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Graf Paul galt für jähzornig. Als der Tod ihm zeitig seine junge Gemahlin nahm, warf er ihm alles nach: seine Güter, sein Geld und sogar seine Mätressen. Er stand noch bei den Windischgrätzdragonern. Da fand der Baron Sterowitz gelegentlich: »Dein Mund ist fast wie der der seligen Gräfin.« Der Verwitwete war gerührt. Seither hatte er immer ein Glas Wein irgendwo ganz nahe; denn dieses schien die einzige Möglichkeit, diesen geliebten Mund sich beständig entgegenkommen zu sehen – sagt man. Tatsache ist, daß Graf Paul zwei Jahre später von seinen Besitzungen keinen Nagel besaß.
Trotzdem forderte er uns, als wir einmal zufällig in der Nähe eines der Stammgüter der Felderodes waren, auf, mitzukommen. »Ich muß euch die Stätte meines Glückes zeigen«, versicherte er uns und wandte sich zu den Damen: »den Ort, wo ich Kind sein durfte.«
An einem guten Augustabend trafen wir in einiger Gesellschaft in Groß-Rohozec ein. Daß es so spät geworden war, lag an der Stimmung des Grafen. Er war lauter Glanz. Man kam vor gegenseitigem Entzücken nicht von der Stelle. Endlich einigten wir uns, Schloß und Park (da doch jetzt keine Besuchsstunde mehr war) am nächsten Morgen zu besichtigen und die Sonne von der hohen Ruine aus sinken zu sehen. »Meine Ruine«, rief der Graf, und es war, als schlüge er die alten Ringmauern wie einen Wettermantel um seine schlanke Gestalt. Ein kleines Gasthaus überraschte uns oben, und die Stimmung steigerte sich zusehends.
»Mit allen Fasern hänge ich an diesen Steinen«, versicherte Graf Paul und lief auf den Zinnen des Burgfried hin und her. Als er wieder unter uns stand, fragte jemand: »Sind wir angemeldet für morgen da unten?« Und eine Frauenstimme: »Wem gehört Groß-Rohozec jetzt?« Der Graf hätte gern überhört: »Oh, – einem tüchtigen jungen Mann – übrigens Finanzwelt – natürlich. Konsul – so was.«
»Verheiratet?« forschte eine ältere, weibliche Stimme.
»Nein – vorläufig bemuttert«, lachte der Graf. Dann fand er ganz rasch den Wein trefflich, die Gesellschaft superb, den Abend königlich und seine Idee, herzukommen – groß. Dazwischen sang er italienische Romanzen nicht ohne Pathos, und Ländler, zu denen er die nötigen Sprünge übte. Als er endlich nicht mehr sang, hielt ich es für geraten, aufzubrechen. Man schützte Müdigkeit vor, nötigte ihn, noch ein Stündchen in »seiner Ruine« zu bleiben, und stieg gemeinsam zu dem kleinen Dorfgasthof herab. »Ich komme gleich nach!« rief der Graf hinter uns. Der Weg führte am Schlosse vorbei. Dieses widersprach der Nacht mit allen Fenstern. Der Konsul gab Gesellschaft.
Erst gegen Mitternacht rollten die letzten Wagen aus dem Park. Die Konsulmutter pustete in dem halboffenen Vorsaal die Kerzen aus. Jedes neue Dunkel schien mit ihr zu verwachsen. Ihre Gestalt wälzte sich immer unförmiger durch den Raum, jemehr Knöpfe der engen Atlastaille sie aufriß. Sie schien endlich das Dunkel selbst zu sein, welches bald das ganze Schloß ausfüllen wird. Auch der Sohn lief, an allen Seiten spitz und kantig wie ein Torpedo, in einem fort hin und her, als mühte er sich, seine Mutter zu fassen, ehe sie einfach die Finsternis wurde. Eigentlich tat er dieses der Kühle wegen. Die beiden Menschen kreuzten in ihrer atemlosen Hast jedesmal vor dem vornehmen Spiegel, der nichts Eiligeres wußte, als diesen Knäuel von Gliedern und Falten rasch wieder auszuspeien. Er war verwöhnt durch die Bilderbissen aus dieser Nacht: zwei Grafen, ein Baron und viele annehmbare Herren und Damen. Nun mußte er sich doch mit dem schwarzen, engbrüstigen Konsul zufriedengeben. Empört warf er dem Schloßherrn sein Gesicht ins Gesicht. Das war traurig genug. Trotzdem fand sich der so Beleidigte viel zu unverbraucht, zu jungfräulich.
