Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Das Familienfest

(1897)

Nach der Messe stieg der Pfarrer von Maria-Schnee die vier Altarstufen herab, drehte sich um und kauerte sich hinter dem Lettner nieder. Er suchte in den vielen Falten seines Ornates nach einem Sacktuch, schneuzte ehrerbietig ein tiefes Orgel-C und begann: »Lasset uns beten für Herrn Anton von Wick, kaiserlichen Rat, welcher, entschlafen ist im Herrn. Herr sei gnädig deinem treuen Knecht Antonius . . .«

In der ersten Betbank erhob sich Herr Stanislaus von Wick, der Bruder des seit acht Jahren verstorbenen »treuen Knechtes Antonius«, und schneuzte seine Rührung aus. Als die Seelenmesse überstanden war, ging Herr Stanislaus, als Familienoberhaupt, voran, und hinter ihm lösten sich ein paar schwarzgekleidete Frauen aus den finsteren Bänken los. Auf der Straße reichte er seiner Schwester, der alten Majorin Richter, den Arm, und die anderen folgten zu zweien. Niemand sprach. Alle hatten lichtscheue Augen, die verweint aussahen, und gähnten vor Hunger und langer Weile. Die Familie sollte bei der Tochter des seligen Herrn Anton, Frau Irene, verwitweten Horn, geb. von Wick, zu Tische sein, und die Frau Majorin schlug ein ihrer Behäbigkeit stetig widersprechendes Schrittmaß ein, dessen Ungeduld mit dem pedantischen Trauermarsch ihres steifen Bruders schlecht zusammenpaßte. Herr Stanislaus merkte das sinnlich-irdische Streben ihrer Füße und sagte wie ermahnend: »Der arme Anton.«

Die Majorin nickte nur. Herr von Wick schob nun einigemal die schmalen Schultern in die Höhe und machte dabei ein besorgt lauschendes Gesicht. Er steigerte diese Bewegung und wiederholte sie betont vor der Haustüre, angesichts der ganzen Familie so lange, bis Frau Irene nervös fragte: »Was ist dir, Onkel?« Herr von Wick sammelte zuerst eine ausreichende Menge von Ergebung in seinem bangen Gesicht und stöhnte dann, indem er die ängstliche Bewegung hastig weiterübte: »Bin ganz steif – hab mich wohl verkühlt in der Kirche.« Frau Irene nickte nur, und ihre Schwester Friederike lispelte im Tone ergreifendster Entsagung: »Ich auch.« Dann trat die Französin mit dem Sohne der verwitweten Horn, einem siebenjährigen, blassen Jungen, zu den übrigen, und die bleiche Friederike strich ihm leise über die Stirn. Sie dachte: »Er ist so blaß, gewiß hat er sich auch verkühlt.« Beim Treppenaufwärtssteigen im dunkeln Stiegenhause vertraute sie der Schwester: »Oswald hustet.«

Erst als die Familie um den gedeckten Tisch saß, vergaß ein jeder seine eben aus der Seelenmesse mitgebrachte Krankheit. Herr Stanislaus von Wick hatte seinen Platz neben seiner Schwester und neben Friederike. Der Würdige schien die übermäßige Schultergymnastik von früher durch eine götzenbildartige Starrheit gutmachen zu wollen. Er sah über sein Gegenüber, das ältliche Fräulein Auguste, die unermüdliche Tante des Hauses, von welcher niemand ahnte, in welchem Grade sie eigentlich verwandt war, fort in die dunkelste Ecke des Speisezimmers, in welchem zwei hohe kattunbezogene Lehnstühle ratlos bei einem viel zu kleinen Tischchen standen. In diesem Augenblicke sah Herr von Wick so ungeheuer beschäftigt aus, wie in seiner Kanzlei, wenn ihn jemand beim Zeitungslesen störte. Das Messer hatte sich nach Art eines Federstiels durch seine harten Finger gedrängt und wartete, bis er unter das Aktenstück seiner momentanen Gedanken das feine, wie aus Zittergras geflochtene ›Stanislaus von Wick‹ setzen würde. Die ganze Umgebung war sich dieses bedeutenden Augenblicks bewußt und verharrte fast atemlos. Nur unten löffelte der kleine Oswald mit verspäteter Eile seine Brühe, und Auguste, die an jedem Familienfest für drei vorangehende und drei folgende Tage sattaß, beschäftigte sich mit der Lösung der Aufgabe, ebensoviel zu reden, wie zu essen. Sie stellte ihre Worte als Schirm vor ihrem übervollen Teller auf, und ihre Phantasie verdaute mit ihrem Magen um die Wette. Diese komplizierte Tätigkeit indessen erhitzte sie nicht wenig, und dann und wann mußte sie mit beidem inne halten.

