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Mittags waren in dem alten Haus gegenüber der Malteserkirche – drei Treppen hoch – die neuen Mieter eingezogen, und bis zum Abend wußte man nur, daß sie ungewöhnlich große Möbel mitgebracht hatten, die in den engen Windungen der Wendeltreppe fast stecken geblieben wären. Und die alte, triefäugige Hökin, die nahe, unter den dunklen Steinlauben, saß, konnte sich kaum beruhigen in Erinnerung der riesigen Eichenschränke und beschwor die Nachbarn, ihr zu glauben, daß es »hochherrschaftliche« Schränke gewesen seien. Diese Versicherung bewirkte, daß eine ungewöhnliche Unruhe die vielen kleinen Parteien des bewußten Hauses in Atem hielt: jeden Augenblick kam aus irgend einer der weißlackierten Türen, auf deren jeder um ein Blech- oder Glasschild herum sich ein paar schmutzige Visitenkarten drängten, ein unordentliches Frauenzimmer heraus, lauschte die Treppe aufwärts, und fuhr beschämt zusammen, wenn es da schon auf andere Horcher stieß, welche ebenfalls in Schrecken sich zurückziehen wollten, bis die gleichgesinnten Seelen einander erkannten und ihre hungernde Neugier durch dunkle Vermutungen nur noch mehr anreizten.
Plötzlich aber wurde die weibliche Bewohnerschaft aus dem engen Treppenhaus, welches wie eine Wirbelsäule durch das Gemäuer aufwuchs, nach den Hof-Fenstern hingezogen. Tief unten in dem röhrenförmigen Hofe, wie am Grunde eines Brunnens, begann ein Leierkasten schluchzend die Melodie aus dem ›Bettelstudent‹, und zugleich waren auch schon – man wußte nicht woher – ein paar Kinder dabei, welche um den alten Saufbold einen wilden und seltsamen Tanz aufführten. Die Töne aber kamen nach gequältem Ächzen wie ein Rülpsen aus den trockenen Orgelkehlen, schienen emporzuschnellen und wie unsichtbare Lassoleinen an den verschiedenen Hälsen zu ziehen, welche in ganz unglaublicher Länge aus allen Lucken und Küchenfenstern herauswuchsen und als ein bizarrer architektonischer Schmuck die Kahlheit der Wände unterbrachen. Die Frauenzimmer, welche sich da von hüben und drüben begrüßten, sahen einander in der Dämmerung zum Verwechseln ähnlich; ihre Gesichter schienen alle, wie ein vorsichtiges Mimicri, die unbeschreibliche Mißfarbe der Mauer angenommen zu haben, und auch in Bewegung und Stimme war eine so überraschende Einheitlichkeit zu bemerken, daß sie mehr als zugehörige Organe dieses Hauses, denn als freibewegliche Einzelwesen erscheinen mochten. Man könnte nun leicht glauben, daß die Aufmerksamkeit der vielen Köpfe dem erbärmlichen Leierkasten gehörte, – denn manche nickten sogar den Takt mit; in Wahrheit aber wuchsen alle Augen ganz sachte zu dem Küchenfenster des dritten Stockes, und manch leichtgläubiges Ohr glaubte dessen Riegel klirren zu hören. Allein die Drehorgel hatte sich mit einem Galopp, zu dem ein kleiner schwarzer Rattler die Begleitung heulte, erschöpft, der Spielmann brüllte seinen Dank und schlürfte mit schweren Schritten davon. Der helle Schwarm der Kinder zog wie eine Kette hinter ihm her, und mit einemmale fühlten alle die Stille und das Dunkel des dumpfen Hofes. Aber gerade in diesem eigentümlich lauschenden Augenblick ging das ersehnte Fenster fast unhörbar auf, und die alte Magd Rosalka neigte sich weit vor. Fast alle Köpfe tauchten unter, nur eine kecke, ungeduldige Stimme schrie: »Na, seid ihr schon fertig eingezogen?« Die Magd Rosalka nickte nur, und gerade, als der Leierkasten in einem nächsten Hause leise etwas sehr Wehmütiges begann, setzte sich die Alte wie ein großer, trauriger Vogel ins schwarze Fenster und ließ nachlässig, als wären es Kartoffelschalen, Stück für Stück die Lebensgeschichte ihrer Herrschaft in den horchenden Hof hinunterfallen. Und wenngleich jetzt niemand an den Fenstern zu sehen war, so ging doch keines von ihren breiten Worten den Mauern verloren, aus denen nur dann und wann eine ermunternde Frage aufstieg. Eine Stunde nachher, als sie bei den Maltesern Ave läuteten, kannte auch die alte Hökin unter den Steinlauben das ganze Schicksal der Försterswitwe Josephine Wanka und ihrer beiden Kinder und gab es ihren letzten, täglichen Kunden, dem Gerichtskanzlisten Jerabek und dem Lakaien Dvorak nebst den »hochherrschaftlichen« Schränken mit.
Aber vielleicht hätte es gar nicht der Generalbeichte der Alten gebraucht, um dem Durste der Frauenzimmer genugzutun. Denn die drei Menschen, die aus dem kleinen Krummau in die Hauptstadt übergesiedelt waren, trugen ihre Erinnerungen und Erlebnisse gleichsam über den Kleidern, so daß man nur anzustreifen brauchte, um ein Stück davonzutragen. Zum Teil lag dies wohl an dem Gebrauche der kleinen Stadt, drin sich jeder mit seiner Freude schmückt und sein Leid auch möglichst sichtbar mitträgt; wer so unklug ist, da nicht mitzutun, dem wird beides aus dem heimlichen Versteck von den unbarmherzigen Händen der Nachbarn herausgezerrt, und er mag sehen, ob er in dem von Haß und Hohn entstellten Gerücht seine leise Freude oder seinen stillen Kummer wiedererkennt. Bei der Familie Wanka mochte aber diese Freimütigkeit zunächst darin ihren Grund haben, daß das jüngste und folgenreichste Ereignis ihres Lebens immer noch – obwohl ein Jahr seither vergangen war – über ihnen lag. Besonders bei den Frauenzimmern merkte man noch die Spuren des Schicksals, gleichsam die Abdrücke seiner brutalen Griffe in ihren Gesichtern, und man hörte die Angst, welche immer irgendwo im Hintergrunde ihrer Stimme wartete, um sich plötzlich ohne Grund über alle Worte auszubreiten. Nur der etwa zwanzigjährige Sohn, Zdenko, hatte etwas Ernstes und Verschlossenes in seinem strengen Gesicht, das ihn schnell aller Sympathien beraubte; der Umstand allein, daß er – so hörte man schon in den ersten Tagen – Student der Medizin sei, verursachte, daß man ihm an Stelle der Zuneigung eine gewisse trotzige Achtung schenkte, die er jedoch nicht zu bemerken oder abzulehnen schien. Aber wenn die Frauen in ihrem Wesen sich auch fortwährend verrieten, behielten sie gleichviel etwas Kühles den dienstwilligen Hausgenossen gegenüber, und seit jenem ersten Tag waren Wochen vergangen, ohne daß eine von den Nachbarinnen die Stuben der Frau Försterswitwe betreten hätte. Dieses war, dank seiner schweren Erreichbarkeit, nach und nach zu einem von allen im Wetteifer angestrebten Ziele geworden, und man scheute keine List und kam bis in die späten Abendstunden, von Wankas einen Zuckermörser oder einen Korkzieher, den man merkwürdig oft verlegte, oder endlich den Bodenschlüssel entleihen, Dinge, welche man meistens davontrug, nebst dem Ärger, nicht über die Schwelle des Wohnzimmers gesehen zu haben.
Diese hoffnungslose Hartnäckigkeit stand in keinem Verhältnis zu den ursprünglichen Geständnissen der alten Magd, und es war begreiflich, daß man von ihrem Entgegenkommen alles Weitere erwartete; doch auch sie schien schweigsamer und mißtrauisch zu werden und begann, wenn man sie bedrängte, immer wieder die eine Geschichte zu erzählen, welche längst alle kannten: von dem Märzmorgen, an dem die Holzknechte den Revierförster Joachim Wanka, von Wilddieben erschossen, aus dem Walde heimgebracht hatten. Und daß sein Gesicht voll erstarrten Zornes war und dunkel, gleichsam ganz im Schatten der buschigen Brauen, dalag, und wie seine Fäuste sich nicht mehr lösten, auch in den vielen Tränen nicht, so daß der Förster wohl seine liebe Not haben würde – einmal – am Jüngsten Tage zu tun, als sei er die ganze Zeit mit fromm gefalteten Händen dagelegen. Dann bekreuzte sich die Alte mit gewohnheitsmäßigem Ungefähr und versicherte zum Überfluß, sie habe aus Träumen und Zeichen längst bevor das ganze Unheil gewußt und auch daraus, daß der Herr Julius Cäsar im Krummauer Schloß wieder umgegangen sei und es dem Kastellan geschah, daß in einem Armstuhl der Kaiser Rudolf ihm gegenübersaß und, den Kopf in die Hand gesenkt, über das nächtliche Moldautal fort in die Sterne sah.
