Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Die Letzten

(1898/99)

Der Tag wird immer verlegen in der kleinen Mietswohnung, in welcher so schwere, unverständliche Möbel stehen. Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiß, daß das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und Schränken und Bildern sich erhält, und daß die engen Stuben, drei Treppen hoch, schuldlos sind an dieser fremden Vergangenheit, wie Menschen, deren Gesicht von irgend einem Vorfahr den Namen eines Gefühls geerbt hat, das sie mit ihren eigenen schwächeren Herzen gar nicht zu tragen vermöchten.

Die beiden Fenster führen den roten Abend herein, der über die Dächer kommt und leise zu den wartenden Dingen tritt, welche ihn schweigend empfangen. Am freudigsten nimmt ihn die schmale, mit Säulen geschmückte Kommode auf, die wie ein kleiner Altar ist: mit all dem Silber und Glas auf ihr lächelt sie ihm zu.

Marie Holzer steht gerade vor dieser Kommode. Sie hält von den kleinen Miniaturen, welche da neben den massiven Armleuchtern aufgestellt sind, eine nach der anderen in den Abend und betrachtet jede aufmerksam. Dabei ist ihr junges, helles Gesicht ernst und nachdenklich. Für eine Weile wendet sie es einer Dame in Schwarz zu, die, nah bei ihr, auf dem Fensterplatze sitzt und vor sich hinsieht, ohne daß ihre großen Augen etwas halten. Und so kann Marie Holzer sie ruhig anschauen, als wäre auch das ein Bild: dieses Gesicht, dem man kein Alter zu geben wagt, obwohl es nicht jung ist, diesen feinen Mund, der, von wehen Erinnerungen bewegt, ein unsichtbares Leiden überwindet, und dieses Haar, von dem man zu wissen glaubt, daß es schwer ist. Und vor allem die Vornehmheit dieser zarten, stillen Gestalt, die geduldige Ruhe dieser schwarzen Schultern, auf denen das schlichte Nutzkleid wie eine Würde liegt.

Jetzt erhebt die schlanke Uhr, die fast verheimlicht zwischen den Fenstern steht, ihre zitternde Stimme und sagt feierlich sechs Schläge, von denen sie jeden anders betont; Marie Holzer läßt sie ganz ausreden und wartet auch noch das Geräusch ab, mit welchem die geteilte Stille sich hinter dem letzten Schlage wieder schließt. Dann sagt sie: »Merkwürdig.« Und nimmt wieder ein Bild von der Kommode und wiederholt: »Merkwürdig.« Da erschrickt die Frau am Fenster: »Sie haben etwas gesagt, Marie?« Das Mädchen stellt zuerst die Miniatur wieder an die alte Stelle, ehe es antwortet. »Gesagt? – Eigentlich nicht. Es ist nur so seltsam.« Die Dame sieht flüchtig über den Abendhimmel hin und fragt leise: »Was denn, Kind?«

»Daß man hier bei Ihnen immer so anders wird. So eigentümlich fromm. Man ist immer wie zum allererstenmal hier. Man kann das Staunen nicht verlernen.« Pause. Sie biegt die Arme in jungmädchenhafter Art hoch zurück und bettet den Kopf hinein, wie man es wohl während eines leisen Traumes tun mag, den man tief, mit allen Sinnen genießt. Ihre Augen sind auch geschlossen, als sie fortfährt: »Und das giebt es hier, mitten in der Stadt, hoch in diesem lauten, alltäglichen Zinshaus, in dem nüchterne, unwichtige Menschen wohnen. Über ihnen ist dieses Seltsame. Sie tragen es gleichsam auf ihren Köpfen und ahnen nichts davon.« Sie läßt die Arme fallen. »Nein, sehen Sie, Frau Malcorn, daß es so etwas giebt! . . .«

»Aber was denn eigentlich, Kind?«

»Alles das: diese Bilder und diese Dinge und Sie, Frau Malcorn, und Harald – ja, auch Harald.«

Frau Malcorn schüttelt leise den Kopf. »Sind denn einsame Menschen so anders als –«

»Einsame Menschen? – Ja. Vielleicht. Aber das ist es nicht allein.« Marie Holzer geht zu dem anderen Fenster hin. Und dann: »Sie sind nicht einsam eigentlich. Sie leben unter vielen, bloß nicht unter uns, nicht unter uns Heutigen. – Sie haben so viel Bilder hier. Sie haben mir ja schon oft gesagt, wer alle diese Menschen waren. Diese traurigen Frauen alle und diese feierlichen Herren. Und ich weiß auch, daß sie längst gestorben sind. Manche vor zweihundert Jahren, manche noch früher. In Frieden gestorben, – aber – wissen Sie auch wirklich, daß das alles nur Bilder sind?«

Wie beunruhigt durch die leise Furcht, die diese Frage des Mädchens vor sich herjagt, steht Frau Malcorn auf und kommt zu Marie. Und während sie eine Hand auf Mariens Schulter legt, streichelt diese leise die andere Hand. »Sie sind so zart, so blaß. – Als ob viele Menschen von Ihrem Leben mitlebten.« Pause. »Alle diese . . .«

Man erkennt schon kaum mehr die furchtsame Bewegung, mit welcher Marie in das Zimmer weist. So dunkel ist es geworden. Und in das Schweigen wirft sich von draußen der Sturm.

Aber da beginnt Marie Holzer laut und in anderem Ton:

»Sie müssen sich schonen, Frau Malcorn. O, verzeihen Sie, wenn ich so spreche. Ich fühle mich manchmal älter – wie Ihre ältere Schwester.«

»Und sind doch so jung?« lächelt Frau Malcorn und küßt sie auf die Stirn.

»Ja, ich bin jung. Und ich bin dessen froh. Ich fühle so viel Kraft in mir. Ich möchte so vieles tun.« Und da ist eine Ungeduld in ihren Händen, als ob sie sie gleich an alles Werden legen wollte, das zu langsam geht.

Dabei erinnert sich Frau Malcorn: »Das hat Harald auch immer gesagt: Ich habe so viel Kraft in mir.«

»Das hat er! Das hat uns zusammengeführt! Zusammengetrieben! Dieses Gefühl von Kraft.« Und Marie erzählt atemlos: »Gleich damals, als ich ihn zum erstenmal sprechen gehört habe, in der Versammlung. Viele hatten vor ihm gesprochen. Ich weiß noch: es handelte sich um die Organisation eines Hilfsvereins zur Unterstützung der Arbeitsunfähigen, ihrer Frauen und Kinder. Die anderen hatten so trocken und von oben her die Sache erörtert. Man sah ihnen an, sie waren satt und kannten die Sorgen vom Hörensagen. Man war müde geworden dabei. – Da kam er! Wie ein Sturm war das. Wie ein Erwachen bei Feuerschein! Nicht mehr von der Versorgung dieser paar armen Menschen war die Rede. Als sollte Raum werden für ein neues Geschlecht, mitten unter uns, rücksichtslos.«

Marie Holzer holt tief Atem und macht eine Bewegung, als stellte sie etwas in das Dunkel, als Ziel für ihre hellen, seligen Augen. »O Frau Malcorn, ich sehe ihn immer so vor mir. Er war groß geworden, – groß. Und seine Stimme hing über den Unschlüssigen wie ein Schwert. ›Kleingläubige,‹ – rief er – ›Kleingläubige!‹ – Und da kam sein Glauben über mich. Dieser Glaube eines Kindes oder eines Märtyrers. Er hatte seine Hände erhoben, und es war, als hielte er etwas in den Saal hinein, was uns blendete. Unsere Schatten waren auf einmal schwer, fielen uns ab, und wir standen da; Licht von seinem Licht, Herz von seinem Herzen . . .«

Unter den allzugroßen Worten sucht Marie nach etwas Sagbarem, und merkt nicht, wie Frau Malcorn ihr horchendes Gesicht in den Händen verbirgt. Endlich erzählt sie weiter.