Während einer solchen Pause rief Herr von Wick seine Augen von den hohen Lehnstühlen ab, gewährte ihnen kurze Rast auf Tante Augustens schattiger Stirne und schickte sie dann mit großer Bedeutung der Hausfrau; die verwitwete Horn, welche sich mehr als geborene von Wick fühlte, empfing die Sendboten ihres Oheims mit Feierlichkeit und unter tiefem Schweigen der Umsitzenden. Sie faßte ihr Obstmesserchen, hob es mühsam bis an den Rand des mit gekröntem ›W‹ bezeichneten Weinglases und schlug einmal an. Diese kleine Ursache hatte eine Fülle mächtiger Wirkungen: Alle Waffen unterbrachen ihre mehr oder weniger freudige Hast, und die Servietten tauchten wie weiße Parlamentärsflaggen aus unterschiedlichen Schooßen und wehten Stillstand und Frieden. Die kaninchenäugige Französin riß den Löffel aus der Hand des Kleinen. »Que veux-tu?« pfauchte das Kind, und die Mademoiselle hauchte in höchstem Erschrecken: »Fais attention!« In diesen Geräuschen waren die ersten Worte des Herrn Stanislaus spurlos untergegangen. Er reckte sich nun noch höher und drückte an seiner Halsbinde, um das, was ihm in der Kehle eingeschlafen war, aufzurütteln. Seine farblosen Augen suchten die beiden Lehnstühle: »Dort«, sagte er und wartete, bis alle Blicke diesem Befehle gefolgt waren, »hat mein armer Bruder Anton, Gott sei ihm gnädig, vor acht Jahren seine Seele ausgehaucht. Seine allerletzten Worte galten dem Wohle unserer Familie. Vertragt euch und helfet einander, hat er mir am Tage vor seinem Tode gesagt. Und gemeinsam und einträchtiglich, wie er es gewünscht hat, begehen wir heute den achten Sterbetag. Gebe Gott uns die Kraft, in Stille und Gesundheit noch lange sein Andenken zu feiern; wir dürfen sicher sein, der Geist unseres Bruders, beziehungsweise eures Vaters«, er wandte sich bei diesem Wort an die Hausfrau und an Friederike, »Großvaters«, seine gerührten Augen ruhten auf Oswald, der leise und heimlich Brotkrumen mit feuchten Fingern aufpickte, »schwebt segnend über uns.« Ermattet von Anstrengung und Ergriffenheit setzte sich Herr Stanislaus, wobei er trotzdem nicht vergaß, die langen schwarzen Schöße sorgfältig aufzuschlagen. Er hatte am Todestage seines Bruders ungefähr dasselbe gesprochen, und seither veränderte er immer nur fortlaufend die Nummer des Sterbetages. Aber die Worte hatten dadurch, daß sie jährlich nur einmal gebraucht wurden, eine gewisse Frische bewahrt, und Herr von Wick schien auch ein jedes in seinem Mund abzustäuben und zurechtzubiegen, ehe er sie aussprach. Nachdem die Gläser alle einander begegnet waren und sich mit entsprechender Zurückhaltung begrüßt hatten, sagte die blasse Friederike mit heftigem Hüsteln: »Ist Papa in diesem oder in jenem Sessel gestorben?« Aus halbgeschlossenen Lidern schaute sie in die Ecke. Die Hausfrau fand diese Frage unpassend und zuckte die Achseln, Herr von Wick stak noch zu tief in seiner Rührung, die Majorin kaute mit vollen Backen, so daß die Antwort auf Tante Auguste fiel. Sie zögerte auch nicht lange, strich mit der Hand über die grauen Scheitel, wie um einen Teil ihrer Erinnerungen zu wecken, und sagte dann mit heroischer Entschiedenheit: »In dem.« Durch solche genaue und pietätvolle Kenntnisse suchte sie stets ihre sonst etwas rätselhafte Familienzugehörigkeit zu beweisen. Nun gab es ein großes Hin und Wider. Alle standen auf und umstellten betrachtend die beiden Stühle. Endlich trat auch Herr von Wick hinzu, drängte sich hinter die Lehnen und begann deren Rückseiten abzutasten. Dann gab er den gespannt Wartenden Bescheid: »Es ist der, welchem eine Schraube fehlt. Diesem hier fehlt die Schraube, sintemal ist mein Bruder Anton in diesem Lehnstuhl gestorben.« Alle blieben noch eine Weile, als warteten sie, ob nicht der Sessel auch ein Wort mitsprechen würde. Als der in seiner teilnahmlosen Ruhe schwieg, begaben sich alle an ihre Plätze zurück.

