Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Achtzehntes Kapitel

Ich weiß nicht, ob die Gondeln bestellt waren. Jedenfalls, als wir den Markusplatz durchquert hatten, auf dem ganz Venedig, die Kühle genießend, im Mondschein promenierte, lagen an der Piazzettatreppe zwei Gondeln, die wir mit schöner Selbstverständlichkeit bestiegen.

Eine rasche, schweigsame und sehr geschickte Regie hatte uns so verteilt, daß der Erbprinz Ernst Erich, der Duca und Teresina in der ersten Gondel saßen. Auch Herr von Birkhuhn, dessen Bedarf an Konversation mit den baltischen Damen für heute gedeckt schien, war im letzten Moment noch hineingesprungen. In unserer zweiten Gondel saßen mit mir die Baronin, die visionäre Nichte, der Dichter Honneff und mein Bruder Ben.

»Die Herren Brüder haben sich gewiß viel zu erzählen,« rief der Erbprinz freundlich winkend herüber. Und schon glitt seine Gondel an uns vorüber. Eine wundervolle Silhouette, von der nur der silberne Eisenkamm am Schnabel aufglänzte.

Das war ja nun wohl richtig, daß wir zwei uns mancherlei zu sagen gehabt hätten, und einen Augenblick pochte wieder mein Gewissen: steig aus, nimm Ben beiseite und rede mit ihm! Aber das Märchen dieser erleuchteten Kais, dieser Säulenhallen, Kuppeln und Türme, die der Vollmond in sein blasses Gold tauchte, schmeichelte alle guten Vorsätze in einen sanft entspannenden wundervollen Traum.

Honneff, von der kühlen Abendluft, die uns von der in Marmorhoheit thronenden Maria della Salute entgegenstrich, geweckt und neu belebt, fand, zwischen den Damen sitzend, Worte, die zum erstenmal heute abend seinen Beruf und sein Ingenium aufleuchten ließen. Der Takt der Ruder der beiden Gondoliere, die schweigend auf der Poppa standen und im schönen Rhythmus der biegsamen Körper die Ruder bewegten, gab die leise Begleitmusik zu seinen Worten.

»Venedig« . . . Der Dichter sprach das mit einer großen Handbewegung, als schenke er uns hiermit gnädigst die genannte Stadt. »Warum lieben wir's, wie kaum eine andere Stadt? Weil wir Deutschen den liebsten Traum träumen, wenn leise Melancholie mitklingt. Weil wir empfänglich sind wie kein anderes Volk für die farbenreichere Schönheit südlicher Länder. Weil wir das Meer geliebt haben, ehe wir wagten, es zu befahren. Uns Deutschen ist im Wunderlande Italien Venedig ein einzigartiges Kleinod geblieben von unschätzbar besonderem Wert. Die entthronte Herrin des Mittelmeers, im Witwenschmuck ihres Marmors, ihrer Brunnen und Statuen, ihrer Kirchenschätze und Bilder, hat uns in ihrer rührend stolzen Schönheit selbst, wie eine Heilige unter den Städten, berührt. Eine Heilige, die gekämpft und gelitten hat, und der der Himmel die Glorie ewiger Schönheit um das Haupt gießt.«

Ben hörte nicht zu. Der sonst so Empfängliche schien für die Reize dieser gepriesenen Heiligen die volle Bewunderung nicht aufzubringen. Er nagte unruhig die Unterlippe und sah hinter der entgleitenden Gondel her, über der jetzt zwei kleine weiße Schmetterlinge zu schweben schienen. Das waren Teresinas hübsche Hände, die uns übermütig winkten.

Jetzt waren wir in den großen Kanal eingebogen. Der Dichter Honneff verschenkte alsbald mit einer neuen großen Armbewegung die Paläste. Bewacht von den bunten Pfählen, die der alten Geschlechter blassende Farben zeigten, ließen sie in majestätischer Ruhe das Gold des Mondscheins an ihren Toren und Loggien niederfließen.

