Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Und der liebe Hagedorn rauchte.

Rauchte an jenem Sonntag. Rauchte noch manchen Sommerabend Bens geschenkte Zigarren. Und immer ging das Problem in seinem Kopf hin und her: eigentlich ist's nicht recht. Eigentlich nicht. Er heiratet sie nicht. Aber sie weiß es und hat ihn doch lieb. Und, weiß Gott, wenn ich ein Mädel wäre, ich hätt' ihn auch lieb. Und wie nett er mit ihr ist, und wie er für sie sorgt. Verliebt ist er, aber nie ruppig, nie gemein. Und sogar die paar nackten Frauenzimmer, die der Herr von Gollwitz ins Wohnzimmer an die Wand spendiert hat, mußten weg, seit die Eveline kam, ein über den anderen Tag, für die Herren den Tee auf der Maschine machen, ehe sie singend in die Berge liefen.

Und dann kam eine Zeit, da erhielt Hugo Hagedorn die Erlaubnis, jeden Sonnabend mittags bis Montag früh seine Verwandten in Schlierbach zu besuchen.

Er hatte nun zwar keine Verwandten in Schlierbach; und der Herr Ben wußte das, wie es die Eveline – die er jetzt »Ev'« nannte – auch wußte. Aber über Sonntag wurde er eben in der Wohnung in der Anlage nicht gebraucht. Da kam für anderthalb Tage eine kleine blonde Hausfrau und hielt alles so hübsch und adrett, wie es Hugo Hagedorn bei aller Sorgfalt selber kaum halten konnte. Und dann war die Wohnung voller Blumen, und es wurde musiziert und gesungen. Und wenn Hugo Hagedorn von den »Verwandten in Schlierbach« am Montag wiederkam, waren die jungen Herren wieder allein, und nur eine Haarnadel vielleicht auf dem Teppich in Herrn Bens Zimmer oder ein Lied für Sopran auf dem Klavier im Wohnzimmer verriet, daß – jemand dagewesen war.

Das Seltsamste aber war der Schwager Korbmacher.

