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Die Lokomotive schmetterte einen schier endlosen Pfiff in die blaue Luft des schwülen, lichtflimmernden Augustmittags. – Pierre saß mit seiner Mutter in einem Abteil zweiter Klasse. Die Mutter eine kleine, bewegliche Frau in schlichtem, schwarzem Tuchkleide, mit einem blassen, guten Gesicht und erloschenen trüben Augen, – Offizierswitwe. Ihr Sohn ein kaum elfjähriger Knirps in der Uniform der Militär-Erziehungsanstalten.
»Da sind wir«, sagte Pierre laut und freudig und hob sein schlichtes graues Kofferchen aus dem Garnnetz. In großen, steifen, ärarischen Lettern stand darauf zu lesen: Pierre Dummont. I. Jahrgang N° 20. Die Mutter sah schweigend vor sich hin. Jetzt kamen ihr die großen, eigensinnigen Buchstaben vor Augen, als der Kleine das Gepäcksstück auf den Sitz gegenüber stellte. Sie hatte sie schon hundertmal wohl auf der mehrstündigen Reise gelesen. Und sie seufzte. – Sie war nicht gerade empfindsam und hatte an der Seite des verstorbenen Kapitäns das Wesen des Soldatenlebens kennen gelernt und sich daran gewöhnt. Aber das tat ihrem Mutterstolze doch weh, daß ihr Pierre, dessen kleine Person eine gar bedeutende Persönlichkeit in ihrem Herzen darstellte, so zur Nummer herabgedrückt worden war. – Nº 20. Wie das klang!
Pierre stand indessen am Fenster und schaute in die Gegend hinaus. Sie waren hart vor der Station. Der Zug fuhr langsamer und polterte über die Wechsel. Draußen glitten grüne Grasdämme, weite Flächen und winzige Häuschen vorüber, an deren Türen riesige Sonnenblumen mit ihren gelben Heiligenscheinen als Wächter standen. Die Türen aber waren so klein, daß Pierre dachte, er müßte sich wohl gar auch bücken, um eintreten zu können. – Da verloren sich schon die Häuschen. – Schwarze, rauchige Magazine kamen mit vielfach geteilten, blinden Scheiben, die Bahn wurde immer breiter, ein Geleise wuchs neben dem andern hervor, und endlich fuhren sie mit lautem Brausen und Zischen in die Bahnhofhalle des kleinen Städtchens ein. –
»Wir wollen heute noch recht, recht lustig sein, Mama«, flüsterte der Kleine und umfaßte die erschrockene Frau mit stürmischem Ungestüm. – Dann hob er den Koffer heraus und war seinem Mütterchen beim Aussteigen behilflich. Mit stolzer Miene reichte er ihr dann den Arm, den Frau Dumont, obwohl sie nicht groß war, nur insoweit annehmen konnte, daß sie ihrem Kavalier die linke Hand unter die Achsel schob. – Ein Diener hatte sich des Koffers bemächtigt. – So wanderten sie denn durch den glutheißen Mittag die staubige Straße dem Gasthofe zu. –
»Was wollen wir speisen, Mutter?«
»Was du willst, Liebling!«
Und jetzt erörterte Pierre alle seine Lieblingsspeisen, mit denen man ihn zuhause während der zweimonatlichen Ferien gefüttert hatte. Ob das und jenes hier auch zu haben wäre. Und man sprach von der Suppe bis zum Apfelkuchen mit der Cremehaube alles mit lukullischer Genauigkeit durch. – Der kleine Soldat war voll des Scherzes; diese Lieblingsgerichte schienen die Wirbelsäule seines Lebens zu bilden, an deren Grundstock sich erst alle anderen Ereignisse anfügten. Denn immer wieder begann er: Weißt du, als wir das und das zum letztenmale aßen, da war dies und jenes geschehen. Freilich kam ihm dabei auch in den Sinn, daß er ja heute für vier Monate zum letzten Mal solcher Genüsse sich erfreuen würde, und dann ward er ein wenig still und seufzte ganz leise. – Aber der sonnige, fröhliche Sommertag verfehlte seine Wirkung auf das Kindergemüt nicht, und er schwatzte bald wieder in übermütiger Weise fort und durchdachte die schönen Tage des schwindenden Urlaubs. Jetzt war es zwei Uhr mittags. Um sieben Uhr mußte er in der Kaserne sein – also noch fünf Stunden. – Fünfmal also mußte der große Zeiger noch rund ums Zifferblatt laufen – – das ist ja noch sehr, sehr lange. –
Das Essen war vorüber. Pierre hatte tüchtig zugesprochen. Nur als die Mutter ihm den roten Wein einschenkte, mit nassen Augen ein wenig das Glas hob und ihn bedeutungsvoll anschaute, da blieb ihm der Bissen in der Kehle stecken. – Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Auf dem Zifferblatt blieb er haften: es war drei Uhr. Viermal muß der Zeiger . . . dachte er. Das gab ihm Mut. Er hob seinen Kelch und stieß etwas heftig an. »Auf recht frohes Wiedersehen, Mütterchen!« Seine Stimme klang hart und verändert. Und rasch küßte er, als fürchtete er wieder weich zu werden, die kleine Frau auf die bleiche Stirne.