Wer solches nicht glauben mochte, den pflegte die alte Rosalka kurzweg zu verachten; denn sie hielt das für einen Mangel von Bildung und Erfahrung und für eine von den vielen üblen Folgen jener Kultur, die »in der Großstadt« immer mächtigere Fortschritte macht. Sie konnte dann auch nicht umhin, am Abend, wenn Frau Wanka mit ihrem Sohn gar ernste und bedachtsame Gespräche zu führen schien, die Tochter Luisa, welche so ganz überflüssig mit großen, verlorenen Augen dabeisaß, heimlich in die Küche hinauszuwinken und sie vor dem sündigen Munde der Ketzer zu warnen, welche vor nichts mehr Scheu hätten – vor keinem Kirchhof und vor keiner Mitternacht, ja, nicht einmal vor beiden zusammen. Und da war über ein Kurzes jene Stimmung heraufbeschworen, in der die Alte sich zu Hause fühlte: die Dinge rundum, vom steifen Küchenschrank bis zu dem plumpen Waschtrog, welche eben noch so nüchtern dagestanden hatten, begannen mit einemmale lauschend zu werden, und es war, als rückten sie, um kein Wort Rosalkas zu verlieren, näher und näher an die beiden Frauen heran, Geräusche erwachten wie von Schritten, und ohne Grund lachte eine von den alten Blechpfannen: »plink!« Dann hielt die Magd ein, und mit klopfendem Herzen verfolgten beide den silbernen Ton, und ihnen geschah, daß eine unsichtbare Uhr irgend eine bedeutsame Stunde geschlagen hätte. Und manchmal ging die alte Küchenlampe, wie im Einverständnis mit Rosalka, gerade während dieses Hinhorchens aus, und die satte Dämmerung wurde schwer und schwül von tausend taumelnden Möglichkeiten. Luisa, welche immer ganz stumm in einer Ecke saß, wurde kleiner und kleiner diesen Mächten gegenüber; sie schien sich aufzulösen und nichts zurückzulassen als zwei ängstliche große Augen, welche den Spukgestalten mit einem gewissen gläubigen Vertrauen nachgingen. Es war dann wie in dem großen Maskensaal des Krummauer Schlosses, dessen Wände bis hoch zur gewölbten hallenden Decke hinauf mit lebensgroßen Gestalten bemalt sind. Ein französischer Maler soll vor vielen hundert Jahren diese Karnevalsgruppen so geschickt, in so reichem und überraschendem Wechsel komponiert haben, daß man – selbst am lichten Tage – hinter jeder Figur immer noch neue, phantastisch verkleidete Gäste auftauchen sieht. In Krummau aber weiß man ganz bestimmt, daß solches nicht an dem Verdienste des Malers, sondern an dem seltsamen Umstand liegt, daß die Ritter und Damen zu einer gewissen Stunde zu erwachen beginnen, um das Schauspiel jener einen fernen Nacht zu wiederholen. Aus den Wänden steigend, erfüllen sie den Saal mit ihrem schimmernden Gewimmel. Bis die riesigen Grenadiere an der Saaltüre die Hellebarden hart an den Boden stoßen: da ordnen sich die Reihen. Ein Donner rollt über sie hin. Mit seinem wilden, schwarzen Sechsgespann ist Prinz Julius Cäsar, des zweiten Rudolf heimlicher Sohn, an der ragenden Rampe vorgefahren, und kaum einen Atemzug später steht er, schwarz und schlank, mitten unter den Gästen, die sich tief, tief verneigen, wie eine Zypresse im wehenden Ährenfeld. Dann mischt die Musik die Menge, eine fremde Musik, welche bei dem Aneinanderstreifen der kostbaren Kleider zu entstehen scheint und, wachsend, sich breit und brausend aus den Massen erhebt, wie die Melodie eines Meeres. Und da und dort teilt der Prinz mit einem Wink die glänzenden Wellen, verschwindet in ihnen, steigt an der anderen Ecke stolz aus ihnen empor, läßt sein leuchtendes Lächeln wie einen Sonnenblitz über sie hingleiten und schleudert ein helles, übermütiges Wort, gleich einem köstlichen Ring, nach dem alles hascht, mitten ins Gewoge hinein. Und unter dem wilderen und wühlenden Hin und Wider wächst die heimliche Lust. An eines silbernen Ritters Seite erkennt der Prinz ein blasses, blaues Fräulein und fühlt zugleich: die Liebe zu ihr, den Haß für ihren Begleiter. Und beides in ihm ist rot und rasch. Und er hat den silbernen Ritter wohl zum König gemacht; denn dem fließt über den blanken Panzer ein Purpur nieder, immer breiter und blutender, bis er stumm zusammenbricht unter der Last des fürstlichen Mantels: »Es geht manchem König so«, lacht ihm der Prinz in die sterbenden Augen. Da erstarren die festlichen Gestalten vor Grauen und blassen langsam und bang in die verlöschenden Wände zurück, und wie ein fahles Felsland steigt der verlassene Saal aus den letzten leuchtenden Wellen. Nur Julius Cäsar bleibt zurück, und das gierige Glühn seiner heißen Augen versengt dem blassen Fräulein die Sinne. Aber wie er sie greifen will, entreißt sie sich seinen zwingenden Blicken und flüchtet in den schwarzen, hallenden Saal; ihr leichtes, blaues Seidenkleid bleibt, zerfetzt, wie ein Stück Mondlicht in den wilden Fingern des Prinzen, und er windet es sich um den Hals und würgt sich damit. Dann tastet er ihr nach in die Nacht hinein und jubelt plötzlich auf. Er hört, sie hat die kleine Tapetentür entdeckt, und er weiß: nun ist sie sein; denn von da giebt es nur einen Weg: die schmale Turmtreppe, die in das kleine duftende Rundgemach mündet – hoch im Moldauturme. Und mit übermütiger Hast ist er hinter ihr, immer hinter ihr, und er vernimmt nicht ihren verscheuchten Schritt, aber wie einen Glanz sieht er sie bei jeder Wendung der Treppe vor sich her. Da faßt er sie wieder, und jetzt hält er das zarte, angstwarme Hemdchen in der Hand, nur das Hemdchen, und seinen Lippen und Wangen ist es kühl. Es schwindelt ihn, und wie er seine Beute küßt, lehnt er zögernd an der Wand. Dann mit drei, vier Tigersprüngen taucht er hinauf in die Tür des Turmgemachs und – erstarrt: hoch vor der Nacht ragt, nackt, der reine weiße Leib, wie vom Fensterrande aufgeblüht. Und reglos sind sie beide. Aber dann, eh er's noch denkt, heben sich zwei helle, kinderzarte Arme in die Sterne hinein, als wollten sie Flügel werden, es verlischt etwas vor ihm, und vor dem hohen Fensterbogen ist nichts mehr als hohle heulende Nacht und ein Schrei . . .
