Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Einig

(1897)

Frau Sophie goß ihrem Sohne Tee ein. Ihre schlanke, vornehme Hand zitterte leise. Der Kranke saß ihr gegenüber in dem Gobelinsessel und schwieg. Nur seine weißen Hände auf den dunklen Armlehnen lebten ihr eigenes, fieberndes Leben. Frau Sophie stellte die Silberkanne, die das ganze Licht des dämmerigen Zimmers zu sammeln schien, auf den Tisch und strich sich über die weißen Scheitel. Dann setzte sie sich in den tiefen Lehnstuhl, und ihr Seidenkleid knisterte dabei. Sie sah mit einem zärtlichen Lächeln hinüber zu ihrem Sohn. Und sie bemerkte jetzt nicht die bleichen Wangen des herzkranken jungen Mannes und nicht das leise Beben seiner Nasenflügel, das wie das Schwingenschlagen eines Falters war vor dem Sterben; sie fühlte nur, daß er nun nach vielen Jahren wieder zu Hause war und daß sie die Hände voll unverbrauchter Liebe auf seine Stirn legen und mit ängstlichen Augen die Wünsche lösen durfte aus seinen Blicken. Daß er um seiner schweren Krankheit willen zu ihr zurückgekehrt war, hatte sie ganz vergessen. Sie dankte Gott dafür, ihn beschützen zu dürfen, und war froh, ihn seitab zu wissen vom großen, wilden Wege der Stürme und Ströme und irgendwo ihn zu hüten, wo er ganz willenlos, ganz Besitz ihrer Liebe war. Dieses Bewußtsein lag wie ein stilles, verklärtes Leuchten auf ihrem Gesicht. Gerhards große und verdunkelte Augen schienen ins Uferlose gerichtet, aber sie belauerten doch die verträumte Seligkeit in ihren Zügen. Und seine kranke, bange Seele sann diesem Lächeln nach und erriet seine Tiefen. Der junge Mann dachte: So ist die Mutter. Sie dankt Gott, daß ich zurückgekommen bin, und ich bin doch zurückgekommen, um zu sterben. Sie dankt Gott, daß mich keine Gefahr mehr findet, und das Leben ist eine einzige Gefahr. Sie dankt Gott für mich und mein Leben, und ich bin eine frühwelke, wurmfaule Frucht, So ist die Mutter. Die Teetassen sangen ein silbernes Lied, und Frau Sophie sagte mitten aus ihren Träumen: »Es ist noch alles so – wie damals bei uns – nicht wahr? Kein Stuhl verrückt. Auch die Bilder hängen noch so, wie du es bestimmt hast. Über deinem Bett ›Der Geiger‹ von Hans Thoma. Du hast ihn ja so geliebt als Knabe. Liebst du ihn noch?« Der Kranke nickte kaum.

»Was spielt er wohl? Glaubst du. Ich glaube, er spielt dein Heimatlied.«

Der junge Mann atmete hastig: »Meine Kindheit spielt er, Trauer spielt er und Entsagung.«

Er hatte heiser gesprochen. Wieder sangen die Tassen.

Erschrocken fragte Frau Sophie: »Hast du deine Kindheit nicht lieb, Gerhard?« Der Kranke sah sie sehr ernst an: »Lieb? Oh ja. Ich liebe sie, wie man eine Lüge liebt, durch die man glücklich wird, oder einen Traum, in dem man König war, oder eine Güte, die einen zum Sklaven macht. Ich liebe diese Stuben, in denen sie gewohnt hat, und deine Stimme, die ihre Sehnsucht war. Ich liebe alle Wege, welche du mich geführt hast, diese leisen, lautlosen Wege ums Leben herum zu deinem Gott.«

Frau Sophie machte eine Bewegung, so daß der Löffel scharf auf die Untertasse fiel.