»Dort im gelben Kanapee ist die Großmama gestorben«, konstatierte die hüstelnde Friederike. Und nun zeigte man sich gegenseitig alle Möbel, in denen ein von Wick oder eine von Wick in ihrer leiblichen Gestalt sitzen geblieben waren, während ihre Seelen die jenseitigen von Wicks suchen gegangen. Es gab deren nicht wenige; und es war eine große Schande, bei ›von Wicks‹ Stuhl zu sein, wenn nicht irgendwer auf einem gestorben war. Das empfand der kattunbezogene Lehnsessel neben Herrn Antons Sterbepfühl ganz mächtig.

Die Pause war etwas lang geworden. Die Hausfrau ließ einen ihrer Finger auf den elektrischen Knopf fallen. – Während die anderen immer noch letzte Möbel und letzte Worte wiederaufzählten und Friederike mit mattem Lächeln, wie bei jeder Gelegenheit auch diesmal, anführte, daß Großmama von Wick zuletzt etwas Französisches gerufen hatte, trat der ›alte Johann‹, der schon undenkliche Zeiten unter diesem Namen in das Inventar gehörte, ein und balancierte mit einem Rehfilet über das glatte Parkett. – Der ›alte Johann‹ war längst seines Dienstes ledig, bezog von verschiedenen Generationen der von Wicks verschiedene Pensionen und bediente nur ganz ausnahmsweise an besonders wichtigen Sterbetagen. Er zog dann seine alte verschossene Livree mit den Silberknöpfen, welche das Wappen und die Umschrift ›constantia et fidelitas‹ trugen, an, stülpte riesige weiße Zwirnhandschuhe über die gichtkrummen Hände und nahm sich in diesem Aufzug aus, wie ein verkleidetes Skelett. Wie ein welkes Blatt trieb er an das Ende des Tisches heran und blieb bei Irene, der verwitweten Horn, kleben. Seine halbblinden Augen mußten sich erst an die Dämmerung des Speisezimmers gewöhnen, und er hielt die Schüssel bloß dem Gefühl nach in der Richtung, in der er eine Person vermutete. Frau Irene wälzte ein kleines Stück Filet mit großer Anstrengung auf ihren Teller und nahm die dazugehörigen Reiskörner wie einen Segen aus den zitternden Händen des Greises, aus denen schon ihr seliger Vater und ihr seliger Großvater ihr Filet empfangen hatten. Dann verbeugte sich Frau Irene verehrungsvoll gegen die Zwirnhandschuhe, und der alte Johann sah aus seiner Vogelperspektive bereits auf die violette Haube der Majorin Richter, die mit tiefem Verständnis die Schüssel durchmusterte. Der greise Diener begann sich dafür zu interessieren, wem diese Haube da unten gehören mag. Eine Weile überlegte er, dann war er ganz erfüllt von der Überzeugung, daß die lila Haube Frau Karoline von Wick, des hochseligen Großvaters Peter ehrsame Ehefrau, sein müsse, und er neigte sich mit wohlwollender Herablassung zu der Hundertjährigen, der er vor mehr als dreißig Jahren den letzten Rehbraten gereicht hatte. Vor dem alten Diener waren tausend Jahre wie ein Tag, und er war sehr erfreut, in dem Herrn Stanislaus von Wick Herrn Peter selbst zu erkennen und in so hohen Tagen recht rüstig zu finden. Bei jedem neuen Schritt erkannte er irgend ein Familienmitglied aus des Großvaters Tagen, und es verlor nun alles Erstaunliche, daß er den kleinen Oswald als Jugendbild des Onkel Stanislaus begrüßte. Die Schwankungen seiner Bratenschüssel bekamen etwas Zärtliches, Schmeichelndes, als er dieselbe um den spitzen Ellbogen des blassen Kindes lenkte. Mit besorgter Aufmerksamkeit folgten die meisten Blicke den Bewegungen des Alten, denn er war eine seltene Sehenswürdigkeit und gleichsam der Inbegriff der irdischen Überreste sämtlicher hochseliger von Wicks.

Auf schwanken Füßen hatte Johann die Tafel seiner teuren Toten umwandelt; nur vor der Französin hatte er ein wenig gezögert, da er augenblicks keine Besetzung für diese rotäugige Person finden konnte. Allein er tröstete sich mit dem häufigen Versagen seines Gedächtnisses und begnügte sich damit, der Mademoiselle die Bratenschüssel fortzuziehen, ehe sie sich hinreichend versorgt hatte. Die Französin sah sich etwas erstaunt um, vermied aber jedes Aufsehen und sagte zu Oswald:

»Bubi, tu as trop.« Dabei nahm sie ganz gelassen ein Stück Braten von dem Teller des Kleinen, der dem guten Bissen scheu und schwermütig nachschielte.