»Und du bist wirklich achtzehn?« sagte Zdenko und neigte sich über sein erschrockenes, weinendes Schwesterchen, welches, ganz klein und scheu, in dem Winkel der Küche kaum zu finden war. »So kommen dir deine alten Gespenster auch her, nach Prag, nach? Oder hat Rosalka sie in ihren Töpfen und Pfannen mitgebracht?« Die alte Magd wandte sich grollend ab. »Ja«, zögerte Luisa, »ja«, und atmete stockend auf, »zuerst, wie wir herkamen, hab ich gedacht, ich bin sie los. Wie ich die hellen Häuser gesehen habe und die breiten Gassen, da war mir ganz frei und fröhlich; hier aber auf der Kleinseite ist es fast noch schlimmer als bei uns. Nicht?« Und langsam schaute sich das Mädchen um. Zdenko aber zog sie hinter sich her in die helle Wohnstube. »Natürlich, wie ichs gesagt habe«, rief er seiner Mutter entgegen, – »während wir hier reden, ist sie schon wieder bei der alten Hexe draußen und ganz aufgeregt von dem ewigen Unsinn.« Frau Josephine schüttelte leise den Kopf mit den breiten, grauen Scheiteln und sagte: »Wann wirst du denn mal vernünftig werden, Kind?« Sie nähte ruhig fort an weißen Leinenstücken, und in dem Korb neben ihr wartete noch viel Arbeit. Doch nach einer Weile legte die Witwe die zerstochenen Finger in den Schooß und sah der Tochter ins Gesicht. Luisa hatte, von der hellen Lampe geblendet, die Augen geschlossen, und in ihrem zarten blassen Gesichtchen war eine so deutliche Angst zurückgeblieben, daß die Mutter erschrak. Es fiel ihr mit einemmale auf, wie schwach und schmächtig das Mädchen war, und ob sie überhaupt Kraft genug haben würde, im Leben einmal ganz ohne Halt und Hilfe aufrecht zu bleiben. Die gütigen, blaßblauen Augen der Mutter trübten sich in Tränen, es konnte aber auch von der Anstrengung sein; denn das Weißnähen ist eine mühselige Arbeit, und die Lider der Frau Wanka waren stets ein wenig gerötet davon. Luisa, die den Blick gefühlt haben mußte, ging nach einer Weile daran, der Mutter zu helfen. So waren beide Frauen über das Linnen gebeugt, und die Hängelampe beleuchtete grell den grauen und den blonden Scheitel. Jetzt sagte Zdenko: »Ich weiß nicht, ich bilde mir immer ein, die Luisa ist so klein geblieben vor lauter Ehrfurcht. Wirklich. Es kann so sein. Wenn einer immer, von ganz klein auf, lauter so große Dinge sieht wie sie, – denkt euch nur das Schloß auf dem steilen Felsen, diese hohen Höfe, die großen Kanonen auf den Schanzen, und endlich in den Sälen – Stühle und Bilder und Vasen – alles wie für Riesen gemacht – dann wächst er diesen Dingen entweder nach . . .« (Frau Wanka sah ihrem Sohn lächelnd ins Gesicht und nähte dann eifrig weiter) »oder – er verliert überhaupt allen Mut, ihnen nachzuwachsen. Denn er muß sich denken: so groß werd ich ja doch nie. Und vor lauter Schauen und Staunen vergehen die Tage, und man vergißt auf sich selbst und darauf, daß diese Dinge doch eigentlich nur ein Beispiel sind. Glaubst du nicht, Luisa?«
»Vielleicht«, nickte die Schwester und unterbrach nicht ihre Arbeit.
»Ich habs ja auch mal empfunden, daß einen das drücken kann – als Bub.« Zdenko sah über die Frauen fort ins Unbestimmte. »Aber dann kommt einmal der Ruck, da man sich vor alledem auf die Fußspitzen stellt, statt davor hinzuknieen, und hat man das erst einmal weg, dann ists nicht mehr lange bis zum Drüberhinsehen. Und glaubt mir, das macht alles aus. Nur immer alles überschauen. Der zu höchst steht, ist immer der Herr. Ich hab es immer schon ganz deutlich geahnt, was unsere Zeit so verworren macht und so unsicher; aber jetzt, seit ich hier in der Stadt bin und viele Menschen sehe – weiß ichs: daß keiner drüber steht. Ihr sagt mir, das ist falsch: über der Stadt ist der Bürgermeister und über ihm der Statthalter, und der muß wieder zum König ein gut Stück hinaufsehen und der König zum Kaiser und dieser zum Papst. Der Papst aber reicht trotz seiner dreimalhohen Krone immer noch nicht bis zum lieben Gott hinauf, meint ihr. Ich denke, das kommt davon, daß man das Ding meistens vom verkehrten Ende ansieht. Mir scheint, ganz tief unten ist der liebe Gott und ein wenig über ihm der Papst und so fort. Oben aber ist das Volk. Das Volk aber ist ja nicht eines, das sind viele; sie stoßen und schieben einander, und es verstellt einer dem anderen die Sonne. Da mein' ich halt immer, – irgend einen müßten sie von Zeit zu Zeit in die Höhe heben, nicht zu hoch (er könnte leicht hinunterfallen bis dorthin, wo der König ist oder der Kaiser), aber doch so, daß er ihre starken und treuen Schultern unter sich fühlt und mit ruhigem Bedacht eine Weile lang hinschauen kann über ihre Köpfe. Wenn er dann wieder unter ihnen steht, wird er wie aus der Heimat zurückgekehrt sein und seinen Brüdern sagen können, wo die Sonne aufgeht und wie lang es noch währen mag bis dahin – und so manches mehr. So aber . . .« Zdenko verdeckte seine Augen mit der Hand. Dann erhob er sich heftig: »Mna, laßt jetzt die Plackerei und geht schlafen; es ist spät. Die Lampe wird auch gleich verlöschen.« Seine Stimme war rauh. Er bemerkte erst jetzt, daß Luisa nicht mehr über das Weißzeug geneigt dasaß; ihre Augen brannten ihm entgegen, groß und leuchtend wie nie. Und seltsam, er sah sich in diesen Augen und richtete sich stolz und stark auf wie vor einem Spiegel.
Seine Mutter aber nähte immerzu mit rüstigem, rastlosem Mühen, und Zdenko hatte ganz plötzlich das Bedürfnis, zu ihr hinzutreten und ihr die Hände zu küssen.
* * *
Es war nicht Mißtrauen, welches die Magd Rosalka still und schweigsam gemacht hatte den Hausgenossen gegenüber. Alten Leuten ergeht es oft so, wenn sie, aus der gewohnten Kleinhäuslichkeit ihrer Provinzstadt vertrieben, sich in einem neuen Orte zurechtfinden sollen; sie können sich den größeren Maßstäben nicht anpassen und sind wie aus einer engen Stube in einen hallenden Saal versetzt, drin ihre heimlichsten Worte wie von unsichtbaren Chören laut nachgesprochen werden, während ihre vielen heftigen Gesten sich in der Weite dieses teilnahmslosen Raumes zu verlieren scheinen. Im Anfang gefällt ihnen das der Neuheit wegen, aber bald fühlen sie es wie eine Anstrengung, die, ohne genügenden Lohn, entmutigend wirkt, und lassen von einem Morgen an die Hände im Schooß und die Worte auf der Zunge liegen. Es kommt nämlich noch dazu, daß die Leute auf dem Lande um ein Tüchtiges bescheidener sind. Da genügt es, einmal ein recht ansehnliches Unglück gehabt zu haben, um für alle Zeit, bis zum letzten gottseligen Tage, das achtungsvolle Bedauern der Bekannten wie eine lebenslängliche Rente zu beziehen. Aber »in der Großstadt« sollte man ja – grollte die Alte – um halbwegs obenauf zu bleiben, mindestens wöchentlich einmal einen Vater verlieren und alle drei Wochen von der Treppe oder aus dem Fenster fallen. Sie gedachte mit betrübten Augen ihrer »Stellung« in Krummau und konnte es ihrer Herrschaft nicht verzeihen, daß sie, um dem Zdenko die Universität zu ermöglichen, nach Prag übergesiedelt wäre. Sie vergönnte es der Frau Förster, daß sie nun selbst ein paarmal der Woche in »Häuser« gehen mußte, um durch Weißnäharbeit zu ihrer kleinen Pension und dem fürstlich Schwarzenbergschen Gnadengehalt das hinzuzuverdienen, was der neue Haushalt und die Heranbildung des Sohnes verlangte. Sie wußte auch, daß Frau Wanka dem Zdenko jedes Opfer bringen würde und den dunkeln Wunsch hatte, in ihm einen »studierten Doktor« zu sehen, welches für Rosalka als das ungebührliche Streben einer zügellosen Hoffart, um derenwillen man sich dreimal bekreuzen mußte, erschien.