Dann sagte sie kalt: »Ich habe dich in Frömmigkeit erzogen.«

Gerhard lächelte ein wenig: »Was ist Frömmigkeit? Freude an dunkeln Kirchen und lichten Christbäumen, Dankbarkeit für den stillen, von keinem Sturme gestörten Alltag, Liebe, die den Weg verloren hat und sucht und tastet im Uferlosen. Und eine Sehnsucht, welche die Hände faltet, statt die Flügel auszuspannen.«

Der Kranke lehnte den Kopf weit zurück in das dunkle Kissen, so daß man das Kinn sah mit den spärlichen blassen Barthaaren und den mageren Hals mit den straffen Sehnen. Frau Sophie nestelte mit ihren feinen Fingern hastig an ihrem schwarzen Spitzenkragen, und in ihrer Stimme war lauter Zärtlichkeit:

»Machst du mir Vorwürfe, Gerhard?«

Der junge Mann regte sich nicht, nur seine Hände wiegten sich leise. »Nein, Mutter.«

»Du sprichst so . . .« fragte die alte Dame ängstlich.

Gerhard senkte langsam den Kopf, und sie schauten sich in die Augen.

»Danken müßt ich dir eigentlich dafür. Du hast mich tief in lauter Wunder geführt, immer weiter und immer weiter. So weit hast du mich in deinen Glauben geführt, daß ich die ganzen zehn Jahre, da ich von dir fern war, gebraucht habe, um herauszufinden.«

Frau Sophie lehnte sich vor in ihrem Sitze, wie um kein Wort zu verlieren.

Der Kranke sprach fort in unsäglich mildem Ton. Ein jedes Wort schien für sich um Verzeihung zu bitten: »Mutter, du mußt es wissen, diese zehn Jahre waren ein trostloser Rückweg für mich. Ich bin so müde dabei geworden. Aber ich müßte dir dennoch danken dafür, – wenn ich nicht so krank wäre. Ich stehe jetzt ganz am Anfang und muß sterben. Ich bin, als ob ich nie gelebt hätte, denn ich habe nie ins Leben gefunden. Fünfzehn Jahre irregeführt sein und zehn Jahre sich zurückkämpfen zum Anfange: Das bin ich.«

»Gerhard!« flehte Frau Sophie, und ihre Hände zitterten und falteten sich vor lauter Hilflosigkeit, »du versündigst dich.«

Der Sohn aber sagte aus tiefen Gedanken: »Am Anfang sein und sterben müssen, das ist doch traurig.« Seine Augen waren so voll Wehmut, daß die Dame die Hände vor das Gesicht preßte und heftig aufschluchzte.

Gerhard schwieg, und seine Blicke ruhten von ungefähr auf dem Bilde seines Vaters, das nahe am Fenster hing und dessen Züge im Dämmerlicht noch kenntlich waren. Er konnte sich seines Vaters kaum entsinnen, denn er war noch ein ganz kleiner Knabe, damals als der Vater, um einer fremden Frau willen, die Heimat verließ. Der Kranke dachte nach und sagte dann: »Ich glaube – jetzt bin ich dir noch viel weiter und fremder als er.«

Frau Sophie drückte das dünne Batisttuch an die Augen, und ein ganz leiser Duft von feinem Lavendel wehte durch das Zimmer. Sie fragte mit trockener Stimme: »Wer?«

»Der Vater!« antwortete Gerhard brutal.

Die alte Frau blickte ihn erschrocken mit zuckenden Augen an, und ihre Lippen bebten krampfhaft und suchten zu widersprechen. Allein sie fand kein Wort. Sie fühlte plötzlich, daß sie etwas verteidigen mußte, was von ihrem Kinde bedroht war, etwas, was tief in ihr lebte, sie stärkte und segnete und was ältere Rechte besaß als ihr Kind. In diesem Augenblicke wäre sie am liebsten geflohen. Scheu blickte sie auf. Sie sah jetzt die matten, geschlossenen Augen des Kranken und seinen Mund, der müde war von den vielen Worten. Seine arme, rührende Hilflosigkeit fesselte sie. Unwillkürlich stellte sie die beiden im Geiste nebeneinander: den Gott in ihr, den Gerhard bedroht hatte, und ihren schwachen, unglücklichen Sohn. So blieb sie.