» . . . Und dann, als alle gingen, drängte ich mich durch. So, mit den Ellbogen, mit den Fäusten, wie's kam. Ich hätte den gewürgt, der mich gehalten hätte. Zu ihm. Er sah gar nicht müde aus. Nur ruhiger, dunkler. Ich konnte nichts sagen, nicht eine Silbe. Ich hatte Weinen im Hals. Mich schwindelte. Ich griff nach ihm, ins Unbestimmte. Er nahm meine Hand und wärmte sie in seinen beiden. Und hielt sie. Und fragte: ›Du willst mir helfen?‹ Da hab ich mit einemmal weinen können; nie früher hab ich's gekonnt, – auch nicht, als meine Mutter starb. Aber damals. – Und es war so gut!«

Hier unterbricht sie ein heftiges Schluchzen. Sie wird fast mütterlich, als sie zu der Weinenden tritt, leise den Arm um ihre zuckenden Schultern legt und bittet: »Aber! – Das ist doch eine Freude, Frau Malcorn, nicht?«

Sie fühlt, daß die andere eine bejahende Bewegung macht. »Also, sehen Sie . . .«

»Aber auch eine Angst.« Und Frau Malcorn beschwichtigt ihre Tränen.

»Wie?«

»Er war nie so früher. Er war früher viel bei mir . . . Früher war er gern zu Hause . . .«

»Ja sehen Sie –« sagt Marie rasch mit ihrer breiteren Stimme – »da müssen Sie schon freigebig sein. Er hat Reichtum für viele. Alle brauchen etwas von ihm. Er ist die Seele von allem. Begreifen Sie das?«

»Ja«, sagt Frau Malcorn, wie gestrafte Kinder ja sagen.

»Er ist reicher als wir alle. Er nimmt Ihnen nichts fort, auch wenn er hundert andere beschenkt. Fühlen Sie das?«

Dasselbe Ja.

»Er ist ein König . . .«

»Aber er meidet mich.« Und trotz Mariens abwehrender Geste beharrte sie, die zarte Frau. »Ja, ja, ja, er meidet mich, Marie. Mich und die Stube hier und überhaupt . . .«

»Aber, liebe . . .«

Frau Malcorn drückt das Gesicht an die starke, bewegte Brust des Mädchens und klagt, wie vor sich selbst beschämt: »O, warum haßt er mich?«

»Um Gotteswillen, Frau Malcorn, Sie versündigen sich ja! Wissen Sie, wie Harald von Ihnen spricht? –

»Wie von einem Traum. Wie von einem Märchen, von dem schönsten Märchen, das man als Kind gehört hat und das man wiederfindet in jedem Schönen, immer und immer.« Ganz weich ist Mariens Stimme jetzt, ganz sanft.

»Wirklich?« Zaghaft hebt Frau Malcorn die verweinten Augen.

»Wie von einem Kleinod, das man am sichersten Platz verwahrt hält, – wie von einem Feiertag.«

»O, mehr, mehr!«

»Ich hab Sie doch schon so lieb gehabt, Frau Malcorn, lang ehe mich Harald zu Ihnen führte. Lang bevor ich Sie kannte. Woher sollte mir das gekommen sein?«

Ungeduldig und glücklich, bittet die zarte Frau: »Was hat er Ihnen von mir erzählt?«

»O, alles. Von seiner Kindheit. Wie die Tage waren. Und was Sie ihm am Abend vorlasen. Und welches Kleid Sie in die Kirche trugen . . .«

»Das schwarze mit dem Spitzeneinsatz, – ja?«

»Eben das. Oft unterwegs begann er davon zu sprechen. So, unvermittelt. Und seine Stimme war ganz anders dann, wärmer . . .«

»Nicht wahr? Seine Stimme kann seltsam werden? . . .«

»Ja. So, als ob sie weit her käme . . .« Pause.

»Sehen Sie, Marie, einmal war Harald so wie diese Stimme . . . Eh das ihn erfaßte, das Fremde, Neue, Unruhige, das ich nicht begreife . . .«

»Eh er ein Mann wurde, Frau Malcorn; eh er einen Beruf auf sich nahm, eine Pflicht, – eh er ins Leben sprang, Frau Malcorn.«

»Ja,« nickt Frau Malcorn traurig – »ins Leben . . .«

»O, fürchten Sie nicht für ihn! Er ist einer, der es über sich hat, das Leben. Es ist keine Gefahr für ihn. Er hat es umgenommen wie einen Mantel, wie einen Purpurmantel . . .«

»Das Leben?« fragt die andere befremdet.

»Das moderne Leben, ja. Dieses ungestüme, stündliche Werden. Diese Hast eines Frühlingssturmes: alle Himmel über Einem Tag. O, Sie glauben gar nicht, wie lieb man es hat, wenn man erst mitten drin steht. Wie man sich eins fühlt mit ihm . . .«

»Wissen Sie das durch sich selbst, Marie?«

»Ja, Frau Malcorn. Ich gehöre ihm ja ganz. Das Schicksal hat mich so mittenhinein geworfen. Zeitig schon, als meine Mutter starb. Das Schicksal und – die Sehnsucht . . .«

»Sehnsucht, wonach?«

»Nach Macht.«

»Macht?«

»Ja, über sich und – über das Leid.«

Pause. »Sie haben Ihre Mutter lieb gehabt?«

»O ja. Aber wir waren sehr arm. Wir haben nie Zeit gehabt, es uns zu sagen. – Ich glaube, sie hat es nie gewußt.«

Pause. Und Marie Holzer fühlt eine Bangigkeit kommen. Und sagt rasch, wie jemand, der sich versprochen hat, nie traurig zu sein: »Aber wollen wir nicht die Lampe anzünden?«

»Ja, bitte, Marie. Übrigens sollte doch Harald schon zurück sein!«

»O, Sie wissen ja, wie das geht.«

»Aber es ist halb sieben?«

Marie hat hinten auf der Kommode die Lampe angezündet und bringt sie zum Sofatisch, wo man abends zu sitzen pflegt.

»Er wird jemanden getroffen haben«, beruhigt sie, und ihr Gesicht, das sich über die Lampe neigt, beweist, daß sie nicht besorgt ist. »Oder er holt sich noch irgend etwas aus der Bibliothek.« Sie ist froh, noch eine Erklärung seines Ausbleibens gefunden zu haben.

Aber Frau Malcorn versteht es anders: »Diese Bücher –« klagt sie – »diese vielen großen Bücher!«

Marie lacht. »Ja, das ist seine alte Leidenschaft.«

»Und er liest so lange. Jede Nacht bis eins oder zwei.«

»Er lebt zwei Leben. Eines nach vorn und eines tief zurück in die Vergangenheit. Das macht ihn so, – so breit . . .«

Frau Malcorn, die noch immer nicht in den Kreis der Lampe kommt, steht irgendwo im Dunkel, unter den Dingen. Sie scheint die letzte Erklärung nicht gehört zu haben. »Ich schleiche oft bis zur Tür und schaue durch die Spalte: immer noch Licht. Ich wage nicht zu rufen. Aber ich horche immer . . .«

»Ja, ja, er liest gern laut«, sagt Marie oberflächlich, zieht die Fenster-Vorhänge zu und vollendet damit den Abend. Und der Kreis der Lampe wird ruhig und rund.