»Wenn man so denkt –! Fast aus jedem dieser Adelshäuser ist einmal ein stolzer Adelssproß in die rote Staatsgondel des Dogen gestiegen. Hat sich, den Ring ins Meer senkend, der Adria vermählt. Hat Briefe mit dem Papst, Verträge mit den Fürsten getauscht. Hat sich im Kampf mit der Herrschaft der Nobili gequält und einzig die dosci inquisitori di stato gefürchtet, die selbst ihn strafen konnten und über sein Grab hinaus die Familie. Und hat schließlich, resigniert lächelnd, den Lieblingskünstler bestimmt, der einmal, wenn ihm im Tode die Ehren von den nachprüfenden Correttori zugesprochen, sein Grabmal meißeln sollte im geweihten Gotenbau von San Giovanni e Paolo.«

Ich lauschte andächtig. Diesem weinfrohen Mann hatte ich manchmal, wenn ich ihn, als starken Esser und wahrscheinlich nicht schwächeren Trinker, bei Familienfesten beobachtet, seine eigenen Bücher, die Wohlklang und Tiefsinn enthielten, nicht zugetraut. Noch heute mittag erschien er mir mehr als Weltbummler und Schlemmer, denn als ein von der Muse Geküßter; und fast ärgerlich hatte ich sein gerötetes und, nicht zu leugnen, ein wenig gedunsenes Gesicht mit dem Schlaf kämpfen sehen. Jetzt aber schien der Zauber dieser lautlos gleitenden Fahrt durch die Vollmondnacht Venedigs jenes reichere, bessere Teil seines Ichs geweckt zu haben, dem er den Rhythmus schöner Worte, den Schwang manchen Liedes dankte, das die schwärmende Jugend daheim in Deutschland sang.

Durch die Erwähnung von San Giovanni e Paolo angeregt, sprach die Baronin von dem Reiterstandbild des Colleoni, der hier auf den kleinen, versteckten Platz doch wirklich zu ungünstig gestellt sei, nicht würdig seines Ruhmes.

»Sein Ruhm?« Honneff ließ die rechte Hand über den Rand der Gondel ins Wasser gleiten und sah nachdenklich das unruhige Silber der Wellchen sie umspielen, während er sprach: »Es ist mehr. Unvergeßlich reitet er, die gepanzerten Glieder im Sattel gereckt, daher. Aber – unvergeßlich durch die Kunst, die Kunst eines anderen, nicht durch seine Taten. Unvergeßlich durch seine kluge Eitelkeit, nicht durch die Wucht seiner Siege. Bartolomeo Colleoni, der Condottiere der Republik von San Marco! Hinter seinem Rücken, in der gotischen Gruftkirche, schlafen die Dogen. Ein paar ihrer Namen haften ja auch vielleicht im Ohr der Fremdlinge, die hier im Schatten des Chors die Grabdenkmäler, von Engeln und Musen bewacht, gefunden haben. Keiner von diesen Herren über Stadt und Lagunen aber prägt Namen und Bild so stark dem schauenden Wanderer durch die Dogenstadt ein, wie dieser bezahlte, dieser käufliche Söldnerführer. Wie dieser Abenteurer, der sein Schwert vor einem halben Jahrtausend skrupellos dem Meistbietenden verkauft. Ein Kerl jedenfalls! Er hat die Fürsten gefoppt und schließlich einer stolzen Republik die ärgerliche Denkmalspflicht in höhnender Testamentsklausel aufgezwungen. Dieser Vielumhergetriebene hat bald für Neapel, bald für Mailand, bald für Venedig gekämpft. War in Schlössern und Kerkern heimisch. Und am Ende hat er den grimmigen Witz seines rauhen Lebens gemacht: hat, ehe er sich nach Bergamo in die berühmte Capella Colleoni zum ewigen Schlummer zurückzog, sein großes erstrittenes und ergaunertes Vermögen der Republik Venedig vermacht. Aber – mit der üblen Auflage: ihm, dem käuflichen Abenteurer, ein würdiges Reiterdenkmal zu setzen! Schalkheit und Eitelkeit, Hohn und Eigensinn haben sich wohl in diesem unbeugsamen letzten Willen vermählt. Knirschend haben die venezianischen Kaufleute dem tollen Kriegsmann den geckischen Wunsch erfüllt. Auf einen versteckten Platz haben sie sein Denkmal gestellt – aber sieh da, Meister Andrea del Verocchio, des großen Leonardo kunstreicher Lehrer, hat in diesem unwillig von der Republik bestellten Denkmal des Condottiere das an Kraft und Schönheit nie mehr erreichte, schönste Reiterstandbild der Welt geschaffen! Und wer heute, an der Scuola di San Marco vorbei, sich dem auf gewaltig ausgreifenden schweren Schlachthengst daherreitenden grimmigen Ritter nähert, der hat das Gefühl: hier steht eine ganze wilde in Waffen starrende Zeit wieder auf. Hier eint sich höchster Kunstsinn mit brutaler Kraft. Hier reitet siegreich ein Held gewaltiger Dramen. Und doch – dieser Colleoni, mit den Sforzas verschwägert, zuzeiten gefürchtet von Venetien bis tief an die neapolitanische Bucht, war bloß einer von Vielen. War ein bezahlbarer Glücksritter, wie die anderen; ein Gewaltmensch, wie seine vergessenen Vettern des Quattrocento. Nur – eitler, als sie, und mit einer höheren Meinung vom Ruhm und Klang eines Namens, den die Nachwelt mit Schauern der Bewunderung spricht. Kein größerer Held, als die Verschollenen, ist dieser erzgegossene Condottiere gewesen, nur ein größerer Poseur, ein geschickterer Regisseur seiner unstillbaren Eitelkeit. Erst daß er den Künstler fand, der ihn für die Ewigkeit aufs Pferd setzte, hat seinen Weltruhm entschieden.«