Auch die Mutter war indessen still geworden. Sie war wie ein Knäuel in eine Ecke gerollt, und es brauchte einen Augenblick, ehe der Konsul erklärlich fand, was dort klirrte. Die Erkenntnis erschreckte ihn: »Mais, laissez donc, les domestiques!« rief er sehr laut, solange er noch vor dem Spiegel stand. Dann verlor er sich und übersetzte: »Was sollen die Leute denken, Mama; laß das, geh schlafen . . . Ich werde Friedrich rufen.« Diese Drohung gab den Ausschlag. Es war ein Glück, daß man den alten gräflichen Diener behalten hatte. Wie wäre sonst zum Beispiel dieses Diner zustande gekommen. Aber es war auch eine Gefahr. Man wußte nicht, was man selbst anziehen durfte und was man sich anziehen lassen sollte, und so vieles dergleichen. Jedenfalls aber galt in diesem einzelnen Augenblick: man überzählt nicht selbst die Silberlöffel – nicht wahr? Also, bitte, Mama.
Die breite Dame in schwarz Atlas ging. Eigentlich verachtete sie ihren Leo ein wenig. Warum hatte er sich keinen Titel angeschafft, in welchem sie mit Raum hatte. Konsul – und sie? Es war eine Schmach. Aber immerhin, sie ging.
Leo ließ seine Hände los und fand sie erst wieder unter lauter Silberlöffeln. »25, 28, 29«, sagte er in bestem Deutsch – als ob es Verse wären. Da hörte er einen Aufschrei. »Was ist denn?« schrie er rücksichtslos wie hinterm Ladentisch. »30, 32.« Als keine Antwort kam, sah er ein, daß er nur noch das dritte Dutzend aufzählen könne, und lief mit einer unreifen 36 im Munde durch den gelben Salon, durch das Spielzimmer, durch den grünen Salon. Vor der Glastür, welche in das Schlafzimmer seiner Mutter führte, war etwas Schwarzes halb zusammengesunken. Es war die Titellose. Sie stöhnte schmerzlich. Er war zunächst bemüht, sie in das Schloß zurückzurufen; plötzlich aber gab er es auf und starrte mit scheuen Augen in die Glastüre hinein. Dort glitt, wie im Kampf mit der Dämmerung, etwas Langes, Weißes tastend die Wände entlang, neigte sich, tauchte unter im Dunkel und wuchs wieder unbestimmt wie ein farbloses Riesenwindlicht zu den Fenstern hin. Nicht durch Vermittelung seines erstarrten Verstandes, sondern von seiner Angst erfuhr Leo, daß das irgend ein längst- und hochseliger Felderode sei – offenbar, und langsam fügte sein Verstand an, daß diese unerhörte Tatsache gefährlich sei durch den Umstand, daß weder von der Decke noch von den Stühlen das Grafenwappen entfernt war: er konnte gar nicht wissen, daß das Schloß verkauft sei. Daraus ergaben sich Verwickelungen ohne Ende. Trotz aller Seltsamkeit vergaß der Konsul ein Weile seine Lage und berechnete sämtliche Möglichkeiten. Ein Teufelsspuk war sein letzter Eindruck. Eine Sekunde lang dachte er daran, in die Schloßkapelle zu eilen und – aber ach, er war noch zu neu und unerfahren im Christentum, um so schwierigen Situationen gewachsen zu sein.