Nach dem Essen gingen sie selbander am Flußufer auf und nieder. Wenig Leute begegneten ihnen. Sie konnten ganz ungestört miteinander sprechen. Aber das Gespräch stockte oft. Pierre trug den Kopf hoch, hielt beide Hände in den Hosentaschen und schaute mit großen, blauen Augen geistesabwesend hinüber über den glastenden Fluß auf die violetten Hänge des jenseitigen Ufers. Frau Dumont aber bemerkte, wie in der Allee, welche sie durchschritten, die Blätter schon gelb und matt wurden. Hie und da lagen sogar schon welche auf dem Wege; als eines unter ihrem Fuße knirschte, erschrak sie.
»Es wird Herbst«, sagte sie leise.
»Ja«, murmelte Pierre zwischen den Zähnen.
»Aber wir haben einen schönen Sommer gehabt –« fuhr Frau Dumont fast verlegen fort.
Ihr Sohn antwortete nicht.
»Mutter«, er wandte ihr das Gesicht nicht zu, während er so sprach, »Mutter, der lieben Julie sagst du meine Grüße – nichtwahr.« – Er verstummte und ward rot.
Die Mutter lächelte: »Du kannst dich darauf verlassen, mein Pierre.« Julie war ein Cousinchen, für das der kleine Kavalier schwärmte. Er hatte ihr oft Fensterpromenaden gemacht, hatte mit ihr Ball gespielt, ihr Blumen geschenkt und trug – das wußte nicht einmal Frau Dumont – Cousinchens Bild in der linken Brusttasche des Waffenrockes.
»Julie kommt ja gewiß auch außer Haus«, meinte die Mutter, froh, den Kleinen auf dieses Thema gebracht zu haben. »Sie kommt zu den Englischen Fräuleins oder Sacrecœur . . . . . .« Die Witwe kannte ihren Pierre. Der Umstand, daß die Angebetete ein ähnliches Los ertragen sollte, tröstete ihn, und er machte sich im Stillen Vorwürfe über seine Kleinmütigkeit. Mit kindischer Phantasie übersprang er die bevorstehenden Schulmonate:
»Aber wenn ich zu Weihnachten nach Hause komme, wird Julie doch auch da sein!?«
»Gewiß. –«
»Und du wirst sie einladen, bestes Mamachen, am Weihnachtsabend, ja?«
»Sie hat mir schon im vorhinein zugesagt und mir versprechen müssen, daß sie sich recht lange bei ihrer Mutter ausbittet.«
»Herrlich!« jubelte der Knabe, und seine Augen glänzten.
»Dir werd ich einen schönen Christbaum vorrichten, und wenn du sehr brav bist . . .«
»Am Ende . . . die neue Uniform!«
»Wer weiß, wer weiß –« lächelte die kleine Frau.
»Herzensmütterchen!« rief der junge Held und scheute sich nicht, mitten auf dem Promenadenweg Frau Dumont stürmisch zu küssen, – »du bist so gut! . . . .«
»Sei nur fein brav, Pierre!« sagte die Mutter ernst.
»Und wie! Lernen will ich . . . .