Ich hatte aufmerksam zugehört, dankbar, nach viel Wein und leichter Unterhaltung mal wieder die kräftige Sprache eines Nachdenklichen zu hören. Eines Künstlers, der stolz für die Ewigkeit und heiligende Macht der Kunst plädierte. Alle die vielen mit farbigen Lampions geschmückten Gondeln, alle die mit bunten Teppichen belegten Barken, die uns entgegenkamen oder überholten, all das Lachen und Geplauder, das, sich mit dem Ton der plätschernden Ruderschläge mischend, auf der silbrigen Wasserstraße schwamm, hatte mein Auge erfreut, aber meine Gedanken nicht eigentlich abgelenkt von dem Ruhm Venedigs, dessen Sänger mir gegenüber zwischen den baltischen Damen saß.

Jetzt aber sah ich zur Seite und in Bens Gesicht.

Es war mir sofort klar, daß Bens Gedanken sich nicht mit dem Colleoni und überhaupt nicht mit irgend etwas beschäftigt hatten, das die Kunst des Quattrocento oder die Geschichte Venedigs anging. Er lebte durchaus in der Gegenwart, und seine unruhig flatternden Augen suchten die eine Gondel unter den vielen, vielen, die jetzt dicht um das reichgeschmückte, bunterleuchtete Schiff der Serenatasänger sich glatt und leicht zusammenschoben.

Durch eine einzige Gondel, in der ein älteres zerknittertes Ehepaar, fast ängstlich in die Lodenmäntel gewickelt, in diese fremde huschende Welt starrte, waren wir von der Gondel getrennt, in der der Erbprinz mit Teresina und den anderen saß. Mir schien es, daß die Hoheit, vermutlich um fester und bequemer in den Daunen der schwellenden Kissen zu sitzen, den Arm hinter Teresinas Nacken gelegt hatte.

Auch Ben hatte das offenbar bemerkt, und es mißfiel ihm.

Die baltischen Damen hatten, schweigend und zerstreut, Honneffs venezianische Hymnen und Belehrungen über sich ergehen lassen. Sie tauschten mehrfach verstohlene Blicke. Auch ein paar leise Worte, die sie ruhig hätten lauter sprechen können. Denn es war Russisch, das hier in der Gondel niemand außer ihnen verstand.

»Wissen Sie, daß ich auch diese Gondelfahrt genau voraussah – etwa im Oktober vorigen Jahres?« sagte plötzlich die Komtesse zu Ben. Sagte es auf Französisch; warum das, ahn' ich nicht.