Aber da flüstert Frau Malcorn, als ob das ein Geheimnis wäre: »Er hustet.«

»Na –« macht die Holzer, »– das Wetter ist auch danach.«

»Nein, nicht so. Schon lange und so, so fürchterlich tief . . .«

Da ist auch Marie erschrocken, ohne Fassung. Nur einen Augenblick freilich. Dann schüttelt sie's ab. »Sie sind aber auch, Frau Malcorn! Immer gleich alles von der schwärzesten Seite sehen.« Sie sieht ein, daß man schnell etwas Scherzhaftes sagen muß, um jeden Preis. »Wenn Sie nur mal reden müßten, so vor fünf-, sechshundert Menschen im heißen, dunstigen Saal und zwei, drei Stunden lang . . .«

Frau Malcorn wagt sich ins Licht. »Meinen Sie wirklich, Marie?«

»Aber natürlich, Frau Malcorn. Denken Sie nur. Aber damit Sie ganz beruhigt sein können, will ich ihn überreden, mal zum Arzt zu gehen.«

»Wie gut –«

»Ja, zu Ihrer Beruhigung. Es wird kein leichtes Stück sein bei ihm. Weiß Gott! Er gönnt sich so ungern für sich selber Zeit. Aber ich glaube, ich kann schon etwas wagen bei ihm.«

»Er tut alles, was Sie wollen, Marie . . .«

»O – wir sind gute Kameraden. Da gleicht sich das aus. Im übrigen, er ist ja so weit über mir in allem.« Pause. »Ich bin oft ganz bange deshalb.«

»Bange?«

»Er fühlt alles so! Oft wenn wir unter Menschen sind: Ein Wort, ein Blick, eine Bewegung irgendwo. Ich merke es kaum, aber ich sehe an ihm sofort: es ist etwas geschehen. Dieses Wort, dieser Blick, diese Gebärde, war ein Ereignis, etwas Entscheidendes . . .«

»Wie meinen Sie das, Marie?«

»Nun, das ist ja selbstverständlich. Er ist reif. Er hat jahrhundertelange Entwicklungen hinter sich. Unter ihm sind Feldherren, Bischöfe, – Könige vielleicht sogar. Immer einer auf den Schultern des andern. Und ganz zuhöchst: Er, Harald. Und alle leisesten Schwankungen dieser breiten Basis sind in ihm sichtbar . . .«

Dann spricht Marie Holzer von sich, ganz anders im Ton, fast grob: »Mein Großvater war Bauer . . .« Und nun vergißt sie alle Ehrfurcht und fährt fort, trotzdem die Uhr siebenmal schlägt. Hastig, als ob sie erst froh sein könnte, sobald alles gesagt ist.

»Ich bin so von gestern. Ich bin der Erde näher, dem Lehm, mein' ich, dem Rohstoff. Ich bin jünger, jünger in der Kultur. Ich habe Gesundheit und Kraft. Aber meine Gesundheit prahlt. Meine Kraft ist protzig und voll Eigennutz; sie will hinauf, sie muß erst noch hinauf. Ja, ja, das ist es. Harald kann anderen helfen. Er kann es wirklich: andere heben. Er ist oben. Er war immer oben. Seine Hilfe ist reif, mühelos, schön . . .«

Aber Frau Malcorn steht rasch auf und geht hastig an Marie vorbei und an allen Worten. Schon seit einer Weile weiß sie, daß Harald kommt. Und nun hört auch Marie seine nahen Schritte.

»Guten Abend, Mama. Es ist wohl spät? Guten Abend, Marie. Ihr habt wohl schon gewartet? Ja, es gab da wieder eine Menge unvorhergesehener Dinge . . .«

Alles das sagt Harald rasch, und seine Stimme schwankt im Laufen. Er hebt sich aus der dunklen Umarmung der Mutter und reicht Marie eine Ledermappe zu. »Nimm, Marie. Wir müssen das dann durchsehen, heute noch. Es handelt sich um die Eingaben – nun, du wirst ja sehen. . . .«

Plötzlich bemerkt Harald, daß er steht und es sich gefallen läßt, daß seine Mutter den nassen Mantel von seinen Schultern nimmt. Er macht eine erschreckte Bewegung, als ob er ihre feinen Hände schützen wollte.

»Es regnet?« fragt Frau Malcorn besorgt.

»Nebel ist, greulicher, dicker Nebel. Man sieht nicht drei Schritte vor sich. Das legt sich so in die Kleider und auf die Lunge. Wenn nur erst die Herbsttage wieder vorüber wären.«

Marie Holzer hat inzwischen den Inhalt der Mappe flüchtig durchgesehen. Sie wendet ihre ruhigen, klugen Augen zu Harald.

»Hast du heute gesprochen?«

»Ja, im Studentenverein.«

»Nun – und? . . .«

»Was?«

»Wie wars?«

Harald sieht auf seine fröstelnden Hände. »Na, wie immer, du weißt ja. Bist du schon lange hier?«

Frau Malcorn beeilt sich teilzunehmen. »Ich war so froh, sie hier zu haben. Mir war schon bange nach dir, Harald.«

»Ja, Mama, du weißt ja: ich bin nicht Herr meiner Zeit.« Haralds Stimme und seine Bewegungen haben noch die Maße des Saales, und es fällt ihm schwer, sie an die kleine Stube zu gewöhnen. Deshalb wendet er sich an Marie. »Aber, wollen wir das nicht gleich durchsehen? . . .«

Die Holzer bemerkt die Enttäuschung von Haralds Mutter und versucht ihn zurückzuhalten. »Nein, Harald, jetzt will ich dich erst mal wiedersehen, weißt du. Wenn du deine Augen erst wieder in diese schrecklichen Papiere steckst, sind sie mir ja doch für heute verloren. Und ich hab doch auch ein Recht auf sie – nicht?«

»Ja, ja, Marie,« und Harald ist es, als ob man etwas ausgedacht hätte, um ihn zu quälen. »Ihr habt alle ein Recht auf mich, ich weiß. Alle, – alle, alle . . .«

Frau Malcorn ist sehr erschrocken. »Komm, setz dich da an den Ofen, du mußt ganz durchgekältet sein.«

»Ja, ja, an den Ofen, immer sich an den Ofen setzen, hinter den Ofen womöglich . . .« Aber plötzlich tritt Harald auf die Mutter zu, ganz beschämt. »Mama, verzeih mir . . . Du siehst, es steckt wieder mal so ein boshafter Ärger in mir, der noch nicht herauskam. Marie weiß, das hat nichts zu bedeuten, nicht wahr? Das kommt schon so mit. Und hier soll er mir, weiß Gott, nicht heraus, hier nicht!« Er führt Frau Malcorn sanft zu ihrem Lieblingsplatz bei der Lampe, und seine Stimme findet eine ungeahnte Zärtlichkeit. »Du hast ganz rote Augen, Mama. Wahrhaftig, deine Augen sind ganz rot! Hast du mir auch nicht zu viel gearbeitet? Was? – Dieses schreckliche Rot in deinem Stickmuster . . . Ja, muß es denn gerade dieses Rot sein, dieses blutige? – Was wird es denn überhaupt?«

Frau Malcorn kann so viel Glück gar nicht glauben. »Ein Tischläufer –«, sagt sie leise, mit vor Rührung zitternder Stimme.