Anders faßte man dieses Trachten der Witwe in dem Hause der Frau Oberst a. D. Meering von Meerhelm auf, wo die Försterin jede Woche einmal, und zwar am Montag, dem Wäschetag, die Putzwäsche ausbesserte. Frau Charlotte Meering lobte nämlich den Eifer der Mutter und tadelte dabei nur, daß Zdenko Wanka die böhmische statt der deutschen Universität bezogen hätte. Dieser einleuchtende Mißgriff war schuld, daß man ihn nie zu sich bitten konnte. Vergebens versicherte die Witwe, daß das ganz im Sinne ihres armen seligen Mannes geschehen sei, der ein guter Tscheche gewesen wäre; die Oberstin lächelte nur vornehm und konnte, wie sie sich ihrem Gemahl gegenüber ausdrückte, »die Beschränktheit dieser Leute nicht verstehen«. Dafür durfte Luisa die Mutter manchmal abholen kommen und, wenn sie versprach, nur deutsch zu sprechen, zehn Minuten mit den Meeringschen Kindern, einem fünfzehnjährigen Rangen und der etwan drei Jahre jüngeren Lizzie, »spielen«. Der Erfolg war freilich immer ein entgegengesetzter, d. h. die beiden Geschwister stürzten sich auf das scheue und ängstliche Mädchen und begannen es, wie irgend ein Ding, zu schieben und zu stoßen, bis Frau von Meering meist gerade in dem Augenblick in die Tür der Kinderstube trat, da Luisa, an einen Schrank gebunden, ein weißes Opfer darstellte, während ihre Sprößlinge sie mit wildem Siegesgeheule, nach Indianersitte, umsprangen. Da war es nun nicht erstaunlich, daß Luisa sich diesen Besuchen keineswegs entgegenfreute und dankbar war, wenn die Mutter ihr verstattete, sie im Flur oder in der Straße zu erwarten. Manchmal kam dann gerade der Herr Obrist an ihr vorbei nach Hause und blieb, da er die Schrecken des Wäschetags vermeiden wollte, noch einen Augenblick vor dem Mädchen stehen. Der kleine, etwas dickliche Herr, der einen großen Ehrbegriff inwendig und einen großen Orden auf der Außenseite seiner Brust trug, blies mit einiger Behaglichkeit seinen Schnurrbart auf und leitete das kurze Gespräch immer also ein:
»Warten auf den Herrn Bräutigam, gnädiges Fräulein?«
Darauf wurde Luisa jedesmal so rot, als die schlechte Beleuchtung der Gasse es notwendig machte. Der alte Herr freute sich daran und erkannte von einem Mal zum nächsten immer deutlicher die Köstlichkeit seines Witzes, den er beim Abendessen, natürlich nachdem die Kinder zu Bette waren, gerne seiner Lotti wiederholte. Sonst wußte er ohnehin nicht viel zu erzählen. Denn es lag etwas Versonnenes in seinem Wesen, welches man auch durch dieses Beispiel beleuchten kann. So hat er mehr als fünf Jahre darüber nachgedacht, was der Wink, den man ihm zeitweilig von »oben« gab, bedeuten mochte. Verstanden hat er ihn freilich erst viel später, als das rastlose Winken höherenorts schon eine Art von Sturm hervorgerufen hatte, welcher endlich den Herrn Obristen von dem gefährlichen Gipfel eines Regimentskommandos sachte in das beschauliche Tal des Ruhestandes herunterwehte, in dem er sich nun – nach wie vor sinnend – erging. Er war ein Mann, der die Tiefen des Lebens nach den schauerlichen Abgründen alter Kalendergeschichten bemaß und sich oft verwunderte, wie hoch er, allen Fährlichkeiten zum Trotz, auf der irdischen Rangleiter emporgekommen war. Seine gerechte Gesinnung teilte aber nicht nur ihm selbst rückhaltlose Anerkennung zu, er wußte jeden nach Wert und Würden zu behandeln. Seit er erfahren hatte, daß der verstorbene Wanka fürstlicher Förster gewesen war und daß auch Frau Josephine dann und wann im Schlosse Frauenberg die Kammerfrau vertreten mußte, sah er die Witwe gerne in seinem Hause und fühlte einen Hauch indirekter Fürstenhuld von dieser Familie ausgehen.
Wenn Frau Wanka an diesen Montagabenden endlich mit müden Augen aus dem Tor des Meeringschen Hauses trat, küßte sie die Tochter, und die beiden Frauen gingen, meist ohne ein Wort zu tauschen, durch die lebhaften Gassen der Neustadt der steinernen Brücke zu. Erst wenn sie aus der lauten Brückengasse in die schmalen, kaumbeleuchteten Zweiggäßchen eingelenkt waren, löste sich ihre Stimme, und sie begannen leise und langsam von Zdenko zu reden, wie zwei Spieluhren, die zaghafte Lieder träumen mitten in der Nacht. Über ihren Gesprächen war eine treue, rührende Zärtlichkeit, die um so inniger klang, als sie niemals in die Worte herunterstieg, aber die Frauen ganz erfüllte, ihre Bewegungen verschönte und ihr Lächeln leuchtender machte. Seit jenem Abend, da Luisas Augen sich so seltsam entzündet hatten an den heißen Worten des Bruders, war er für sie ein Anderer geworden, ein Mächtiger; und wenngleich die Liebe, die Frau Wanka ihrem Sohne bewahrte, tieferen Quellen entsprang, so verstanden Mutter und Tochter einander doch in dieser lauschenden und leisen Sprache und sagten einander darin mit vielen Worten etwa dieses: er ist ein Anderer geworden.
Sie hatten recht damit. Eine freudige Erregung war über den jungen Menschen gekommen. Die Freundschaft mit dem Wald und die rüstige Ruhe seines Vaterhauses hatten ihn beschenkt, immer und immer wieder, und was man dafür von ihm wollte, war so lächerlich gering gewesen. Wenn er die Jahre vor des Vaters Tode überdachte, war er jetzt geneigt, zu glauben, er hätte eigentlich nur einen einzigen Tag gekannt, der, zufrieden und satt, hinter jeder Nacht immer wieder hervorkam – bis zu dem ersten schweren Schmerz: dem gewaltsamen Tode des teuren Vaters. Hinter dem lag etwas Lebloses und Leeres, das wie ein Ausruhen war oder wie ein Vergessen. Aber mitten drin – so empfand er das – war dann eine Türe, ein Tor irgendwo aufgegangen, und nun stürmten sie herein, lauter junge und bunte Tage, die ihm in ungeduldigem Heischen die Hände hinhielten. Was war er ihnen dankbar für ihr Begehren! Wie ein Heimgekehrter stand er da, der Gaben austeilt nach allen Seiten, und die Dinge sind weither, und jeder der Beschenkten weiß sie zu verwenden. Wanka hatte das Gefühl, daß die ganze Welt aus seiner Tasche lebte, und es sollte ihr nicht schlecht gehen dabei. Er war immer in einem Kreise junger Leute zu finden, denen er ernste und lose Einfälle in buntem Durcheinander hinwarf, und sie fanden alle genug darin, um ihre Tage damit zu füllen und ihre Nächte. Er bemerkte nicht das Ziellose in diesen jungen Köpfen; denn er hatte selbst kein Ziel, weil er tausend hatte und heute dieses, morgen jenes zu greifen vermeinte. Diese Art zu leben brachte ihn mit einer großen Menge Menschen in Berührung, und allen gab er sich mit derselben Treue hin, und wenn er sich einmal wieder recht an einem eigenen neuen Gedanken begeistert hatte, so glaubte er es den Menschen danken zu müssen, welche ihn mißtrauisch umstanden. Nach und nach wurde er stiller, hörte nun auch die Gegenreden aufmerksam an und fand, daß er eigentlich nicht imstande war, ihnen zu antworten. Langsam begann er einzusehen, daß alle seine Begeisterungen Bruchstücke eines großen Monologes waren, und dieses Erkennen ernüchterte und vereinsamte ihn sehr.