Ich hörte nicht, was er antwortete. Denn die Baronin nickte mir ernst zu und erläuterte: »Meine arme Nichte ist Clairvoyante. Eine Schickung! Sie schaut bedeutsame Ereignisse oft mit fabelhafter Genauigkeit in ganz plötzlich sich einstellenden Wachträumen.«

Ich dachte, daß diese gefürchtete Gabe nicht sehr unangenehm werden könnte, wenn die bedeutsamen Ereignisse, die sie sah, die Bedeutsamkeit dieser Fahrt zur Serenata nicht überstiegen. Dann aber fiel mir ein, daß alles Bedeutsame schließlich relativ sei; und daß ein Fremdling in diesem Kreise, wie ich, schließlich nicht wissen könne, was dieser Abend in der Gondel für Leben und Gemüt der Seherin selbst bedeute.

Es war still geworden in unserem schwarzen Schiffchen.

Da vorn im Mittelpunkt all der leicht, wie in lieblichem Rhythmus sie umschwebenden Gondeln sang eine geputzte Sängerin auf primitivem Podium in reich geschmückter Barke. Ihrem imponierenden Busen, der zu den Sternen aufwogte, entstieg erst eine Arie der »Nachtwandlerin«, dann der Sterbegesang der »Traviata«. Die Meister Bellini und Verdi hätten sich über den gewaltigen Sopran gefreut und, Italiener wie sie waren, der Sängerin sogar vielleicht das ewige Tremolieren verziehen.

Im Lichterglanz funkelte der Kanal, und die weite Sterndecke des Firmaments schien nur eine himmlische Fortsetzung seiner irdischen Herrlichkeit. Die Marmorwände der Paläste warfen Gesang und Mandolinenklang zurück.

Im Hintergrund spannte der Rialto seinen dunklen Bogen . . .

Ich schlechter Kerl genoß – die Seele von Wein und Liedern beschwingt, glückbefriedet, wie nie – die Herrlichkeit dieser südlichen Lenznacht mit vollen Zügen. Dachte an irdische und ewige Dinge, an Käthe, die Heimat, die Jugend und die fernen Gräber – und über allem, allem lag, froh, versöhnend, frühlingsmäßig, in einer nie gekannten Fülle der Zauber dieser Stunde. Und alles durchdrang das Bewußtsein: Du lebst, du bist jung!

Daß Ben noch jünger war und seine Neigung zu leben noch heftiger, war mir ganz entfallen. Und mit diesem naheliegenden Gedanken leider auch der Zweck, die Aufgabe meiner eiligen venezianischen Reise.

Auf einen Vorschlag des Erbprinzen trugen uns die Gondeln, als die Serenata verklungen, nicht den kürzesten Weg zum Molo zurück. Wir ruderten vielmehr den Kanal hinauf bis zu dem Kirchlein S. Marcuola, in dem ein früher Tizian hängen sollte, den die kunstfreundliche Hoheit herzlich liebte. Aber da es jetzt Nacht war und S. Marcuola, wie zu vermuten, geschlossen und mithin der junge Christus, den Tizians Meisterhand zwischen den heiligen Andreas und die heilige Katharina gestellt, nicht zu sehen, so mußte diese Fahrt anderen Zweck haben.

Den erkannt' ich auch bald. Wir stiegen aus und gingen nun zu Fuß über Brücken und Brückchen durch malerische Winkelsträßchen und engste Gäßchen zurück. Wir sollten den halben Shakespeare erleben, den »Kaufmann von Venedig« und den »Othello«, erklärte die Hoheit lachend. Ein phantasieloser Tropf, wem hier nicht Shylock mit Tubal, auf der Suche nach der entführten Tochter, entgegenkam; wem nicht im Schatten jenes freskengeschmückten Hauses, den Feldherrnmantel um den kupfernen Leib geschlagen, Othello, der Mohr Venedigs, auf dem Wege zum hohen Rat begegnete!