»Soso« macht Harald, schon wieder weit, von ganz Fremdem erfüllt, und wendet sich an Marie. »Es ist nämlich wichtig, daß wir die Sache heute noch erledigen. Es kommt jetzt so viel. Als ob es auch in den Herzen nicht Tag würde jetzt, – wie draußen. So viel Elend überall. Physisches Elend, Not, Armut, Krankheit; – geistiges Elend, Dünkel, Vorurteil und Eigennutz. Und zu allem: Das Beharren darin, die Trägheit. Die fürchterliche, dumpfe, unheilbare Trägheit! Dieses große Joch des Gestern, in dem sie alle gehen. Sie haben ihre Leiden und ihre Freuden. Unbedeutende, gehässige Schmerzen und ein banges, falsches, ängstliches Glück. Aber sie bleiben dabei. Versuchs, sie heraus zu heben: sie wehren sich. Und reißt du sie einfach los von ihrer armseligen Gewohnheit, – so sind sie wie Ausgestoßene und wollen zurück in die Pesthütte ihrer Vergangenheit. Alles umsonst.« Und nach einer ratlosen Pause: »Und dabei hat man doch diesen ehrlichen Willen, diese ehrfürchtige Kraft, die nicht herrschen will, die bereit ist zu dienen und die kleinste, geringste Arbeit nicht scheut, wenn sie nur auf dem Wege nach vorwärts liegt. – Du weißt doch, Marie, wie gut, wie gerne ich überzeugt bin vom Ziel, nicht wahr? Du weißt doch, aus welcher Tiefe mir das alles kommt? Du hasts ja selbst einmal empfunden, nicht?«

»Lieber, ich empfind es jeden Tag wieder!«

»Und du glaubst an mich?«

»Wie an die Sonne.«

Da hält Harald ihr dankbar die Hand hin und fragt: »Heißt das: Blüten oder Früchte glauben?«

»Beides. Eines nach dem andern, Harald.«

»Eines nach dem andern? . . . Das braucht Zeit, Marie, viel Zeit . . .«

»Wir sind jung.«

». . . und Geduld . . .«

»Die hast du.«

»Weißt du das so bestimmt?«

»Weil du die Liebe hast, Harald.«

Beide schweigen. Bis Harald, wie erleichtert, aufatmet: »Dank dir.« Und gleich darauf versucht er wieder froh zu sein. »So . . . du, . . . Mama, – sag, darf ich mir mal den Läufer ansehen; deine Arbeit?«

Frau Malcorn will es lächelnd verwehren. Aber nun wird der Läufer geholt und unter der Lampe langsam aufgerollt. »O o « macht Harald, noch ehe er die Stickerei ganz geöffnet hat, »schau, Marie, da reden wir so viel und reden, aber wenn wir zeigen sollten, was wir gemacht haben – hm? da würden wir wohl in Verlegenheit kommen! Und das Mütterchen macht so etwas ganz in der Stille, ohne ein Wort, – etwas so Prächtiges. Und das wird nur ein Läufer. Nur ein Läufer. Wie man sich doch irren kann! Das hätt ich nun für . . . für irgend etwas viel Festlicheres gehalten.«

Marie ist neugierig: »Zum Beispiel?«

»O für . . . für ein Kleid . . .«

»Kleid!« lacht die Holzer ausgelassen. »Trägt man bei dir solche Kleider?« Harald schaut auf. »Bei mir? Bei mir? Wie merkwürdig das klingt: bei mir. Ich glaube es ist zum erstenmal, daß ich diese Worte nebeneinander ausspreche. Wie eine Erfindung ist das. Und doch so einfach. Eben wie alle Erfindungen . . . Bei Gott, – bei den Menschen, bei – dir, – bei . . . und nun, ganz analog konstruiert: bei mir, . . . bei mir. – Ja, aber was wollte ich doch? . . . Wovon sprachen wir?« Und er erinnert sich seiner Zärtlichkeit. »Ja – und wozu stickst du denn diesen Läufer, Mama? Wollen wir ein Fest geben?« Traurig sieht Frau Malcorn ihn an. Aber Marie Holzer weiß Rat. »Gott, man feiert eben mal irgend was. Man kann alles feiern. Den ersten Frühlingstag und den ersten Schnee. Na, und wenn sonst nichts zu finden ist, feiert man eben den Läufer selbst, wenn er fertig ist, nicht?«

Aber die andern scheinen ihren lustigen Vorschlag gar nicht gehört zu haben, so ernst und still sind sie beisammen. Und Harald fragt nur, aus Gedanken heraus: »Das dauert wohl lang, so eine Decke zu vollenden? –«

»Wenn man fleißig ist . . .«, seufzt Frau Malcorn. Aber Harald geht in seinen Gedanken weiter. »Ich« – lächelt er – »würde gewiß nie ganz fertig werden damit. Ich würde sitzen und sticken, und lauter recht dunkeltiefe Farben haben, in denen man so verloren geht. Und immer weiter wandern durch den Kanevas. Immer ins Dunklere hinein, wie in einen Wald – und nie das Ziel finden . . . Ich würde mich fürchten, zu Ende zu kommen!«

Jetzt ist Harald weit fort von den beiden Menschen, die ihm erstaunt und besorgt zuhören; sie verstehen ihn nicht mehr. Er aber geht immer mehr weg von ihnen. Über die geschlossenen Augen hebt er seine Arme.

». . . Und doch: ich habe solche Sehnsucht nach Festen, nach einer einzigen ungemeinen Stunde! Nach Rot und Rosen, nach Duft und Gold, nach Glanz, nach unerhörtem Glanz! Man müßte erblinden davon, nichts mehr sehen hernach, – nie mehr. Aber wissen: es war. Und das Gefühl haben von einer namenlosen Verschwendung.

Es kommt manchmal über mich, die Menschen fortzuschicken: ›Geht alle nach Haus, legt eure besten Kleider an, nehmt alles, was ihr in den Truhen habt, von den Großeltern her, die lau duftenden Tücher, und die schweren, verschlungenen Broschen, die wie goldene Knoten sind. Und die Blumen, die ihr in den Töpfen vor den Fenstern zieht, gebraucht sie einmal! Gebt sie euren Kindern in die Hände, damit sie lächeln lernen. Und dann – kommt wieder! Kommt alle wieder!‹« Aber Haralds Hände fallen mutlos aus seiner schönen träumerischen Willkommengebärde, und er fährt mit müder, enttäuschter Stimme fort: »– und wenn sie wirklich wieder kämen, alle, in ihrer geschmacklosen Sonntagsmaskerade, mit den zu kurzen Hosen und den steifen, von Falten gebrochenen Shawlen, die nach Kampfer riechen, – dann . . . dann würden wir einander nichts zu sagen haben, und uns benehmen wie fremde Kinder, die plötzlich miteinander spielen sollen . . .«

Pause.

Und da er nichts hinzufügt, schwärmt Marie Holzer, die im Schweigen keine Übung hat: »Du sprichst erst wie ein König und dann – wie ein Dichter . . .« »Und bin – keines von beiden . . .« Harald ist aufgewacht. »Es gab ja wohl Könige in unserem Geschlecht, nicht wahr, Mama? – Die Sage geht. In langverlorener Zeit. Vor tausend Jahren vielleicht . . .«

Marie schließt die Augen, wie auf einem hohen geländerlosen Turm: »Tausend Jahre . . .«

»Ja; wenn du unseren Namen sagst, leise, – klingt noch der alte Name darin, dumpf, dunkel, wie die Glocken einer versunkenen Kirche . . .« Und Harald spricht weiter, wie mitten in einer Geschichte: ». . . Dann schlug eine große Welle über den Königsthron und riß den Letzten mit ins tiefe Vergessensein. Dort bleiben seine Enkel wohnen, Tal-Kinder. Aber viel später, im Mittelalter, kommt doch wieder einer von ihnen zu Macht und Land. Nicht wahr, Mama? In einem andern Reich zwar, mit verdunkeltem Namen und nur als kleiner, abhängiger König. Nach ihm bleiben sie eine Weile obenauf, und erscheinen nochmals in der Geschichte, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Aber schnell ermatten sie in kleinen Händeln und feindseligen Streitereien und lassen, ohnmächtig, den alten Namen los. Und er fällt, fällt lang bis auf die alten Heidenkönige zurück . . . Und ich – ich kam gerade in eine Namenlosigkeit hinein.« Niemand sagt etwas. Nur die Uhr spricht darüber, in ihrer milden altmodischen Art. Beim achten Schlag erinnert sich Harald an etwas.