»Mathematik, weißt du, das geht dir schwer!«
»Es wird Alles ganz trefflich werden, du wirst sehen.«
»Und daß du dich nicht verkühlst, jetzt kommt die kältere Jahreszeit, – zieh dich nur immer warm an. – Nachts steck dir die Decke wohl ein, damit du dich nicht abdeckst!«
»Ohne Sorge, ohne Sorge!« Und Pierre begann wieder von den Begebnissen des Urlaubs zu reden. Da gabs so viel des Drolligen und Spaßhaften, daß beide, Mutter und Sohn, herzhaft lachten . . . Plötzlich fuhr er zusammen. Vom Kirchturm wogten volle Glockentöne.
»Sie läuten sechs«, sagte er und versuchte zu lächeln.
»Komm zum Zuckerbäcker.«
»Ja, dort gibt es die guten Cremerollen. Zum letzten Mal aß ich sie, als wir den Ausflug machten mit Julie . . .«
Pierre saß auf dem dünnbeinigen Rohrstühlchen im Gewölbe des Bäckers und kaute mit runden Backen. – Er hatte eigentlich schon genug, und nach manchem Bissen mußte er tief Atem holen; – aber es war ja zum letzten Mal – und er aß fort.
»Es freut mich, daß es dir schmeckt, Kind«, sagte Frau Dumont, die an einer Tasse Kaffee nippte.
Pierre aber aß fort. –
Einmal schlugs vom Turm. »Halb sieben«, murmelte der Urlauber und seufzte. Der Magen war ihm furchtbar schwer. – Nun, sie würden ja jetzt noch gehen . . .
Und sie gingen. – Der Augustabend war lau, und ein wohltuendes Lüftchen strich in den Bäumen der Allee.
»Ist dir nicht kühl, Mutter?« fragte der Kleine gedankenlos.
»Mach dir keine Sorgen, Liebling.«
»Was wird denn Belly machen?« Belly war ein kleiner Rattler.
»Ich hab ihn der Magd anbefohlen, sie gibt ihm sein gewöhnliches Fressen und führt ihn spazieren . . .«
»Sag dem Belly, ich laß ihn grüßen, – er soll schön brav sein . . .« Er versuchte zu scherzen, aber er brach jäh ab. –
»Hast du Alles beisammen, Pierre?« Fern tauchte schon die eintönige graue Front der Kaserne auf. »Dein Certificat?«
»Alles, Mutter!«
»Mußt du dich noch melden heute?«
»Ja, gleich.«
»Und morgen hast du wieder Schule?«
»Ja!«
»Und du schreibst mir?«
»Du auch, Mamachen – bitte! – Gleich wie du ankommst.«
»Natürlich, liebes Kind.«
»Ich glaube, der Brief dauert doch immer zwei Tage.«
Die Mutter konnte nicht reden; es schnürte ihr die Kehle. Jetzt waren sie dicht am Portal!
»Dank dir, Mama, für den schönen Tag.« Dem armen Kleinen war elend zu Mute; offenbar hatte er zu viel gegessen. Er hatte heftige Magenschmerzen, und die Füße zitterten ihm. –
»Du bist blaß –« sagte Frau Dumont.
»Nicht doch.« Das war eine arge Lüge, er wußte es.
Wie es ihm zu Kopf stieg! Er konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Mir ist wirklich . . . . . .« Da schlug es sieben!
Sie lagen sich beide in den Armen und weinten.
»Mein Kind!« schluchzte die arme Frau.
»Mama, ich bin ja in hundertzwanzig Tagen . . .«
»Sei brav, bleib gesund . . . . .« und mit zitternder Hand machte sie dem Kleinen das Kreuzeszeichen. . . .
Pierre aber riß sich los: »– Ich muß laufen, Mutter, sonst bekomm ich Strafe«, stammelte er, ». . . und schreib mir, Mutter, und Julie, weißt du, und Belly –«
Noch ein Kuß, und fort war er.
»Mit Gott!« – Er vernahm es nicht mehr. –
Am Tore schaute er sich noch einmal um. Er sah die kleine schwarze Gestalt dort zwischen den verdämmernden Bäumen – und schluckte hastig die Tränen hinunter. . . .
Aber es war ihm doch sehr schlecht.
Er taumelte in den breiten Flur hinein. . . . er war so müde. . . .
»Dumont!« rief eine brutale Stimme.
Der Unteroffizier von der Torwache stand vor ihm.
»Dumont! Zum Teufel, wissen Sie nicht, daß Sie sich zu melden haben? . . .«