitten und Bräuchen sagen möchten, die sie nun einmal nicht erleben durften, nicht ahnen konnten.

Nebenan lächelten die Reiteroffiziere diskret. Dann klappten sie plötzlich, wie auf Kommando, die Hacken zusammen und grüßten, Hand an den Mützen, die vorübertrabende Ruth Baddach.

»Die sollten Sie sich fischen, Pichelsdorf!« flüsterte der Rittmeister einem kleinen, dicken Oberleutnant ins Ohr, der aussah, wie eine Burgunderreklame. »Dann könnten Sie jede Nacht im Écarté das nette Sümmchen verlieren, das sich gestern der Bruchsaler Dragoner von Ihnen mitgenommen hat.«

»Wenn ich die bekäme, blieb' ich sogar vielleicht mal 'ne Nacht zu Hause,« äußerte der Oberleutnant von Pichelsdorf und klemmte das Einglas ins linke Auge. Auf diese Kunst war er sehr stolz, weil die Kameraden das Einglas nur rechts einklemmen konnten.

»Pichelsdörfchen wird auf Vorrat solide,« lachte der Rittmeister. »Übrigens« – er nickte hinter Ben her – »der Junge sitzt gar nicht schlecht.«

Ben hatte endlich »Kobold« überlistet, und es war ihm gelungen, den Fuchs ohne Hilfe zu besteigen. Mit doppeltem Ehrgeiz und Eifer besorgt, die kleine Blamage vergessen zu machen, nahm er jetzt seine Knochen und alle Energie zusammen und ritt, wirklich sehr hübsch für einen Anfänger, äußerst gewissenhaft die Figuren der Quadrille. Als Kavalier Ruths, die einem vorzüglich zugerittenen Rappen ihres Vaters die Lösung des Figurenrätsels ruhig überlassen konnte. Der Rappe kannte die Bahn und die Musik, kannte die Kommandos und den »Kobold«, kannte sogar in der Loge den kleinen, dicken Oberleutnant Pichelsdorf, der das Einglas links zu befestigen vermochte. Denn der war sein früherer Besitzer und hatte ihn mit einem erfreulichen Profit von achthundert Emmchen dem Kommerzienrat Baddach angedreht, weil er – der Rappe – zwar in der Bahn ein sehenswertes Tier war, aber draußen leider jedes Hindernis refüsierte . . .

Als Ben an einem Sonntagvormittag im August das viertemal ausreiten durfte, allein, traf er – wiederum zufällig – am Brunnen des »Lachhannes« in der Taunusanlage Ruth Baddach, die, einen kleinen schicken Groom auf einem Halbpony hinter sich, dem Main zutrabte. So ritten sie beide nach dem Forsthaus und frühstückten da gemütlich und unbekümmert im Buchenschatten. Tranken Kaffee, aßen Kuchen, fütterten die Hühner und beachteten es weiter nicht, daß zwei Tische hinter ihnen der Senator Buck, mit einem Thermometer seine warme Milch umrührend, im Wechselgespräch mit der sichtlich um den Morgenschlaf verkürzten Gattin den Wandel der Zeit mißbilligte, der es jungen, sehr jungen Leuten gestattete, zu früher Morgenstunde, allein oder vielmehr zu zweien, im Walde sich zu ergehen.

»Aber sie sind doch zu Pferd,« meinte Frau Ida und gähnte.

»Jetzt nicht,« sagte der Rat streng. Und damit hatte er recht. Denn die beiden Pferde bewegte der Groom am Waldrand, was, wie Ben zuweilen mit verstohlenem Blick konstatierte, einen sehr wohlhabenden Eindruck machte.

In einiger Entfernung saß der Professor Kunkel zum Schutz vor der Feuchtigkeit auf seinem mitgebrachten Plaid und tauchte ein altbackenes Hörnchen in die Schokolade, die er statt des eigentlich bestellten Kaffees endlich bekommen hatte. Er ließ dabei, über seine Brille spähend, die beiden nicht aus dem Auge.

Da der einsame Genießer von niemand hier gesucht oder erkannt wurde, so blieb am anderen Tage in der lateinischen Stunde sein Ausspruch Ben gegenüber rätselhaft: »Ja, mein Bester, davon allein, daß Sie, mit Sporen an den Beinen, in Gesellschaft von Amazonen die Hühner mit Rosinen füttern, werden Sie die Perfekta auf »i« ohne Veränderung der Quantität des Stammvokals wohl nie begreifen!«


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