»Wie ein Dichter . . . Wer hat das gesagt? Du, Marie? – Aber du bist nicht die erste! Lang vor dir hats eine Stimme ausgesprochen, tief in mir: Dichter! – Ich kann nichts dafür. Weißt du, es war dort, wo man nicht hinreicht. In jenem Dunkel, wo ein anderer Macht hat, war es – . . . Künstler sein, jung sein! Als ob das dasselbe wäre – nicht?« Und plötzlich durchbricht es seinen Willen: »Möchtet ihr, daß ich ein Künstler wäre?« Pause. »Sag, Mama?«

»Bliebst du dann bei mir, zu Hause?«

»Wer weiß. Ich kann nicht davon reden. Vielleicht. Vielleicht hat man dann alles in sich. Vielleicht giebt es dann nichts, was man nicht in sich hat. Vielleicht . . . Möchtest du's, Marie?«

»Daß du ein Künstler wärst? Ich glaube, du bists, Harald.«

»Du irrst dich, Kind. Gewiß! Du siehst das alles zu licht. Du hast so viel Licht in dir für alles. Ich bin es nicht. – Ich hätte es sein können vielleicht. Ich hätte es – bleiben können, obwohl ich es noch nie war. – Es ist zu spät.« Und ganz erregt tritt er auf Marie zu:

»Du sagtest früher, ich habe die Liebe, Marie. Ja, – hab ich sie denn? Hab ich sie nicht vergeudet, ausgestreut mit vollen Händen? Ist das nicht mein Leben gewesen, sie zu verschwenden, seit zwei, seit drei Jahren, bis zu diesem Augenblick? Kann ich über sie verfügen, da Hunderte sich daran halten? Und wenn ich sie zurück begehre von ihnen, – was soll ich tun mit dieser Liebe, die die Spuren von hundert krampfhaften Händen trägt, die abgenutzt, alt, welk geworden ist? Und das nicht hinter ihrem Sommer etwa. O nein! Ich habe sie gar nicht reif werden lassen; ich habe den Hungernden diese grünen Früchte zugeworfen: Da! da! da! . . . und sie konnten doch nicht satt und nicht gesund werden davon!

Warum kamst du mir damals die Hand reichen, Marie? Damals war es noch Zeit. Damals hätt ich noch retten können und – sparen.

Ich will dich nicht anklagen – nein! Nur ›Künstler‹ darfst du mich nicht nennen. Das ist wie ein Hohn, wenn du das tust . . .« Und da beginnt er leise zu husten, so daß Frau Malcorns Augen starr und bange werden; aber Marie Holzer achtet jetzt nicht darauf. Sie fühlt die Verpflichtung zu antworten.

»Du bist erregt, Harald. Du hast kein Recht, so zu reden. Du bist durch Siege gegangen! Du darfst nicht wankelmütig werden! Du hast gewußt, was du willst. Muß ich dich daran erinnern?« Sie läßt sich von Haralds abwehrender Bewegung nichts befehlen. »Ich danke dir alles, auch meine Zuversicht. Du hast sie mir gegeben. Sie ist mein Besitz. Und wenn du sie wieder willst, – nicht ohne Kampf!«

Harald fühlt den Husten kommen, und so sagt er nur rasch und hart:

»Du machst so große Worte, Marie.«

»Es sind deine eigenen, die ich dir wiedergebe – alle, auch dieses: Kleingläubiger! Kannst du deinen Sommer nicht abwarten? Nicht halbreife Früchte, – Samen hast du ausgestreut an hundert Stellen, und also mußt du warten auf hundert Ernten.«

Die Holzer erwartet eine Antwort, eine, die alles wieder gut macht. Aber Harald nickt nur, es scheint ihm so gleichgültig jetzt. Und dann fürchtet er den Husten, der kommt. Und seine Mutter sieht ihn immerfort an.

Da nimmt Marie noch einmal alle Kraft zusammen, und ihre Worte sind warm und unbefangen. »Hab Mut, Harald! Du bist ungerecht. Denk! Einmal hast du gesagt, wörtlich: ›Ich möchte wohl Künstler sein, aber noch ist es nicht Zeit für die Kunst‹ . . .«

»Hab ich das . . .? Verzeih also.« Es klingt fast spöttisch.

Aber Marie Holzer giebt nicht nach: »Ist nicht ein helfendes Leben ein zehnfaches? Haben wir nicht eine sehr stolze Pflicht? Macht uns das nicht reich? Wissen wir nicht unsern Weg, Harald? – Sind wir nicht Sieger? Harald, glaubst du an uns?«

Er muß doch die Hand sehen, die Marie Holzer ihm hinstreckt. Aber trotzdem geht er vorbei, geht auf die Mutter zu, die ihn bange erwartet, und sagt langsam im Gehen: »Ich – bin – müde . . .«

Und die Holzer sieht, wie er sich in den Lehnstuhl fallen läßt und wie die zarte Frau, die sich zu ihm niederbeugt, ihn ganz verdeckt. Und sie sagt nichts weiter; man hätte es auch nicht gehört, denn Harald hustet sehr laut. –

* * *

Wie traurig muß es für die sein, die im Winter gesund waren, – wenn der Frühling kommt. Wie können sie ihn verstehen, wenn sie nicht zugleich Genesende sind? – denkt Harald, und er sieht immerfort den Himmeln zu, die, abwechselnd wolkig und klar, an den Fenstern vorüberjagen, hoch über dem Nachmittag des Vorfrühlings. Er schaut nicht mit den strahlenden Augen allein, er schaut mit seinem ganzen Gesichte, in welchem nichts Verheimlichtes ist. Nur unter dem Bart, der wild die Lippen überwuchert, steht ein kleines Lächeln und blüht, wartend, daß ein Wort es mit zu den Menschen nimmt. Aber Harald schweigt.

Sogar als Frau Malcorn eintritt, leise, wie man zu Kranken kommt, und fragt: »Schon allein? Marie ist schon fort?« nickt er nur, sagt aber dann unbestimmt: »Sieh mal.« Mit dem geübten Verständnis der Pflegerin wendet sich Frau Malcorn den Fenstern zu, bemerkt aber nichts. Und so erklärt Harald: »Die Wolken . . . Es ist ein wundersames Bild. Und ich habe es so lange nicht gesehen. Als Knabe manchmal und dann lange nicht mehr . . .« Und dann nach einer Weile beantwortet er auch die Frage der Mutter. »Marie müßte eigentlich nicht mehr kommen. Ich habe sie fortgeschickt. Ich wollte schlafen, hab ich ihr gesagt. Aber ich war bloß müde, – müde sie zu sehen. Müde – immer wieder diese alten Dinge zu hören. Ich meine, von denen da unten. Da war ich nun ein halbes Jahr nicht bei ihnen. Ein halbes Jahr! Und während dieser ganzen Zeit ist nichts geschehen, scheint es. Wenigstens was Marie erzählt . . .«

»Siehst du, sie können nichts anfangen ohne dich . . .«

»Du Gute. Sie können auch mit mir nichts anfangen. Und vor allem: ich kann nichts mit ihnen anfangen, wirklich.« Und er wendet sich wieder den Fenstern zu, als wäre jetzt nichts so wichtig wie dieser helle, bewegte Himmel. »Das hab ich früher alles nicht gesehen. Und es ist doch so viel! Ich weiß nicht, Mama, macht das das Kranksein, daß man so aufmerksam wird auf alles und so dankbar, – fast weise . . . So unwillkürlich weise, wie man als Kind ist? Man kann garnicht aus der Rolle fallen.« Pause, dann leise: »Glaubst du, daß es zu spät ist?«

Frau Malcorn richtet die Kissen, die über die Lehne des Sessels gelegt sind.