»Hugo,« hatte der eines Abends spät im »Silbernen Hirschen« zu ihm gesagt: »Hugo, weischt, i könnt' dir jetzt das Kännle an den Kopf feuere. Das könnt' i, und der Herr Pfarrer tät vielleicht saage: Der Jähzorn ischt nit schön, Ackerle – aber diesmal hascht recht g'habt! Denn siehscht, Hugo, du häscht's doch g'wußt, das mit der Eveline und dem Student. Saag nix – du häscht's g'wußt! Denn dumm maagscht sei – meine Frau, deine Schwester, Gott hab' se selig, so lieb se g'wese ischt, hätt' auch 's Pulver nit erfunde. Dafür steht ja auch der Berthold Schwarz in Freiburg am Franziskaner Platz. Aber so dumm und so von Gott verlasse bischt doch nit g'wese, daß du nit g'merkt habe sollscht, was sich da anspinnt. Awer siehscht, die Eveline hat mir's halt selber g'sagt. Und sie hat mir versproche, daß sie sich nix einbilde will, was ihr nachher weh tut, wenn's halt nit so kommt. Und weiter hat sie mir versproche, daß sie mir nit davon lauft und mein Kind bleibt. Daß sie mich nit allein laßt, wann's kommt, wie der Arzt g'sagt hat, daß i emal zusammenklapp. 's ischt vielleicht nit schön und nit so das Normalische, was wir miteinander g'redt habe, die Eveline und ich. Aber siehscht, i hab zu unserm Herrgott alleweil ein eigenes Verhältnis g'habt. Mein G'schäft klebt, wie ein Schwalbeneschtle am Kuhstall, an der alte Heiliggeistkirch, und nit dreimal hat in den letschte zwanzig Jahr da drinne die Orgel g'spielt, ohne daß ich se nit g'hört hab. Zum Gottesdienscht, wenn die alte Weiber all 'neinlaufe, bin i ja freilich nit oft gange; aber wenn die Sonn so recht g'brannt hat auf mei G'schäftle, und wenn die Körb so geknackt habe von der Hitz, als wenn das Flechtwerk noch den Sommer g'spüret, dann hab i oft da drinne mich ins Kühle g'setzt, wo kein Mensch drin g'wese ischt – und siehscht, da kann man sich ganz anders mit'm liebe Gott unterhalte. Und da hab' i mi oft g'fragt – und ihn, verstehscht, ihn – ob i das hübsche Mädel, wo ihrer Mutter so ähnlich ischt – denn so garschtig du bischt, Hugo, sei nit bös, so schön war die, gelt? – ob i das mit alle Höllstrafe bedrohe soll und soll's fein aufhebe, bis emal e lahmer Schuster, wie der Lechleitner am Karlstor, kommt oder e Korbmacher, der wo emal . . . na, du weischt scho, als wie i, oder beschtefalls e schlechtrasierter Poschtassistent, der zehn Stund im Tag Marke leckt und abends bei seiner Frau zusamme schimpft, was er bei seine grobe Vorgesetzte nit so auslasse darf. Und – Hugo – ischt deine Schwester deshalb eine schlechtere Frau g'wese, weil sie bis zu ihrem Tod noch das Bild von dem Rhenane mit den zwei farbige Bänder hat auf der Kommode stehn g'habt, dem sie gut g'wesen ischt einen Heidelberger Sommer lang und ein Wintersemester? E paar Büchle hat sie noch von ihm g'habt – von einem g'wisse Geibel eins und eins mit so lauter kleine Verschle, lange und kurze, wo sie Mirza Schaffy g'heiße hat. Das war ein Türk oder ein Persianer oder so was. Sicher kein Christemensch, aber Verschle hat er g'konnt. Und da war'n noch Strichle mit Bleistift dran, die wo der Rhenane selber g'macht hat – Das hab i alles g'wußt. Alles. Und sie hat's g'wußt, daß i's weiß. Und ischt mir dankbar g'wese, verstehscht, daß i ihr alles g'lasse hab und nit gerührt hab mit meine dicke, harte Handwerkerfinger an all dem, was emal g'wesen ischt. Nie haben wir davon g'sproche – nie. Bloß einmal – die Eveline ischt scho zur heiligen Kommunion gange –, da hat deine Schwester mir ein Zeitungsblatt hing'legt, abends neben meinen Teller. Aus Leipzig oder aus Berlin war's. Und hat mit ihr'n Finger auf eine Todesanzeig g'wiesen, wo g'schtanden ischt: Es hat Gott, dem Allmächtigen und Allgütigen gefallen, den Herrn Justizrat, Ritter hoher Orden . . . und so. Da hat sie nur g'sagt: »Er ischt tot.« Und am Abend hab i's an ihre rote Auge g'sehe, daß sie ein wenig g'weint hat. Und an dem Bild von dem Rhenanen ischt ein Sträußle g'legen. Aber der Tisch war gedeckt wie immer, und sie hat nit anders, wie sonst, g'fragt: »Magscht e Pfeifle Vatter?« . . . Und siehscht, Hugo, i gönn halt der Eveline auch ihren »Rhenanen« für später auf die Kommod und ihren Persianer oder was jetzt Mod auf'm Bücherbrettle ischt. Und weil i's ihr gönn – wenn's auch weh tut, denn siehscht, für voll nimmt so einer uns kleine Leut ja doch nit und wenn wir zehnmal der Vatter sind – weil i's ihr gönn, deshalb verlaß i mich auch auf ihr Wort. Sie bleibt bei mir in Heidelberg, das hat's mir versproche, und lauft ihr'm alten Vater nit davon, wie dem Amburger seine, die wo's mit dem preußischen Baron g'habt hat und wo jetzt in München Kellnerin sein soll; und wie der Schöpfle ihr Theres, die wo in Berlin vor die Hund gange ischt. Und deshalb, Hugo, siehscht, deshalb schmeiß i dir jetzt nit das Kännle an Kopp und sitz mit dir im »Silbernen Hirschen«, als ob alles in schönster Ordnung wär mit uns und mit die andern. Aber« – und hier tat Adam Ackerle einen tiefen und bedächtigen Zug, »wer weiß überhaupt, Hugo, ob das halt die Ordnung ischt, was wir jetzt so die Ordnung nennen. Und sind gar so stolz, wenn wir's Maul breit machen und »Ordnung« sagen. Im Chorgestühl von der Heiliggeistkirch, wenn draußen die Sonn auf'n Marktplatz und auf meine knackende Körb g'brannt hat und das Licht durch die Glasfenster so schön bunt auf die Grabstein im Steinboden g'fallen ischt, auf die Kaiser und Markgrafen, die nimmer aufstehn, da hat mir der liebe Gott manchmal den G'danke gebe: ein jeder muß sich halt seine Ordnung selber mache. Wie als daß er's vor sein G'wissen verantworten kann und sein Nachdenken. Nachher wird er's da oben schon erfahr'n, ob er ein Narr war mit sein Gewissen und sein Nachdenken oder ein ganz G'scheiter. Ein Lump oder ein braver Kerl.«