Nächtelang saß er jetzt schweigend an dem Stammtisch des Nationalcafés, an welchem Männer verkehrten, die älter und ernster waren als er und von denen er glaubte, daß sie an der Spitze des Volkes ständen. Es waren Dichter und Maler, Schauspieler und Studenten. Sie hatten alle etwas in ihrem Gehaben, was ihn früher stark abgestoßen hatte, allein er suchte sich daran zu gewöhnen. Nach dem Theater fanden sie sich müde und mürrisch zusammen, und wenn sie sich begrüßten, lächelten sie einander mitleidig zu. In ihren Kleidern war entweder etwas übertrieben Vornehmes oder eine grobe Vernachlässigung zu bemerken, und man konnte auf den ersten Blick schwer erkennen, was sie vereinte. Erst einige Gläser Tschaj oder Budweiser Bieres machten begreiflich, daß die Ähnlichkeit in den großen Worten liege, welche immer zahlreicher und ungestümer von ihren Lippen kamen, je später es wurde. Ein Unterschied blieb allerdings noch darin bestehen, daß die in den modernen Kleidern ihre Worte gleichsam nur vor sich auf den Tisch legten mit der Warnung: nicht anrühren, während die anderen sie einfach in die Luft warfen, gleichviel wen sie treffen mochten. Da hörte nun Wanka die Angelegenheiten der »Nation« verhandeln, er erfuhr zum erstenmal von ihrer Bedrängnis und Not, von ihrer stillen und innigen Sehnsucht. Eine Beschämung überfiel ihn plötzlich wie einen Lachenden, der erfährt, daß ein Toter im Hause sei, und er dachte darüber nach, wie es denn geschehen konnte, daß er von all diesem Drückenden gar nichts gemerkt hatte alle Jahre lang. Er dürstete, recht viel davon zu erfahren, aber wenn er sich den Männern wieder zuwandte, entdeckte er, daß sie ganz in demselben Tone längst von anderen Dingen sprachen, von der Kunst und ähnlichem. Und er sah mit einemmale, daß ihre Begeisterung nichts als Heftigkeit war, und daß sie nichts Gemeinsames besaßen als ihre Einbildung. Da zog er sich von ihnen zurück. Er blieb wieder die Abende zu Hause, widmete sich mit mehr Fleiß seinen Studien an der Universität und bildete sich eine Zeitlang ein, es sei alles wie vordem. Bis ihm an solch einem Abend, wie damals, als er Luisa bei ihren Gespenstern in der Küche fand, ganz von ungefähr sein innerstes Nachsinnen zu Worten wurde. Seither wußte er auch, daß er den Leuten auf der Gasse anders in die Augen sah, bemüht, in ihren Mienen die Spuren jenes Leidens zu finden, von dem sein Volk heimgesucht sein sollte. Da und dort glaubte er jetzt wirklich eine gedrückte, geknechtete Gestalt zu bemerken, allein, wenn er näher zusah, erkannte er enttäuscht, daß es nur die Last der Armut war oder des Elends, welche auf den fremden Schultern lag, nicht das Joch der Knechtschaft. Und doch ließ es ihm nicht Ruhe. Er fühlte immer noch Kräfte in sich und fragte bei jedem Tage an, ob sein Volk ihrer bedürfe. Er wurde immer ratloser und unzufriedener, hielt es weder im Lehrsaal noch in der Wohnstube aus, wo Luisa saß und ihn mit großen, fragenden Augen erwartete. So machte er weite Spaziergänge.
Einmal im Frühling war er den Podskal entlang gegangen, tief in Sinnen, und als er aufblickte, ragte auf teilweise abgegrabenem Terrain ein graues, einförmiges Gebäude vor ihm auf, dessen Fenster ihm leer, wie ausgebrannt, entgegenstarrten. Wanka hielt es für eine einstige Kaserne, welche nun der Demolierung preisgegeben war, und trat, da der Platz nicht weiter abgeschlossen schien, durch eines der gähnenden Tore ein. Die Höfe waren mit Türrahmen und Türen, Brettern und allerlei altem Gerümpel angefüllt, und diese Dinge sahen ganz unglaublich traurig aus in dem glanzlosen, langsam verlöschenden Licht des späten Nachmittags. Der Student wandte sich ab und, von irgend einem Gefühl bestimmt, stieg er die ausgetretenen Holztreppen hinauf und ging weite weiße Gänge entlang und durch viele geweißte Räume hin, deren Decken niedrig, deren Dielen zum Teil aufgerissen waren. Und dann schritt er noch eine Treppe hinan und stand wieder in einem Gang, dessen Schlußwand schon halb eingerissen war, sodaß der Wind breit hereinkonnte, aus dem grauen Tag. Er riß Strohhalme von den Sparren der Decke los und trieb sie, wie Pfeile, dem Fremden entgegen. Wanka trat gleich in eine der nächsten Türen ein und fand sich in einer engen, kaum drei Schritte breiten und nicht viel längeren Zelle, die ganz gleichmäßig erfüllt war mit dem spärlichen Licht, das durch eine vergitterte Öffnung, nahe der Decke, hereinfloß. Die weißgrauen Wände waren mit vielen Ritzen wie mit einem seltsamen, wirren Muster bedeckt, und erst nach einem Augenblick erkannte der Student, daß dieses Muster sich in Worte und in Bilder löste; Gebetsworte und Flüche, Namen und Orte las er, und alles hineingeritzt in wilde, grinsende Fratzen, merkwürdig verschmolzen mit den Linien ihrer Nasen und Augen, mehr wie beredte Falten und Runzeln, als wie Schriftzüge. Und ein Gesicht wuchs hinter dem anderen hervor, bleich und bebend, wie ein Haufe Volkes drängte ihm die immer mehr erwachende Wand entgegen, allen voran ein drohender, zorniger Mann mit hohlen Augen. Und quer über seine Stirne stand: »Jesus Maria.«
Da hörte Wanka, wie jemand seinen Namen sagte, und in unbeschreiblichem Grauen wandte er sich, als ob er flüchten wollte, und stieß heftig auf Rezek, den blassen Studenten, der mit eigentümlichem und eingeweihtem Lächeln sagte: »Das waren auch Künstler, diese hier. Nicht?«
Wanka erkannte den Studenten und sah ihn verständnislos an.
»Nun ich meine, jeder in seiner Art«, lächelte der noch. Dann fügte er ernst hinzu: »Glauben Sie mir, daß mir diese Bilder hier näher gehen, als das was unsre Maler malen und unsre Dichter zusammenreimen. Wissen sie, was das hier ist? Volkslieder. Nicht vor tausend Jahren entstanden und nicht unverständlich nach zehntausend Jahren. Gedichte in einer ewigen Sprache. Man sollte diese Wände ebenso sorgsam ausnehmen, wie die Hieroglyphenmauern in den Pyramiden. Man sollte sie in die Kirchen hängen; denn sie sind heilig. Sehn Sie hier«, und er legte den schmalen harten Finger auf eine Zeichnung, welche mit ungelenken Strichen ein kleines Haus darstellte; »das hat die Sehnsucht gemacht, und der Glaube hat ein Gebet drunter geschrieben und die Verzweiflung einen Fluch, und der Hohn hat mit wunden, blutenden Nägeln um alles das herum eine Fratze gezeichnet, in der das liebe kleine Haus aussieht wie ein gieriges, weitgeöffnetes Maul. – Haben Sie jemals ein furchtbareres Gemälde gesehen?«
»Kommen Sie«, sagte Wanka, von plötzlicher Furcht erfaßt.
Rezek folgte. »Ich komme oft her«, sagte er. »Es geht so langsam mit dem Niederreißen. Ich lese in diesen Wänden wie im Buche der Offenbarung. Auf viele Fragen habe ich da Antwort gefunden.«
Sie schwiegen. »Freilich«, fügte Rezek an, als sie aus dem Tor traten, »die Antwort ist schließlich wieder eine Frage. Aber nur eine, immer dieselbe, und das ist nicht so schrecklich wie die vielen.« –
»Was ist das eigentlich für ein Haus?« fragte Wanka jetzt und wandte sich zurück zu dem verlassenen Bau, der schwarz und groß mit seinen leeren Fenstern vor dem Abend stand.
Rezek blickte auf: »Das alte St. Wenzels Strafhaus.« Er blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann gingen sie schweigend der Stadt zu.
Die beiden jungen Menschen, welche früher oft aneinander vorbeigegangen waren, fanden sich jetzt beinahe jeden Tag. Es war aber mehr eine Macht über seinem Willen als eigene Absicht, welche Wanka zu dem düsteren Kollegen hinzog; und was ihn dann festhielt, war der Umstand, daß Rezek alle Fragen, welche ihn in der letzten Zeit gequält hatten, erriet und die unausgesprochenen wie unwillkürlich beantwortete. Zdenko sah freilich nicht, wie weit diese Antworten über seine Fragen hinausragten, und so konnte es geschehen, daß seine Kraft und die naive Klugheit seiner reinen Jugend bald blind im Dienste des energischen Agitators standen, dem sie sehr gelegen und günstig sein mußten. Die verschärfte Strenge des Polizeidienstes, die Geschichte des »König Bohusch« und andere halbpolitische Ereignisse hatten die jungen Leute vorsichtig und ängstlich gemacht, und Rezek mußte sich zu manchem seiner Zwecke des bezahlten Pöbels bedienen, der ihm dann bei nächster Gelegenheit als Angeber gegenübertrat. So aber war der Traum des dunklen Mannes: unverdorbene junge Leute guten Standes finden, welche, überzeugt von dem Recht ihres Beginnens, mit der ganzen blinden Bärenkraft ihrer Gesinnung einer nationalen Befreiung entgegenstreben und in jugendlicher Unverzagtheit einem Ziele nachgehen, das er selbst nicht immer glauben wollte.