Die Enge der dunklen Gäßchen bedingte, daß wir zu zwei und zweien gingen. Wie sich der Zug vor mir ordnete, den mir die Hoheit mit Teresina zu eröffnen schien, weiß ich nicht recht. Weiß nur, daß neben mir der Hauptmann Birkhuhn, einen angenehmen deutschen Duft von Zigaretten und Kölnischem Wasser verbreitend, einherschritt und sehr freundlich zu mir redete –

»Ich habe Ihnen etwas abzubitten, Herr Doktor – in der Vergangenheit und vielleicht in der Zukunft.« Das klang im Moment etwas rätselhaft. Aber nachts, im schlafenden Venedig, gehört das Rätselhafte durchaus zu einem Spaziergang. Und später hab' ich's sogar verstanden.

Der Hauptmann genoß einen Augenblick an einem zierlichen Brückchen den Blick auf einen Heiligen, der segnend über flimmernd rotem ewigem Lämpchen ein Haus hütete, das lebensmüde in den Kanal sinken zu wollen schien.

Dann fuhr er fort.

»Als mich heute der Prinz mit den baltischen Damen auf S. Giorgio Maggiore schickte, wußte ich Bescheid. Voriges Jahr waren es zwei Schottinnen, mit denen ich immerzu auf florentinische Kirchtürme klettern mußte. Er selber spürt dann wieder seine gebrochene Zehe und kann keine Treppen steigen. Aber der hohe Herr ist immer sehr besorgt, daß seinen Freundinnen vom Vorjahr keine schöne Aussicht entgeht, während er sich der Gegenwart widmet. Als ich nun an den Tisch im Quadri kam und Sie fand, verehrter Herr Doktor, glaubte ich an eine Intrige. Oder vielmehr, war bestärkt in dieser Vermutung, die schon aufgetaucht war, als Ihr Herr Bruder – er ist's doch wirklich?«

»Gewiß. Mein jüngerer Bruder.«

»Jünger, das sieht man. Sehr jung. Besonders jung für – venezianische Abenteuer.«

»Sie meinen –?«

»Ich meine – oder vielmehr, ich meinte, daß . . . Sie sind doch Advokat?«

»Anwalt in Frankfurt.«

»Frankfurt – so? Eine schöne Stadt. Ein bißchen unblond, aber das hat auch seine Qualitäten. Tja, was ich sagen wollte – Sie wissen vielleicht oder wissen nicht, daß eine Nebenlinie des fürstlichen Hauses, die schon unserem Regierenden den kleinen, aber netten Thron mit großer Gerissenheit streitig gemacht hat, darauf ausgeht, den Erbprinzen auszuschalten –«

»Auszuschalten? Wie soll sie das machen?« Der deutsche Jurist in mir wurde mitten im schlummernden Venedig wach.

»Nun, ziemlich einfach – oder ziemlich raffiniert. Der Erbprinz reist – oder sagen wir so – der Erbprinz verehrt schöne Frauen. Verehrt leidenschaftlich. Und wäre imstande – einmal um einer Frau willen, die er nicht anders erobern kann, den strengen und deutlichen Ehegesetzen des fürstlichen Hauses ein Schnippchen zu schlagen. Eine Mesalliance aber schlöße ihn von der Regierung aus. Und da der jüngere und einzige Bruder bereits die menschliche Laune hatte, eine ehemalige Operettensängerin – der Beruf ist mild ausgedrückt – zur linken Hand sich anzutrauen – sie heißt jetzt Baronin Brinkenau, auf Affichen hieß sie vor fünf Jahren noch bezeichnender »Mademoiselle Lolotte« – so wäre der Weg eben frei für die andere Linie, wenn . . .«

Mir kam der Gedanke, daß solch romantische Fürstengeschichten sich sehr hübsch anhören zwischen diesen unwahrscheinlichen Kulissen der Brücken, Nischen und Türmchen, die der Mond bemalte.

»Auf jeder Reise noch ist uns so was über den Weg gelaufen wie jetzt. – Aber ich will Ihrem Herrn Bruder nicht zu nahe treten. Voriges Jahr in Rom war es diese Komtesse mit den ewigen Visionen – sie hat übrigens wirklich Gesichte. Vor drei Jahren war es in Neapel die Schottin . . . Übrigens ein wundervolles Weib! Und immer hatte da die Nebenlinie die unsichtbaren, aber geschickten Hände im Spiel.«

»Sie meinen,« ich begann zu verstehen, »meinen, daß der Herr Erbprinz – oder vielmehr: daß diese italienische Dame –«