Hugo Hagedorn war damals sehr froh gewesen, daß ihm das Krüglein im »Silbernen Hirschen« nicht an den Kopf flog. Sein eigenes Gewissen und Nachdenken fühlte sich dadurch entlastet. Er konnte jetzt oben in der Anlage Evelines Bilder – es waren längst richtige und hübsche Aufnahmen, mit und ohne Spitz, mit und ohne Hut, lachend und ernste, dazu gekommen – ohne peinliches Gefühl frühmorgens abstauben. Konnte jeden Sonnabend ohne Reue und Scham die »Verwandten in Schlierbach« besuchen. Und da Ben die Unkosten dieser pietätvollen Reise trug und jedesmal üppig zehn Mark dafür spendierte, und da, wie gesagt, gar keine Verwandten in Schlierbach vorhanden waren, so fuhr Hugo Hagedorn über Sonntag seelenruhig nach Mannheim, wohnte in einem billigen Hotel und ging abends in den zweiten Rang ins Hoftheater. Dort kannte und schätzte ihn der Logenschließer bald als »den kunstfreundlichen Herrn aus Heidelberg« und legte ihm vor Vorstellungsschluß die Garderobe heraus und half ihm in den Paletot. Und im Gefühl, in einem Großherzoglich badischen Hof- und Nationaltheater gewissermaßen als Stammgast von auswärts betrachtet und geschätzt zu werden, gewann Hugo Hagedorn an Selbstachtung und dankte im stillen seiner Nichte Eveline für den Kunstgenuß und das späte Glücksgefühl.

Ev' war Bens Geliebte geworden. So selbstverständlich es ihr erschienen war, daß sie bis zu dem Tage, da Ben zu ihres Vaters Geschäft kam, irgend etwas zu kaufen, all die bebänderten und unbebänderten Bewerber um ihre Gunst ausgelacht hatte, schalkhaft vergnügt ausgelacht hatte, nicht boshaft und hochmütig, so selbstverständlich erschien es ihr jetzt mit einmal, daß sie Ben schenkte, was seine Liebe von ihr begehrte. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich als Studentenliebchen zu fühlen. Sie wollte ebensowenig mit dem hübschen und eleganten Burschen Staat machen vor Freundinnen und Kleinbürgern, als sich und ihr gesundes Gefühl scheu verbergen, wie eine Schande in Heimlichkeit. Sie liebte ihn, weil er jung war und froh und gütig, und weil seine Augen so hell aufleuchten konnten, wenn sie kam, so traurig nachblickten, wenn sie ging. Sie liebte ihn, weil er, ohne schulmeisterlich zu reden, ihr so viel sagte und zeigte, was sie mit ihrer braven Volksschulbildung nicht wußte und kannte, und das zu wissen und zu hören sie sich doch so oft gesehnt. Sie liebte ihn, weil er aus einer anderen Gesellschaftssphäre kam, in der ein feiner Geschmack und eine kultivierte Lebensführung zu einem geistigen Genießen erzog, an dem er sie nun teilnehmen ließ. Sie liebte ihn, weil er ihr weibliches Gefühl, das scheu und keusch blieb, auch wenn sie sich ihm schenkte, nie verletzte und anderen nie erlaubte, in Scherz oder Anspielung das »kleine Mädel« in ihr zu sehen, das einer heute zum Zeitvertreib küßt und morgen, gelangweilt, wegschickt. Sie liebte ihn, weil er alles, was Jugend, Leichtsinn und Studentenleben war, lachend verkörperte und auch wieder ernst und ein bißchen schwermütig sein konnte nach Frankenart. Und sie liebte ihr altes Heidelberg, das Schloß, die Berge und den Neckar noch inniger, seit sie die Begeisterung miterlebte, mit der Bens junges, empfängliches Herz sich fest und innig drängte an dies herrlichste Stückchen deutscher Erde, das sie geboren und das ihre harmlos frohe Kindheit beschützt hatte. Und sie sang, seit sie ihren Arm in seinem fühlte beim Wandern, mit einem ganz neuen Gefühl, mit einer Fröhlichkeit, die ein Glaube war und ein Bekenntnis, von den Bergen ins Tal: »Alt Heidelberg, du Feine, du Stadt an Ehren reich!«