Auf ihren gemeinsamen Wegen, an welchen Luisa lauschenden Anteil nahm, hatten sie eine kleine, niebesuchte Gaststube entdeckt hoch auf dem Hradschin. Von ihrem Rund-Erker aus sahen sie oft, wie die schweren, dunstigen Frühlingsabende die Stadt zerstörten, wie ihr Feuer an den Kuppeln und Türmen zehrte und da und dort wie Wahnsinn aus zwei sinnenden Fensteraugen schlug. Und die ganze Last dieser ahnungsvollen Dämmerungen war auf den drei jungen Menschen; da wandte sich der energische Rezek, der eine große Furcht vor diesen leisen weiten Stunden hatte, wohl an das versonnene Mädchen und sagte mit harter Stimme: »Loisinka, spiel sie uns etwas.« Und aus der Wandnische, wo Luisa saß, rauschten wie Flügelschläge die langen Töne eines Harmoniums, und die schlichten Volkslieder machten die Menschen noch leiser und einsamer. Es wurde immer dunkler um sie her, und sie mochten sich vorkommen wie Abschiednehmende, die einander zuwinken und sich doch nicht mehr erkennen . . . Bis das Lied mitten im Klange brach und das zitternde Verstummen des Harmoniums verschmolz mit Luisas zaghaft ausbrechendem Weinen. Dann befahl Rezek: »Spiel sie doch was Heiteres . . .«
Aber Luisa kannte nur ein paar Volkslieder, und der Bruder sagte: »Unser Volk hat keine lustigen Töne. Seine liebsten Lieder sind wie vor dem Weinen.«
Da begann Rezek mit heftigen Schritten in der kleinen Stube auf und ab zu gehen, und endlich blieb er im Erker stehen und sagte:
»Wie ein Kind ist unser Volk. Manchmal seh ich es ein: unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas – wie soll ich sagen? – etwas Menschliches. Nicht, daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber daß wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. Es ist die Geschichte von dem Kinde, welches unter Alten heranwächst. Es lernt das Lächeln, noch ehe es das Lachen gekonnt hat.«
Als aber die Kellnerin die Lampe angezündet hatte, setzte sich Rezek in den großen, alten Lehnstuhl und begann, die gelben nervösen Hände vor die Augen gepreßt, wie zu sich selbst zu reden: »Was hilft alles. Damals, als man dem Volk gesagt hat: du bist jung, haben sich die Gebildeten geschämt dafür. Und sie sind schnell alt geworden, statt älter zu werden. Statt sich jedes Tages zu freuen, haben sie ein Gestern haben müssen und ein Vorgestern. Königinhofer Handschrift, freilich! Damit nicht zufrieden, haben sie ihre Kultur in der Fremde gesucht und gleich dort, wo sie am fertigsten ist – bei den Franzosen. Und so kams: zwischen den gebildeten Tschechen und dem Volk sind Jahrhunderte. Sie verstehen sich nicht mehr. Wir haben nur Greise und Kinder, was die Kultur betrifft. Wir haben unsern Anfang und unser Ende zu gleicher Zeit. Wir können nicht dauern. Das ist unsere Tragödie, nicht die Deutschen.«
Luisa sah den Schrecken, welcher sich in den Zügen des Bruders ausprägte während dieses Geständnisses. Er schien sich mühsam zurückzuhalten, alle seine Sehnen waren wie zum Sprunge gespannt.
Rezek bemerkte es nicht mehr, er war wie aus einem bösen Traume erwacht, und der strenge Akzent seiner Stimme schien alles Frühere zu widerrufen. Er entwarf an diesem Abend die kühnsten Pläne und spürte mit dem ihm eigenen Scharfsinn so rücksichtslos allen Mitteln und Möglichkeiten nach, schien sich so klar über die Ziele seiner unermüdlichen Agitation, daß Zdenko wieder ganz in seinem Einfluß unterging.
Dennoch bezeichnete dieser Abend für Wanka den Beginn eines harten inneren Kampfes. Er hatte sich stolz und stark gefühlt in seiner Mission, solange er glaubte, für ein junges und gesundes Volk zu streben, und nun hatte er erfahren, daß dieses Volk an innerem Zwiespalt krankte und an sich selber verzweifelte. Und er verlor alle Freude und allen Mut. Es geschah ihm wie dem tollkühnen Lieutenant, der vor seinen Scharen hineinstürzt in die feindliche Übermacht. Da vernimmt er, daß die Niederlage der Seinen schon besiegelt ist; und was im Augenblick noch eine freudige Heldentat war, ist ihm ein nutzloses, verzweifeltes Opfer. Der arme junge Mensch fühlt mit einemmale so viel Neues, Unverbrauchtes, Einsames in sich, das nicht zu Ende gehen will und sich sehnt, in einem andern stillen Frühling aufzublühen. – Die hohen und hellen Worte der nationalen Begeisterung waren ihm erloschen, und mehr als einmal stürzte Wanka aus den heißen heimlichen Versammlungen in die nächtlichen Gassen hinaus, durch welche er, planlos, einem ungewissen Morgen entgegenirrte. Aber so stark stand Rezeks Persönlichkeit über ihm, daß er mitten in seinen Grübeleien immer wieder von ihm einen Ausweg erhoffte und nicht wagte, dem finsteren Gesellen seine wachsenden Zweifel einzugestehen. Er schwieg gegen alle davon. Er bemerkte die besorgte Frage in den Augen seiner schlichten Mutter, und er glaubte sie zu übertönen durch seine heftige, hastige Zärtlichkeit. Er neigte sich inniger seinem blassen Schwesterchen zu und suchte sich gleichsam wiederzuerkennen in diesen flüchtigen Augenblicken einer reinen Liebe.
Jetzt begann Luisa ahnungsvoll die Zerrissenheit in Zdenkos Seele zu begreifen. Sie wußte ja nichts von der beginnenden Untreue an seinem Werke, und daß er seine übernommene Pflicht als Zwang empfand. Aber sie sah, daß er an irgendwelchen Ketten zerrte, und das schien ihr die eherne Macht des Rezek zu sein, aus welcher er entfloh, um, schwach und verzagt, immer wieder zurückzukehren. Lange schon stand die Gestalt des bleichen Mannes auch über ihr. Sie fand sein Bild in allen ihren Gedanken und war nicht mehr erstaunt dabei. Ihr schien, er gehörte hinein wie der Gekreuzigte in die Klosterzelle. Und sie konnte ihm nicht wehren, daß er auch in ihre Träume wuchs und endlich eines wurde mit dem dunklen Prinzen des alten Maskentraumes und nun für sie nicht mehr Rezek, sondern Julius Cäsar hieß. Und da geschah dem Mädchen etwas Seltsames. Irgendwelche Szenen aus fernen Jahren und halb vergessene Träume und Gestalten und fremde purpurne Worte, die sie von ihrem Bruder vernommen hatte, und anderes, welches sie gar nicht zu erklären vermochte, umdrängte sie wie eine neue phantastische Zeit, in der alle Gesetze anders werden und alle Pflichten. Sie konnte zwischen Tun und Träumen nicht mehr unterscheiden und schaute alle Geschehnisse des Alltags in den Farben jenes Krummauer Blutfestes, ihrer tiefsten und erschütterndsten Erinnerung. Sie lebte jetzt mitten unter den stillen, feierlichen Gestalten und fühlte immer deutlicher, daß auch sie eine Rolle haben müsse in diesem heimlichen Reigen. Und tagelang saß sie, eine vergessene Arbeit im Schooß, am Fenster, sah mit verlorenen Augen in die hohen kahlen Mauern der Malteserkirche und sann: Welche nur, welche?
* * *
Die trägen, lässigen Sommertage gingen langsam dem Feste von Mariens Himmelfahrt entgegen. Eine schwere Traurigkeit lag über Wankas. Das Heimweh, welches die vier Menschen schon fast vergessen hatten, kam wieder in einer anderen, unerwarteten Gestalt über sie. Sie sehnten sich nicht mehr nach der Vergangenheit, sondern sie träumten in den heißen Stuben hinter dichtverhangenen Fenstern von dem leichten, luftigen Dorfsommer, dem die kühlen Wälder so nachbarlich sind. Von den hellen Feldwegen, über welche die jungen Obstbäumchen ihre rührend dünnen Schatten legen, so daß man drüber hin wie auf einer Leiter geht, von Strich zu Strich. Von den schweren, reifen Feldern, die so breit und prächtig zu wogen beginnen gegen den Abend zu, und von den Hainen, in deren dunkelnder Stille die schweigsamen Teiche liegen, von denen niemand weiß, wie tief sie sind. Und dabei dachte jeder von den vier Menschen an irgend eine bestimmte unbedeutende Stunde, deren kleines Glück man einst, ohne es zu werten, eben so mitgenommen hatte. Und um so schmerzlicher war dieses Sehnen, als es nicht ein Unwiederbringliches betraf, als jeder fühlte, wie der heitere Heimatsommer ihn erwartete und traurig wurde, wenn keiner kam. Um ihm wenigstens näher zu sein, machte man kleine Ausflüge die Moldau entlang, und die Försterswitwe glaubte am leichtesten den kleinen Wäldern hinter Kuchelbad ihre gutmütige ländliche Lüge und wurde von jener unmerklichen Fröhlichkeit erfüllt, welche alten, arbeitsamen Leuten eigen ist. Sie war still und in sich gekehrt und lächelte kaum, aber die Falten um die Lippen waren vergangen, und das gab ihrem Gesicht etwas Junges und Sonniges, wie sie es vielleicht als Braut nicht besessen hatte. Sie bemerkte dann auch kaum, wie selten Zdenko den Blick in die lichte Landschaft erhob von dem Wurzelpfad, und wie schnell die Sommerblumen welkten in den heißen Händen Luisas. Die alte Rosalka blieb ganz zu Haus und trotzte; sie sagte vom Sommer: nein, wenn er nicht zu mir kommt, nachlaufen werd ich ihm nicht; setzte sich mit einem alten Gebetbuch ans Küchenfenster und schlief über der Frömmigkeit ein.