»Zu spät, Harald, wozu?«

»Zu beginnen. Noch einmal gleich hinter der Kindheit zu beginnen. Als ob diese drei Jahre da unten nichts gewesen wären. Oder, als ob sie eine lange Krankheit gewesen wären, aus welcher ich jetzt langsam zurückkomme . . .«

Er fühlt einen Kuß auf seiner Stirne und fragt: »Nicht zu spät?«

Frau Malcorn schüttelt den Kopf; dann kniet sie neben Harald nieder, und er legt ihr seine feinen, ausgeruhten Hände leicht aufs Haar und spricht: »Schwer wird es mir nicht fallen, glaub ich. Ich bin viel näher bei allem, was in der Kinderzeit liegt, als bei dem nachher. Alles weiß ich. Wenn du mich doch prüfen wolltest. Bis ganz zurück. Bis damals, da du ein Kleid trugst, ganz aus Spitzen, wie aus lauter solchen Wolken gemacht, – aus Frühlingswolken. Und – als du oft weintest . . . O ich weiß noch. Und als du kleine, leise Lieder spieltest in der Dämmerung, – kannst du sie noch?« Frau Malcorn senkt die Stirne tief, so daß Haralds Hände weitergleiten in ihrem Haar, von Stellen, die unter ihnen warm geworden sind, zu anderen, kühlen. Und wieder hört sie Haralds Stimme über sich. ». . . Freilich, das ist lang. Und doch, ich fühle genau, wie es war. Als ob ein Glänzen glitte durch die Dunkelstunde, ein Aufleuchten, ein letztes Lächeln der Dinge vor dem Einschlafen: so war dein Lied. Und einmal, als ich ganz leise zu dir trat (du hörtest mich garnicht kommen), da nanntest du mich . . . du nanntest mich damals . . . Jerôme . . . Seltsam: Jerôme . . . trotzdem ich Harald bin . . . und . . . der Vater . . . hieß auch Harald . . . aber du sagtest damals Jerôme zu mir trotzdem . . . Und das paßte so gut zu dem, was du spieltest . . . das war wie das Lied selbst . . . Siehst du wohl, was ich alles noch weiß?« Pause. Und dann steht Frau Malcorn auf und zwingt sich zu sagen: »Willst du mir etwas zuliebe tun, Harald?«

»Alles.«

»Laß uns nicht nach Skal gehen, – laß uns hier bleiben!«

Harald staunt über den flehentlichen Ton dieser Worte.

»Aber das sollte doch ohnehin nur auf deinen Wunsch geschehen?«

»Ja – siehst du – es ist ein großer alter Park beim Schloß und überhaupt . . . deshalb hab ich an den Onkel geschrieben, ob er uns nicht einladen möchte. Ich hoffte: dort würdest du dich rascher erholen, – aber –« Rasch fällt Harald ein: »Ich hätte dich wahrscheinlich um das gleiche gebeten, Mama. Heut oder morgen. Im Anfang schien es mir ja eine große Freude und Freiheit . . . Aber mir sind unsere Stuben hier doch lieber. Jetzt, weißt du, während der Krankheit, sind sie mir so lieb geworden. Und ich kenne sie eigentlich noch wenig. Ich war ja so selten zu Haus – früher, – damals . . . Natürlich: bleiben wir.«

Hilflos und gequält fängt Frau Malcorn wieder an: »Und du fragst garnicht, weshalb ich diesen Plan . . .?«

»Du wirst deine Gründe haben, Mütterchen . . . Und ich glaube beinahe, ich errate sie; ich kenne dich ja! Es widerstrebt dir, vom Onkel eine Gnade anzunehmen, – du Stolze . . .«

Aber gerade damit zwingt er Frau Malcorn zum Reden. Und blindlings, ganz außer sich vor Scham, wirft sie sich in die Worte: »Nein, Harald . . . ich kann nicht lügen . . . vor dir . . . ich muß es dir sagen . . . es ist nicht . . . nicht . . . aus Stolz, . . . aus . . . Furcht . . .«

»Furcht?«

»Ja. Vor der weißen Frau . . .«

Harald versteht noch garnicht: »Furcht? Vor Frau Walpurga? – Aber meine mutige kleine Mama und – Furcht?«

Frau Malcorn versucht zu lächeln. Doch am liebsten möchte sie dem Blicke ihres Sohnes entgehen. Sein Auge schaut so groß, und sie bleibt immer in seinem Kreis, seinem sanften Glanze erreichbar, wie sie auch unter den Dingen herumirrt. Endlich kauert sie sich vor den Ofen, als ob es dringend notwendig wäre, das Feuer zu erhalten. Und so, von dieser Zuflucht aus, knieend, das gesenkte Gesicht im heißen Schein der angefachten Glut, beginnt sie ein flüsterndes Gespräch.

»Erinnerst du dich der Sage von Frau Walpurga?«

»Ungefähr. Sie ist in verschiedenen Schlössern gesehen worden?«

»Ja, am häufigsten in Skal.«

»So? Immer drei Tage bevor jemand stirbt, nicht wahr?«

»Ja. Es heißt so.«

»Und nach der Chronik ist es ja auch fünf- oder sechsmal in Erfüllung gegangen. Wenn man aber bedenkt, daß Frau Walpurga um die Mitte des 16. Jahrhunderts blühte und sich seither nur fünf- oder sechsmal bemüht hat zu erscheinen, muß man annehmen, daß die meisten Malcorns ohne ihren Vorantritt gestorben sind – es sei denn, sie lebten noch? . . .«

»Und sonst weißt du nichts von ihr?«

»Einmal hab ich das alles gewußt, als Knabe, – als Kind . . . aber dann müßte ich's ja gerade jetzt, da ich die Kindheit wie gestern empfinde, wieder wissen . . . Wart mal: Sie war die Gemahlin des . . . des . . . Grafen (oder waren sie damals noch Freiherren? . . .), nein, ich glaube . . . wir wollen später doch nachschlagen, ob es richtig ist . . . und, im Falle ich recht habe, bitt ich mir eine Belohnung aus – ja?« Harald sucht in seinem Gedächtnis, und so fällt es ihm nicht auf, daß Frau Malcorn nicht scherzhaft erwidert auf die letzte Frage. Er richtet sich ein wenig im Stuhle auf und zitiert richtig und sicher die betreffende Stelle: »›Sigismund Ferdinand, erster österreichischer Graf von Malcorn, Herr auf Tschakathurn und Hallpach usw. Söhne: Ferdinand III., Apel, genannt der Lahme, Christoph. Christoph, nachmals Herr auf Sarnkirchen und Skal, vermählt mit Walpurga, Freiin von Indichar . . .‹ da haben wir's! Siehst du, du wirst sehen, es stimmt. Willst du weiter hören? Ich glaube, jetzt weiß ich Enkel und Enkelsöhne bis ins 18. Jahrhundert herein . . .«

»Nein, nein«, wehrt Frau Malcorn heiser.

»Na, ich denke auch, das genügt. Ich begreife überhaupt nicht, warum wir uns so gründlich mit Frau Walpurga beschäftigen. Wenn sie schon mal keine Ruhe hat . . .«

»Weißt du, weshalb?«

»Weshalb sie keine Ruhe hat? Offenbar wie alle ›weißen Frauen‹ der Welt: treulos, sündig, vom erzürnten Gemahl erstochen . . .«

»Treulos, sündig . . .«, wiederholt Frau Malcorn mit so unsicherer Stimme, daß Harald sich erstaunt umblickt. Sie ist jetzt wieder ganz nahe, hinter seinem Stuhl, so nahe, daß die Flügel ihrer Worte ihn streifen, als sie fragt: »Erinnerst du dich an deinen Vater, Harald?«

»Kaum. Er hatte einen dichten weißen Bart. Er war alt.«

Frau Malcorn möchte ihre Hand in Haralds Haar legen, aber sie hebt sie nur bis auf seine Schulter; denn ihre feine Hand ist schwer. Und in diesem Augenblick sagt Harald: »Seltsam wilde Hände hatte er . . .«

»Harald!« Es ist wie ein Schrei, aber Harald kann ihr Gesicht nicht sehen.