Tante Auguste erzählte währendher lauter geringfügigen Stadtklatsch, und nur ganz selten tat jemand, wie ein Almosen, ein Wörtchen dazu. Die Hausfrau fand es taktlos, an einem solchen Tage so profanes Zeug zu reden, und äußerte einiges darüber an die Majorin; diese nickte zustimmend und kam dadurch dem Rehbraten immer herzlicher entgegen. Friederike hörte gar nicht mehr auf die Universaltante, sondern ließ sich von der Französin zum elftenmale erzählen, daß sie die Absicht gehabt hatte, in ein Kloster zu gehen. Friederike fand das jedesmal ungeheuer interessant und hoffte beim zwölftenmale die Spuren des Romanes zu ergründen, welcher die bleichsüchtige Pariserin zu diesem verzweifelten Entschlusse hätte treiben können. Diesmal wurden sie indessen mitten in der Legende durch die gesteigerte Stimme des Onkel Stanislaus unterbrochen. Herr von Wick hatte sich bemüßigt gefühlt, den alten, getreuen Diener beim Rockschooß festzuhalten und ihm mit gütiger Herablassung zuzuflüstern: »Nun, wir werden nicht alt, mein guter Johann.« Johann konnte nicht antworten. Zuerst weil er zu gerührt war über die Gnade des Großvaters Herrn Peter von Wick, dann weil er bei seiner Harthörigkeit kein Wort der langen Anrede verstanden hatte. Herr Stanislaus wiederholte etwas hastig seine Frage. Sie blieb abermals unverstanden. Herr von Wick, der alles gern glatt erledigt hatte, fand, daß diese rein äußerliche und formelle Angelegenheit zu lange dauerte, und verlor alles Wohlwollen in der Stimme, als er den Alten nun anschrie:

»Na, Johann – wie gehts?«

Alle waren jetzt aufmerksam geworden.

Friederike schwieg und die Französin und Tante Auguste und der kleine Oswald, der vor Spannung sogar eine Gabelvoll unterwegs vergessen hatte.

Und Johann hatte verstanden. Mit der verehrungsvollen Vertraulichkeit alter Diener neigte er sich über den weißen glatten Kopf des Herrn Stanislaus und sagte: »Zu-viel-Gnade, gnädiger Herr Peter.«

Er hatte im Jahre Einst den Großvater, zum Unterschied von dessen anderen, im Hause sich befindlichen Brüdern, stets so genannt. Seine Worte kamen in kleinen Pausen, als hätte er nach jedem mühsam suchen müssen, und der kranken Friederike war, als wäre eine lange unaufgezogene, alte Spieluhr irgendwo losgegangen. Vor »Peter« zögerte der alte Johann einen Augenblick; um so seltsamer und auffälliger klang der Name in die allgemeine Aufmerksamkeit. Herr Stanislaus zuckte zusammen, wurde sehr blaß, und das gütige Lächeln erlosch auf seinen Zügen. Er fühlte die Blicke aller auf sich lasten und kam sich greisenhaft und hilflos vor; denn in diesen Blicken sah er vervielfacht, was er selbst dunkel empfand: Schrecken und Angst. Er schaute der Reihe nach alle an und fürchtete von irgendeiner Lippe zu lesen: »Herr Peter.« Aber sie schwiegen alle. Da wandte er scheu seine Augen nach rückwärts, und mit aller Kraft sagte er sich: Der Alte ist übergeschnappt. Allein es stand niemand mehr hinter ihm.

Herr von Wick fuhr sich mit der Hand ein paarmal über die schmale Stirne. »Ist dir etwas, Stanislaus?« sagte die Majorin, die sich ein wenig Unbefangenheit bewahrt hatte.

»Nein, Karoline«, gab Herr Stanislaus tonlos zurück. Dann legte er seine Serviette mit krampfhafter Entschlossenheit neben den Teller, erhob sich, indem er beide Arme an den Tischrand stemmte, und ging mit unsicheren Schritten auf die dunkle Ecke zu, in welcher die beiden Lehnstühle neben dem kleinen Tischchen standen. Ermattet ließ er sich in jenen Sessel fallen, in welchem noch kein von Wick gestorben war. Das war ein Akt der Gerechtigkeit. Alle saßen wie gebannt und blickten auf Herrn Stanislaus. Nur Frau Irene, verwitwete Horn, wagte: »Onkel?«

Herr von Wick aber winkte leise ab. Er wollte nicht gestört sein. Er wußte, daß dies sein letzter Lehnstuhl sein werde, heut oder morgen; aber über sein letztes Wort war er noch im Zweifel.


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