Die staubigen Augusttage schienen nur auf einem nicht zu lasten: auf Rezek. Er blieb von unermüdlicher Kraft, ja in jüngster Zeit war sogar eine übermütige Lustigkeit in seinem Wesen, welche Wanka nicht verstehen konnte. Er wußte nicht, daß Rezek stets so zügellos wurde, wenn die Gefahr nahe über ihm und seinem geheimen Streben aufstieg, und nahm diese Veränderung eher als Zeichen guter Erfolge hin.
Seine letzten Bedenken entschwanden, als Rezek bei einem Spaziergange, den sie wieder nach alter Gewohnheit zu dritt unternahmen, vorschlug, in der ›Vikárka‹ (einem kleinen, uralten Gasthofe, dem St. Veits-Dom gegenüber) einzukehren. Sie saßen bei einem dunkeln Tische in der hintersten Stube und stießen mit echtem Melniker an. Der Student kargte nicht mit dem Wein, und so laut wurde seine Lustigkeit, daß die paar übrigen Gäste, es waren bischöfliche Lakaien, daran teilnehmen mußten. Rezek erzählte die Sage von der Brotgräfin, die im alten Czerninschen Palast umgehen sollte, knüpfte seinen tückischen Spott an die spannendsten Stellen und veränderte so die Wirkung seiner Worte in einer seltsamen und überraschenden Weise. Da und dort wurden andere Geschichten wach (sie lauern in allen Ecken dieser dämmernden Stuben), und es fügte sich, daß Zdenko die Krummauer Sagen, auch jene von Julius Cäsar zum besten gab.
»Eigentlich wäre das deine Sache«, hatte er vorher zu Luisa gesagt.
Sie aber schüttelte nur stumm den Kopf, hob dann das Weinglas und hielt es lange an die Lippen. Mit fast verschlossenem Munde begann sie zu saugen, und ihre Augen schauten dabei groß in den Trank hinein, dessen purpurner Widerschein über ihrem schmalen Gesichtchen lag.
Mit einemmale sagte Rezek: »Wie Sie das sagen. Merkwürdig. Ist nicht eine Ähnlichkeit zwischen unserer Zeit und den Tagen vor dem dreißigjährigen Kriege?«
Unter seinen Worten bebte etwas. Zdenko und andere lachten. Luisa aber hob das Becherglas langsam von ihrem kühlen roten Munde und sah mit erschreckten Augen zu dem Studenten auf.
Als man später auf dem Heimweg war, blieb Rezek nahe bei der alten Schloßstiege vor einem Tor, über dessen Bogen ein schwarzes Ehewappen prangte, stehen und fragte: »Waren Sie schon mal drin?«
Die Geschwister verneinten.
»So kennen Sie nicht einmal die Daliborka? Schämen Sie sich.«
Und schon trat Rezek durch den engen Türrahmen des Tores ein, und Luisa, die nun bei ihm stand, erblickte einen reinlichen Hof, drin, von den lichten Mauern bewacht, die breiten, warmen Schatten des Nachmittags lagerten. Eine kleine, alte Frau trat grüßend aus der Haustüre, jagte einen Schwarm Hühner vor sich her und winkte dann den Fremden, zu folgen. Zdenko ging voran, dann kam Rezek und zuletzt Luisa, denn der Pfad war so schmal, daß einer hinter dem anderen gehen mußte. Luisa zögerte ein wenig und schaute mit glänzenden Augen umher: da war ein lächerlich kleiner Gemüsegarten, dessen Kohlköpfe und Spargelstangen ein sechsjähriges Kind wohl hätte zählen können; mitten drin aber ragte ein stämmiger Apfelbaum, welcher seine kleinen roten Früchte der fern verschimmernden Stadt zu zeigen schien. Ein paar dichtverwucherte Stufen lenkten in einen feuchten und dämmernden Teil des Hanges hinab, und dort standen viele Sträucher von wilden Rosen, deren Zweige Luisa nicht vorbei lassen wollten. Da blieb Rezek stehen, und das Mädchen vernahm die Stimme des Zdenko: »Also das ist der berühmte Hungerturm. Der Ritter Dalibor hat da drinnen aus lauter Sehnsucht die Geige spielen gelernt. Das war doch hier?«
»Ja«, erwiderte Rezek, »aber ich glaube immer, er hat das Geigen schon früher getroffen. Die Sehnsucht singt selten.«
Und da standen sie schon vor der schwerbeschlagenen Pforte des grauen Turmes. Luisa sah empor und bemerkte, daß die breiten Mauern nur teilweise von einem neugezimmerten Dach überspannt wurden. Auf dem freien Rande der Zinne ragte neben einer zerrauften Silberdistel eine schlanke, junge Akazie und hob ihre blassen Blättertrauben mit zärtlicher Anmut in den lichten Himmel hinein. Das war das letzte Bild vom Tage. Es wurde immer feuchter und schwärzer, und die dumpfige Luft legte sich wie ein Schleier vor des Mädchens Augen. »Findet sie uns nach?« hörte sie den Studenten mal fragen. Er hielt ihr die Hand hin. Seine Stimme kam rauh und fremd aus den ungewissen Tiefen des Gewölbes, und Luisa war nicht imstande zu antworten. Sie tastete mit angehaltenem Atem, leise erschauernd, an den eisigen Wänden hin und fand sich erst wieder, als ihr der rötliche Schein eines Lichtes, wie wärmend, aus der nächsten Halle entgegenkam. Da fand sie die beiden Männer und die Frau inmitten des Raumes über irgend etwas gebeugt, und eine schwelende Kerze schwankte an einem Strick gerade über ihren gesenkten Köpfen. Dann glitt das Licht mit einem kreischenden Geräusch tiefer und tiefer an den drei Gesichtern vorbei, welche eine Sekunde lang grell beschienen waren; es sank bis vor ihre Füße und verschwand langsam in einer schwarzen runden Öffnung des Bodens, über der nur noch ein letzter, löschender Glanz hin und her zuckte. Da neigte auch Luisa sich vor und erkannte, wie die Kerze, klein, tief unten ankam in einem zweiten grauen Gemach, unter welchem noch ein drittes, schwarz, zu beginnen schien.
»Oh«, sagte Luisa.
Zdenko faßte ihre feuchte, zitternde Hand: »Achtgeben, Luisa.«
Und dann erzählte die Alte etwas mit einer armen, monotonen Stimme, die sich vor den feuchten Wänden zu fürchten schien und in scheuen Kreisen eng um die vier Köpfe herumschwirrte. »Die Neuen«, sagte sie gerade, leise und heimlich, als wäre das eine liebe, eigene Erinnerung, die sie zum erstenmal jemandem anvertraute, »die Neuen, die hier herunterkamen, erhielten ein Stück Brot und einen Krug Wasser. Ja, und mit dem Brot und dem Wasser mußten sie sich erhalten, und da an dem Loch mußten sie sitzen und zuschauen, wie der, der schon eine Woche unten saß oder zwei, je nachdem (es haben manche Menschen gar so viel zähe Kraft), sich langsam zu Ende hungerte. Na und dann, wenns in Gotts Namen zu Ende war, wurden sie hinuntergelassen . . .«
»An diesem Seil?« neckte Zdenko.
Die Frau ließ sich nicht stören: »Hinuntergelassen wurden sie und mußten erst den Toten, nämlich den, welchen sie haben zu Ende hungern sehen, hineinstoßen in das Loch am Boden dort – sehen Sie.« (Alle neigten sich vor.)