»Könntest du dir denken, Harald . . .?« hört er hinter sich, und weiter, in bangen, merkwürdig leeren Pausen – – »daß . . . dein . . . Vater . . . mich . . .« Da wendet Harald doch den Kopf. Frau Malcorn schaut über ihn fort in die beginnende Dämmerung und schreit fast: ». . . daß er getan hätte wie Graf Christoph? . . .«

Erst begreift Harald nicht. Dann langt er rasch nach ihrer Hand die eiskalt ist, und zieht sie sanft zu sich. Und da kniet sie auf einmal neben ihm und drückt ihr Weinen in seinen Schooß und hört über sich Haralds Stimme gehen, leise, ernst, beinahe feierlich: »Er war ein Greis. Ich hab ihn nicht geliebt.« Und da küßt sie seine erschrockenen, sich sanft wehrenden Hände. Harald aber ist schon bemüht, sie emporzuheben, und lächelt: »Siehst du, dazu bin ich noch zu schwach. Das geht noch nicht. Heben kann ich dich noch nicht.«

Dann, als sie leicht aufgestanden ist, lehnt er sich weit zurück, wie zu glücklichem Schlaf. Sein Gesicht ist unbewegt. Nur unter dem Kinn, auf dem gespannten, abgemagerten Halse fließt eine kleine Ader in springenden Wellen dem stillen Herzen zu.

Nach einer Weile holt er tief Atem, und Frau Malcorn fragt: »Ist dir gut?« Harald öffnet die Augen nicht: »Ja. Heute wird es am Ende gar nicht kommen – das Abendfieber . . .«

»Aber ruh nur jetzt . . .«

»Nicht – fortgehen –«

»Nein, ich bin immer da.«

Und in dem Schweigen, das dann folgt, vollzieht sich die Dämmerung. Die Dinge treten lautlos aus dem Glanz zurück, wie aus einer Kirche, deren Tore geschlossen werden. Sie kauern sich längs der Wände, wärmen sich eines am andern, und es geht ein Schläfern von ihnen aus, welches die Uhr am Pfeiler mühsam überwindet. Im letzten Augenblick, da die Stunde schon unerkannt vorüber will, ruft sie sie an, hastig und hell.

Das macht Harald wach.

». . . Bist du da?«

»Ja, Liebling. Brauchst du etwas?«

»Ich will nicht schlafen.«

»Doch, Harald, schlaf! Das giebt Kraft.«

»Mir ist zu gut zum Schlafen. Mir ist so gut. Wenn ich schlafe, vergesse ich es. Und ich möchte gern wissen, daß mir gut ist. – Wir wollen reden.« Jetzt erst rührt sich Harald. Die Augen bleiben im Schlaf, aber die Linke streckt er so nach der Seite hin und bittet: »Hand!« Und dann, als sein Wunsch erfüllt ist: »Das ist deine Hand . . . Wenn ich erblinden müßte, ich würde dich doch erkennen an dieser Hand . . . Ich muß also keine Angst haben, nicht einmal vor dem Blindwerden . . . nicht einmal – – – wenn . . . doch . . . dann muß ich sie ja loslassen . . .«

Frau Malcorn erschrickt, auch deshalb, weil sie sein ›dann‹ gleich versteht. Unwillkürlich zieht sie ihre Hand zurück.

»O –« macht Harald, als ob er etwas Gläsernes fallen gelassen hätte, und auf seinem Gesichte ist eine ängstliche Spannung, es aufklirren zu hören an dem harten Boden.

Aber schnell beschwichtigt Frau Malcorn seine Angst. »Ich bin ja da, Harald.« »Ja.« Und er läßt die Augen schlafen und spricht leise, wie um sie nicht aufzuwecken. »Es ist doch gut, daß ich krank geworden bin. Denk nur! Wenn ich nicht krank geworden wäre, das wäre so fort gegangen, da unten, immer und immer, bis . . . Aber jetzt . . . jetzt darf ich mein Leben wieder aufbauen ganz von Anfang . . . Kindheit? Hm. Mit der war ich zufrieden. War da jemand, der mir sie so schön gemacht hat, so märchenhaft schön! Du wirst . . . erraten . . . wer . . . Nicht gerade froh war sie, was man so froh nennt: voll von Gespielen und Festen. Ich war immer allein, oder doch allein mit dir. – Aber sie war so . . . tief. Ich kann ihren Anfang nicht erschauen. Es könnten Jahrtausende gewesen sein – Jahrtau . . . Und doch, dann ist es wieder wie ein einziger Tag, der noch immer nicht zu Ende ist und von dem ich träume, daß er nicht enden soll. Kannst du dir das denken?«

Er erwartet keine andere Antwort, als die Stille. Und nachdem er dieser eine Pause lang zugehört hat, fährt er fort: »Es muß schwer sein, sich das zu denken. Ich hätte es selbst kaum gekonnt vorher; aber jetzt scheint es mir ganz natürlich. Die Kindheit ist ein Land, ganz unabhängig von allem. Das einzige Land, in dem es Könige giebt. Warum in die Verbannung gehen? Warum nicht älter und reifer werden in diesem Lande? . . . Wozu sich gewöhnen an das, was andere glauben? Hat das etwa mehr Wahrheit, als was man glaubt im ersten starken Kindervertrauen? Ich kann mich noch erinnern . . . da hatte jedes Ding einen besonderen Sinn, und es gab unzählbar viele Dinge. Und keines war mehr im Werte als ein anderes. Gerechtigkeit war über ihnen. Jedes durfte einmal das Einzige scheinen, durfte Schicksal sein: ein Vogel, der in der Nacht geflogen kam, und nun, schwarz und ernst, auf meinem Lieblingsbaum saß; ein Sommerregen, der den Garten verwandelte, so daß alles Grün Dunkelheit und Glanz bekam; ein Buch, in dessen Blättern eine Blume lag. Gott weiß von wem, – ein Kieselstein von fremder deutsamer Gestalt, – das alles war so, als ob man viel mehr davon wüßte, als die Großen. Es schien, als könnte man glücklich werden und groß durch jedes Ding, aber auch, als könnte man an jedem Dinge sterben . . .«

Dann rasch mit anderer Stimme die Frage: »Es ist nicht zu spät, hast du nicht so gesagt?«

»Es ist nie zu spät, Harald.«

»Nie? Es kann doch einmal sein, wenn ich zum Beispiel . . . Sagt denn der Doktor auch wirklich die Wahrheit?«

»Du hörst es ja. Er spricht doch immer ganz laut und froh . . .«

Jetzt braucht Harald die Augen zur Zeugenschaft. Er sieht die Mutter fest an. »Und . . . er sagt dir nicht vor der Tür etwas anderes?«

Frau Malcorn war auf diese Frage vorbereitet. Ruhig hält sie Haralds Blick aus, mit einem leisen, verschwiegenen Vorwurf im Gesicht.

»Verzeih, Mama. Aber es könnte ja sein. Ich habe das oft gesehen früher in Häusern, wo Kranke waren. Ich hatte ja bisweilen Gelegenheit . . . Aber was wollen wir denn nur Marien sagen?«

Ganz unvermittelt sagt er das. »Was meinst du?« staunt Frau Malcorn.