»Wie ich den Erbprinzen kenne – und ich kenne ihn gut, denn ich wurde mit ihm erzogen, war mit ihm Kadett, hatte mit ihm den ersten Rausch, und er hat mir meine erste Geliebte ausgespannt –«

»Das ist allerdings eine ziemlich erschöpfende Bekanntschaft.«

»O ja. Mir genügt sie. Aber was wollen Sie – viel anderes hat man nicht gelernt – und schließlich ist es schwer, das Milieu zu wechseln, wenn man mal in gewisse Jahre kommt.«

Ich überlegte, ob mir dieser Herr von Birkhuhn, der mit einer kühlen, sympathischen Selbstverständlichkeit diese merkwürdigen Dinge sagte, auch so viel Vertrauen geschenkt hätte, wenn er nicht so viel roten Wein getrunken, so viel Musik gehört und so viel venezianische Brückchen im Mondschein überklettert hätte.

»Ich hatte einen Argwohn gegen Ihren Bruder gestern – als er plötzlich im Aussichtswagen mit der auffallenden Dame auftauchte. Ich hatte einen Argwohn gegen Sie – als ich Sie plötzlich, als zweiten Kavalier der Italienerin, bei Quadri fand.«

Ich mußte unwillkürlich lachen. »Wenn Sie wüßten, Herr Hauptmann – oder Herr Adjutant – wie soll ich sagen?«

»Bitte einfach: Herr von Birkhuhn. Der Name ist nicht überwältigend schön, etwas grotesk, aber seit ein paar Jahrhunderten hat sich die Familie daran gewöhnt. Und er ist mit nicht immer bedeutenden, aber ganz braven Menschen in der Geschichte unseres Ländchens verbunden.«

»Ja also, Herr von Birkhuhn, wenn Sie wüßten, warum ich eigentlich hier in Venedig bin –«

»Pardon, ich hatte nicht vor, indiskret zu sein. Ich hatte nur ein gewisses – sagen wir, ein gewisses Reinlichkeitsbedürfnis. Man weiß ja nicht, wie oft man sich noch sieht. Der Prinz ist rasch in seinen Entschlüssen und Reisedispositionen. Tja, ich wollte sagen: ein gewisses Reinlichkeitsbedürfnis, Ihnen zu gestehen, daß ich mich getäuscht habe. Eine Absicht Ihrerseits unseren – das heißt des Erbprinzen – Weg zu kreuzen, liegt offenbar wirklich nicht vor.«

»Weiß der Teufel – nein. Pardon!«

»Bitte. Ich fluche selbst zuzeiten recht gern. Es erleichtert. Die kleinen seelischen Ventile der Sprache sind nicht zu unterschätzen. Wenn man auch in unseren abhängigen Stellungen diese Ventile meist nur in Monologen öffnen kann.«

In diesem Augenblick bogen wir durch die Merceria, die jetzt mit ihren geschlossenen Läden grau und tot wirkte, wieder auf den Markusplatz ein, der nun, weiß und glatt und ziemlich leer, weit größer und feierlicher wirkte, als am Mittag und Abend.

»Ich möchte noch mit dir reden, Ben!« Am Portal des Hotels Danieli tat ich diesen Entschluß kund. Ich wollte als Abgesandter der Familie ein gutes Gewissen haben, wenn ich zu Bett ging.

Honneff erbot sich, die baltischen Damen nach dem nahen Grand Hotel zu geleiten. Der Duca ließ mir durch Honneff »felicissima notte« wünschen, und hatte sich schon irgendwo auf dem Wege verkrümelt. Der Erbprinz und Herr von Birkhuhn verabschiedeten sich herzlich. Teresina markierte hinter der ringgeschmückten hübschen Hand ein leises Gähnen und beteuerte, der Tag habe sie sehr angestrengt. Wir brachten sie nach ihrem Zimmer, in das Ben noch einen Augenblick mit eintrat. Ich stand auf dem Korridor und hörte ihn lebhaft reden. Seine Stimme klang bald erregt, bald zärtlich. Sie lachte, lachte Tonleitern. Ein kurzes klatschendes Geräusch, ich dachte an die Lippenpomade.


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