Da gerade, als er seine arme Mutter wieder empfing, änderte sich drinnen die Szene. Man hörte etwas wie ein wildes Zauberwort, und hart darauf brannte die Kerze auf dem Nachtkästchen. Die Gestalt ließ sich auf dem Bette nieder und materialisierte sich offenbar heftig; denn die Gesten wurden immer menschlicher und begreiflicher. Leo fühlte sich jäh versucht, aufzulachen, und wurde witzig. Er sagte zu sich: »Auch so eine aristokratische Eigenschaft. Wenn unsereins stirbt, ist er tot, so einer tut, als wäre gar nichts geschehen – noch fünfhundert Jahre später.« Und boshaft wurde er: »Natürlich, früher waren sie nur halb lebendig, diese Herren jetzt sind sie nur halb tot . . .«
Er fand dieses Aperçu so trefflich, daß er es seiner Mutter eingeben wollte auf jeden Fall. Diese erwachte indessen rechtzeitig, um zu sehen, wie der Weiße mit großen Gesten ihre eigene Nachtwäsche aus den Kissen hervor ins Ungefähre warf, wie in ein Meer. Sie wollte wieder in die Bewußtlosigkeit zurück, aber ihre Moral begegnete ihr unterwegs und gab dies nicht zu. Da schrie die Titellose: »Ein ganz gemeiner Mensch! Friedrich, Johanna, August!«, und dann faßte sie ihren Sohn am Arm, so daß ihm seine Heiterkeit in die falsche Kehle sprang: »Du gehst hinein, Leo; nimm die Pistole und geh hinein.« Sie drängte ihn.
Leo fühlte die Knie weich werden. »Gleich«, ächzte er trocken und preßte die Türe, welche nach innen aufging, mit beiden Händen nach der anderen Seite. Da hob sich drinnen eine Hand wie warnend aus den Kissen, wuchs, wuchs und fiel der Kerze auf den Kopf, die demütig starb.
Im selben Augenblick erschien der greise Friedrich an der Schwelle des grünen Salons. Er trug einen schweren silbernen Armleuchter vor sich her und verharrte zunächst vollkommen abwartend, solange die Konsulmutter ihm entgegenfauchte: »Ein ganz gemeiner Mensch! Ein ganz gemeiner Mensch!« Leo dagegen zeigte Umsicht und Mut. Er drückte sich deutlicher aus: »Ein Einschleicher, Friedrich, ein Dieb vermutlich, verbirgt sich im Zimmer der gnädigen Frau. Gehen Sie, Friedrich! Schaffen Sie Ordnung, rufen Sie die Leute. Es geht nicht an, daß ich selbst . . .«
Der alte Kammerdiener ging rasch in das dunkle Zimmer. Er trat dem Konsul gleichsam auf die letzten Worte. Die andern sahen ihm in ängstlicher Erwartung nach.
Friedrich faßte die Bettdecke und leuchtete dem Menschen jählings ins Gesicht. Seine Bewegungen besaßen solche Energie, daß Leo heldenhaft wurde und zeterte: »Werfen Sie ihn heraus, diesen Lumpen – diesen Unverschämten . . .« Er wollte sich durch seinen Zorn bei der Mutter entschuldigen.
Aber da stand Friedrich plötzlich vor ihm, steif und streng wie ein Gericht. Sein Finger hielt an seinen verschwiegenen Lippen Wache. Mit dieser Gebärde drängte er seine Gebieter sanft aus dem Schlafzimmer hinaus, verschloß sorgfältig die Glastüre, ließ die Portieren darüberfallen und blies langsam die vier Lichter des Armleuchters aus, eines nach dem anderen. Mutter und Sohn begleiteten jede seiner Gesten mit hilflosen stummen Fragen.
Dann verneigte sich der Alte ehrerbietig vor seinem Herrn und meldete, wie man Besuche anmeldet:
»Seine Durchlaucht Graf Paul Felderode, k. u. k. Rittmeister a. D.«
Der Konsul wollte etwas sagen, aber er bemerkte, daß ihm die Stimme fehlte. Er fuhr einigemal mit seinem Tuche über die Stirne. Er wagte nicht, seine Mutter anzusehen. Allein da fühlte er, wie die alte Frau nach seiner Hand tastete und sie leise, ganz leise behielt. Diese kleine Zärtlichkeit rührte ihn. Sie verband diese beiden Menschen und hob sie aus ihrer Alltäglichkeit in ein Schicksal hinein, in das Schicksal jener, die ohne Heimat sind. Friedrich verneigte sich jetzt tiefer als früher und sagte:
»Darf ich die Gastzimmer richten lassen?«
Dann löschte er den grünen Salon und ging seiner Herrschaft auf den Zehen nach.