»Nun, damit sie nicht mehr wiederkommt.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Ja. Sie wird keinen Raum haben in der Zukunft, die ich mir denke. Das Leben ist eng, und ich muß so vieles darin unterbringen. – Marie gehört in das andere, in das Eintagsleben, das ich vergessen habe. Ich will nicht daran erinnert sein. Sie aber mahnt mich an das Vergangene, selbst wenn sie nicht davon spricht, durch ihr bloßes Dasein. Sie muß fort!« Das klingt entschlossen und rücksichtslos, und Frau Malcorn kann es gar nicht gleich fassen. Eine Menge Fragen steigen in ihr auf, für die sie keinen Ausdruck findet, und Harald ist auch schon wieder mit seinen Worten voraus und froh, wie erleichtert durch diese Erledigung.

»Ich werde malen . . . oder vielleicht ein Buch schreiben: Kindheit und Kunst. Mir ist so manches eingefallen in diesen letzten Wochen; ich werde es dir diktieren. Du mußt nicht Angst haben, daß ich dich überanstrenge. Jeden Tag nur ein paar Zeilen, aber vollendet, schön . . . Einmal ersinn ich vielleicht ein Lied, – dann mußt du es spielen. Und wenn es mir mal einfällt, ein Haus zu bauen, dann mußt du darin wohnen natürlich . . . das heißt: wir, – denn wir werden nie voneinander gehen . . . Nicht wahr? . . . Sag! . . .«

Frau Malcorn lächelt zerstreut: »Du wirst heiraten . . .«

»Heiraten?«

»Nun doch – einmal . . .«

»Glaubst du, daß ich Marien geheiratet hätte?«

Frau Malcorn nickt zustimmend.

»Ich habe nie daran gedacht.«

Ganz verwirrt lenkt Frau Malcorn ab: »Und was wolltest du malen? Das hast du nicht gesagt.«

»Malen? Wolken.«

»Du Träumer!«

»Frühlingswolken! Ein Wolkenkleid! Dein Kleid! . . . Dich!«

»Ich habe keine Wolkenkleider mehr.«

»Dann mußt du dir eines machen lassen . . .«

Ganz wehmütig lächelt die zarte Frau. »Nur ein altmodisches weißes Atlaskleid hab ich noch, vom letzten Ball her.«

»Ja, – weiß –« plant Harald. »Ich müßte dich in Weiß malen und – mit Blumen. Mit irgend welchen heißen, roten Blumen. Mit Blumen, die es nirgends giebt. Mit solchen, roten . . . (wo hab ich sie doch gesehen? . . .) In deinem Läufer. Mit solchen Blumen. Hast du sie selbst erfunden? . . .«

»Durch Zufall –« flüstert sie und wird ganz rot.

»Seltsam, – o! . . . Blumen erfindest du!« Und Harald sieht sie forschend an, als ob ihr Gesicht in seiner scheuen, schamhaften Befangenheit ihn an etwas erinnern müßte. Dann unterbricht er sich kurz. »Es ist vielleicht kindisch, daß ich so spreche. Ich habe doch eigentlich nie versucht, zu malen. Aber soll ich es deshalb nie versuchen? Vielleicht bin ich wieder . . . ein Beginn . . . Mir ist, als hätten wir mal davon gesprochen, daß die Malcorns immer wieder Könige werden . . . Und die kein Volk haben, – das sind vielleicht die wahren Könige . . .«

»Auch in der Kunst kannst du dich über ein Volk setzen . . .«

»Vielleicht. Vielleicht kann der Künstler sich aus allen Völkern sein Volk bilden, kann es sich erziehen . . . Aber ich will es nicht. Ich werde es nie wollen. Ich will nicht erziehen. Ich will nicht den Erfolg, keinen Erfolg auf keiner Seite. Ich will einfach: Schönheit . . .«

»Ja –« sagt Frau Malcorn, wie zu sich selbst.

»Du fühlst das?« Und beinahe überrascht sieht Harald sie an.

»Ja . . .« wiederholt sie leiser und wagt kaum die Augen zu heben.

Und nach einer kleinen Stille hört sie ihn sagen: »Wie schön du bist!« Und schauernd fühlt sie sich von ihm angeschaut.

Und wieder: »Wie schön du jetzt bist.«

Mit ganz leisen, verhaltenen Bewegungen steht sie auf und wartet, bis er ruft: »Du warst nie so schön!«

Aber diesmal erkennt sie seine Stimme nicht. Und unsicher geht sie von ihm fort und stellt sich ins Dunkel, wie unter den Schutz der Uhr, deren Atem ganz nahe geht. –

»Wie du gehst! Junge Mädchen gehen so.«

Und sie steht zwischen den beiden Fenstern und horcht.

Und er fragt sie: »Wie heißt du eigentlich?«

Sie rührt sich nicht, denkt aber: das Fieber, und fühlt eine große Erleichterung, aber zugleich ist ihr traurig, als ob ihr etwas wieder genommen würde, etwas kaum Geschenktes.

Und er sagt: »Ja, ich habe dich nie beim Namen genannt. Ich hab ihn vergessen.«

Eine Weile hört sie ihr Herz und wieder ihn. »Ich weiß jetzt: Edith heißt du –« Und wenn es doch das Fieber ist, denkt sie und horcht.

»Aber wie haben dich die genannt, die . . . die . . . die du lieb gehabt hast?«

Sie weiß kaum, daß sie antwortet und mit einer anderen, jungen Stimme: »Edel.«

Und er nimmt den Namen und liebkost ihn: »Edel – ja, so mußt du heißen. Edel: das ist weiß, ganz weiß . . . Aber du hast ja immer noch das alte Kleid, das Kleid von gestern und vorgestern, das schwarze Kleid, das kranke Kleid . . . Du bist ja nicht weiß. Du hast deinen Namen verraten. Du darfst ihn nicht mehr verleugnen jetzt; geh, hol dir dein weißes Kleid!«

Sie klammert sich an den schwarzen Kasten der Uhr.

»Geh!«

»Morgen! . . .«

Er hört nicht. »Worauf sollen wir warten? Schönheit will über uns kommen.«

Und seine Worte drängen sie zur Tür, aber sie zögert noch.

»Eil dich! Mach dich schön und komm bald. Indessen wird hier alles festlich sein. Alle Kerzen, alle Lampen werden brennen, wenn du wiederkommst, weiße Edel!«

Und da macht er eine Bewegung, als ob er sich erheben wollte. Und sie will hin zu ihm, will es verhindern, will mütterlich sein. Aber er steht schon da, stark, groß, die Arme wie Flügel, und lacht ihr zu.

Und jetzt gehorcht sie und geht.

Und selig sieht er ihr nach. Und lächelt.

Aber das Lächeln hat nicht Halt auf seinen schmalen Lippen. Wie die Uhr sich regt, fällt es ihm ab, und erschrocken deckt er sein leeres Gesicht mit den Händen zu. Und fühlt sie kalt. Und er ist allein, und das Dunkel ist groß und drückt ihn in den Stuhl zurück, in dem er stumm versinkt.

So bleibt er, vielleicht lange.

Denn als er zu sich kommt, ist Nacht.

Seine Augen sind der schwarzen, schweren Dinge entwöhnt und gehen bang in der Stille umher. Plötzlich werden sie groß. Eine Tür bewegt sich, und es kommt heraus, als ob Mondlicht ginge. Und vor dem Fenster sieht man: es ist eine Frau, ganz weiß . . .

Da wehrt sich Harald mit den hageren Armen und schreit, häßlich vor Angst, heiser: »Noch . . . nicht! Walpurga!«

Jemand hat Licht gemacht.

Harald sitzt entstellt in den Kissen, den Kopf noch vorgestreckt, mit herabhängenden Händen. Und vor ihm steht Frau Malcorn, welk, in Atlas, mit Handschuhen. Und sie sehen sich mit fremdem Entsetzen in die toten Augen.


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