Ja, sogar ihren Vater liebte sie reiner und herzlicher, seit sie erkannt hatte, daß der alte Mann, ganz gegen Sitte und Herkommen und taub für die leise und lautere Stichelrede der Nachbarn und guten Freunde, ihr in schmerzhafter Selbstüberwindung das Glück ihres jungen Frühlings ließ und gönnte. Daß er nicht schalt und nicht fragte, nicht mit Wort oder Blick strafte, ja nicht einmal tadelte und warnte; daß er nur zuweilen mit der harten, verarbeiteten Hand, die schon ein wenig zitterte, ihren Scheitel berührte als wollt' er sagen: wenn's einmal anders kommt, Kind, ich bin auch noch da.

. . . Fips Tomasius und Willibald von Gollwitz hatten sich, nach einigen schüchternen und vergeblichen Versuchen in der ersten Zeit, mit zu konkurrieren, auf die bescheideneren Rollen fröhlicher Paten dieses jungen Glücks besonnen und zurückgezogen. Sie behandelten Ev' durchaus als junge Dame ihrer Kreise, wenn sie abends kam, die Dreie abzuholen zum Spaziergang den Neckar entlang nach dem schattigen Garten der Stiftsmühle oder hinauf nach dem Kohlhof; oder wenn sie über Sonntag blieb und in eifrigen Hantierungen ganz die kleine Hausfrau spielte. Sie beneideten Ben wohl; aber sie freuten sich zugleich, ein wenig Anteil zu haben an der Sauberkeit, Ordnung und Fröhlichkeit, die das junge Weib in das häusliche Leben dieses Triumvirats trug. Sie fragten, ehe sie ihre kurzen Pfeifen in ihrer Gegenwart ansteckten, stets, ob sie rauchen dürften. Sie ließen sie nichts tragen oder heben. Sie halfen ihr ritterlich beim Aus- und Einsteigen in Boot und Wagen. Und selbst als Ben bei einer würzigen Maibowle oben auf dem Königstuhl angeregt hatte, daß Ev' mit den Freunden Schmollis trank, blieb ein Respekt und eine scheue Bewunderung zurück, die ihren Umgang mit des Freundes Liebchen in guten Formen hielt. Ihre eigenen kleinen Amouren mit Kellnerinnen und Ladenmädchen, oder die kleinen Reisen nach Mannheim, die nicht gerade in einer Hoftheatervorstellung der »Braut von Messina« endeten, wurden in Ev's Gegenwart nur in knappen mysteriösen Andeutungen berührt. Oder sie sprachen heimlich lateinisch oder ein schreckliches Englisch zusammen.

Denn just in der Selbstverständlichkeit, mit der Ev' ihre Liebe zu Ben behandelte und zu Inhalt und Richtschnur ihres einfachen und sauberen Lebens machte, lag ein Achtung erzwingendes Bekenntnis der Reinheit ihres Herzens und ihrer Gefühle.


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