Die nächsten Wochen waren ein leiser, heimlicher Kampf, den Frau Sophie dadurch zu mildern suchte, daß sie ihren Gott immer tiefer in sich versenkte und vermied, daß er jemals ihrem Sohne begegne. Dadurch erhielt ihr ganzes Wesen eine ängstliche Hast, eine gewisse scheue Heimlichkeit, welche jeder ihrer Bewegungen die Sicherheit raubte. Sie versperrte ihre Türe, wenn sie ihr Nachtgebet sagte, und wenn das Aveläuten begann, so ging sie in irgend ein dunkles Zimmer und machte dort zitternd das gewohnte Kreuz. Vor dem Mittagmahl beschränkte sie das von Kindheit an geübte Flehen auf einen ganz flüchtigen Gedanken an Gott, und sie bangte jedesmal, Gerhard könnte ihn in ihren Augen finden. Die stete Furcht legte sich wie etwas Fremdes über sie, und den lauernden Blicken des Kranken war die seltsame Veränderung keineswegs entgangen. Fast unbewußt forschte er nach den Gründen desselben und ermattete in Vermutungen. Dabei wurde er reizbar und bitter, und er sprach oft von dem ›Rückweg‹, aber nicht mehr im Tone einer sanften, wehmütigen Entsagung wie jenes erste Mal. Dann fürchtete Frau Sophie für ihren Gott in gleichem Maße wie für den Kranken. Denn sie liebte beide und wußte, daß der Entscheidungskampf einen von ihnen töten müsse. In diesen bangen Wochen war aus dem machtreichen und großen Gott, der sie seit ihren Kindheitstagen geleitet und beschirmt hatte, ein ganz kleiner, furchtsamer Gott geworden, der ihr Eigentum war und den sie beschützen mußte und hüten, wie ein aus seinem Nest gestürztes Vögelchen. Sie erschrak, als sie dies bemerkte. Sie fühlte mit einemmale, wie ihr Gott in diesem tiefen Verborgensein immer ärmer und ratloser und kleiner wurde, und bebte vor dem Tag, da er ganz zusammensinken würde, ohne Widerstand und lautlos, wie eine Lampe verlischt, wenn es am Öl fehlt. Sie empfand zugleich, daß sie ohne diesen Gott sein werde wie ein totes Blatt und daß sie ihn, ehe es zu spät sei, herausholen müsse aus seinem Begrabensein in das helle Licht.

Darum sagte sie einmal, als Gerhard ihr wieder gegenüber saß in der Dämmerung:

»Ich glaube an Gott. Er wird dich gesund machen.«

Ihre Stimme klang zaghaft, und sie wiederholte mutiger: »Ich glaube an Gott.«

Da erhob sich der Kranke mühsam und ging auf sie zu. Er kam wie einer, der etwas nehmen will, und Frau Sophie zitterte unter seinem Blick. Sie zitterte vor seinen kranken Händen und sah, wie er seine kalten, harten Finger ihrem Gott an die Kehle legte, um ihn zu würgen. Und sie flehte vor ihrem Sohn für ihn:

»Mitleid.«

Gerhard blieb vor ihr stehen.

Sie stöhnte in fortwährender Abwehr wie gegen einen Fluch: »Ich glaube an Gott.«

Er stand vor ihr und hielt ihre zitternden Hände.

Er nickte: »Ja«, und sagte dann, als ob er jemandem nachspräche: ». . . aber dein Gott kann mir nicht die Krankheit nehmen. Ich habe sie nicht von ihm; die hat mir mein Vater gegeben.«

Entsetzt sah ihn die Mutter an.

Er ertrug ihr Auge. Da wurde es immer ohnmächtiger und müder. Er ließ ihre feinen Hände fallen, schob einen Stuhl näher und setzte sich. So trafen sich ihre Blicke, und sie dachten: Wir sind so fern von einander.

Sie waren einander sehr ähnlich, aber es war schon spät, und sie konnten ihre Züge nicht erkennen. So saßen sie, und der Kranke fühlte: Also ich werde ganz allein sein die kurze Weile. Unsere Lippen können sich nichts mehr schenken, denn lächeln wird sie nicht mehr, ihre Küsse gehören ihrem Gott, und ihre Worte sind aus einer fremden Sprache. Ich werde also ganz allein sein. Sie aber hat ihren Gott.

Sie schwiegen.

Dann sagte sie, und es war, als schickte sie ihre Worte über einen breiten, rauschenden Fluß von Ufer zu Ufer:

»Seine Briefe waren so furchtbar. Er hungert. Ich hab deinem Vater Geld geschickt – verzeih.«

Er jubelte auf: »Ich habs auch getan.«

Erfüllt von demselben, dankbaren Leuchten fanden sich ihre Augen.

Alle Fernen schmolzen.

Und ihre Hände schlossen sich innig zusammen wie die zweier Menschen, die einander helfen wollen. –


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