»Manchmal werden sie den Vorgänger wohl halb aufgefressen haben«, lachte Rezek grausam.
»Kann schon sein«, murrte die Alte und fuhr dann in ihrer langgewohnten Erklärung fort.
Luisa lehnte sich an den Bruder: »Es ist tief?« forschte sie.
»Sehr tief.«
»Und kann keiner wieder heraus?«
»Nein«, erklärte jetzt Rezek. »Das Ding ist wie eine Flasche; oben schmal und immer weiter gewölbt nach seinem Grunde zu. Ein Zurückklettern giebts da wohl kaum. Übrigens war das das beste Heilmittel für Übersatte auch heute noch.«
Luisa hörte ihn lachen. Die Beschließerin zog die Kerze halb herauf und trat dann mehr in den Raum zurück. Die Männer folgten ihr. Jetzt eröffnete der flüchtige, scheue Schein eines Zündholzes da und dort ungeahnte Nischen und Gänge, welche im nächsten Augenblick lautlos wieder einzustürzen schienen. Ein unbestimmtes Sich-rühren begann. Das Licht über dem Krater wurde ängstlich, und das breite Dunkel ringsum schien zu erwachen, sich zu dehnen und in wachsenden Gestalten an Luisa vorüberzufluten. Immer deutlicher erkannte sie Paar und Paar. Und sie reihten sich zu einem taumelnden Tanz, und aus Reigen und Neigen kam endlich der Eine ihren staunenden Augen entgegen: Julius Cäsar.
Er war stumm und schwarz. Ihr schlug das Herz in die Kehle hinauf und, erschreckt, senkte sie den Blick und er fiel, fiel in eine endlose Tiefe. Sie wußte: So stand sie am Rande des Turms. So war sie selber das blaue Fräulein. An ihrem Frieren fühlte sie, daß sie ohne Kleider war, ganz ohne Kleider. Mit bebenden Fingern tastete sie an ihrem Leib hin, und sie empfand seine bloße Glätte. Dann blickte sie auf: oben war Nacht, sternelos. Und dann stand er bei ihr, fast vor ihr, nah am Abgrund. Das blaue Fräulein rächte sich: diesmal er. Und sie hob unwillkürlich die Hände und stieß sie gerade nach ihm hin – bis sie an seine Schultern drängten, – dann aber, im Augenblicke der jähen Berührung, packte sie ihn krampfhaft, riß ihn zurück, zu sich her, fühlte ihn, und in einer neuen, tiefen, zitternden Seligkeit vergingen ihr die Sinne.
* * *
Und am Ende sollte gar, so scheint es, die grämliche Rosalka, welche Zdenkos Streben und den ehrgeizigen Wunsch seiner Mutter hoffärtig und sündig fand, recht behalten haben. Denn es mußte doch etwas wie Hoffart sein, was den jungen Menschen bewog, innerhalb drei Wochen dreimal Wohnung zu wechseln; nämlich: aus seinem kleinen Kämmerchen, das in die Mauern der Malteser sah, in die Untersuchungshaft, von da in das Hospital und endlich gar auf den VII. Friedhof des Wolschan, wo die Mutter ihm ein Stück Landes, drei Schritte in der Länge und zwei breit kaufte. Mehr wollte er nicht. Und das alles war so rasch gegangen, daß die Frau mit dem alternden Verstand sich gar nicht finden konnte in diese unerwartete, plötzliche Standeserhebung, nur den Kopf schütteln konnte und immerwährend unterwegs war nach dem seltsamen, winzigen Landgut, als wollte sie nicht begreifen, daß es dem neuen Besitzer draußen gefiele. Sie vergaß Arbeit und Essen und kehrte jeden dritten Tag zu dem Spitalarzt zurück, der endlich ermüdete, der verstörten Mutter immer wieder den traurigen Fall von Lungenentzündung mit letalem Ausgang zu erklären und anzufügen, daß dies bei solchem infamen Herbstwetter nicht zu verwundern sei. Wenn Frau Wanka dann, von dem ungeduldigen Arzt und den wartenden Besuchern fast aus der Türe gedrängt, in den perlgrautrüb triefenden Tag hinaustrat, dann nahm sie sich jedesmal vor, sich das Wetter recht genau zu betrachten, um zum Verständnis des »traurigen Falles« zu gelangen. Aber draußen hastete sie scheu an den Häusern und den Menschen vorbei und kam atemlos in ihre Wohnung, wo sie Luisa fand, immer auf demselben Platz, mit heißen, trockenen Augen und fiebernden Händen. Sie blieben dann einander gegenüber sitzen, ohne die Lampe anzuzünden, ohne sich irgend etwas zu sagen, ganz fern von einander, bis es so dunkel war, daß sie eine die andere vergaßen. Von Zeit zu Zeit erhob sich eine der Frauen und ging auf den Zehen, als sollte die andere nichts bemerken, hinaus, in Zdenkos langverlassenes, verstaubtes Stübchen. Behutsam trat sie ein. Und erst wenn sie den leeren Schreibtisch fand und das vernachlässigte, verdeckte Bett, erlosch das irre Lächeln einer wilden, immer wieder gläubigen Hoffnung auf den zuckenden Lippen. Die Zurückgebliebene aber lauschte dann: Sie hörte die Türe gehen. Und dann begann in der verlassenen Kammer ein Weinen – bang und hoffnungslos. Bis die alte Rosalka eines Sonnabends das kleine Hinterzimmer aufwusch und dann den Schlüssel an sich nahm. Das Weinen aber hörte nicht auf; es füllte bei Tag die beiden Stuben aus und schien in jeder Nacht suchend durch das ganze Haus zu gehen, so daß die Kinder nicht einschlafen wollten. Und auch Erwachsene brannten Licht bis in den Morgen hinein; denn jeder in dem alten Haus wollte die Ecken seines Zimmers überschauen und war im stillen froh, wenn der nächste graue Regentag an die Scheiben schlug. Denen, die sich darüber beschwerten, schwor die Magd Rosalka bei Seele und Ehrlichkeit, man könne nichts dagegen tun, als Weihwasser aufstellen und Vaterunser beten; denn so sei es jedesmal, wenn einer stürbe mit vielen weltlichen Wünschen im Herzen und ohne die richtige Ruhe und Ergebenheit. Und man betete beim Rübenschälen und beim Geschirrwaschen, die Nachbaren beteten, und die Hökin unter den Steinlauben betete auch. Und Weihwasser spritzte man hinter den beiden Frauen her, welche mit jenen langsamen taktmäßigen Schritten durch den Flur und die Gänge kamen, wie sie sie gelernt hatten hinter dem Leichenwagen. Frau Wanka ging oft aus, eilte ein paar Gassen entlang, um planlos wieder heimzukehren. Luisa aber rührte sich nicht von ihrem Platz. Sie hatte keine Phantasien mehr, und in ihren Träumen waren alle Farben so blaß geworden wie die Tage draußen. Manchmal zählte sie die Tropfen an den Fenstern und horchte: es rauschte an ihr vorbei wie ein großer Strom, in dem viele zerbrochene, unverständliche Worte trieben, immer mehr und mehr – und sie dachte: wie nach einer Überschwemmung. Dann zuckte sie plötzlich zusammen, als hätte sie jemand gerufen, und – begann wieder die vielen rinnenden Tropfen zu zählen.
So kam Allerseelen. Da sehen sogar die breiten Straßen der Neustadt nachdenklich aus. In den vornehmen Blumenläden liegen reiche, prahlerische Kränze bereit, und die fremden Blüten in ihnen können nicht lächeln. Die Vergnügungsspalten der Reklamesäulen sind leer überklebt, nur das Landestheater verkündete die Aufführung der alten Kirchhofkomödie »Der Müller und sein Kind«, und in den Schaufenstern der Kunsthandlungen sind vor die bunten, englischen Drucke drei, vier, fünf dunkle Photographieen geschoben, die Illustrationen zu dem leisen Wehmutliede Hermann von Gilm's: »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden . . .«
Früh werden auf dem feuchtglänzenden ›Graben‹ die Laternen angezündet, und immer noch fahren Fiacres und Droschken vorbei mit großen Palmenkränzen auf Kutschbock und Wagendach, und an mancher Trambahn ist über die farbige Rücklaterne ein Tannengewinde oder gar ein Kranz von Blech gehängt, der nicht zum erstenmal am Tage der Verstorbenen diese Reise überstehen muß. Über dem unfreundlichen Zizkov sind schon die unglaublich langhalsigen Bogenlampen wie viele, traurige Monde aufgegangen, und drunter hin, vor den Toren des immer weiter wachsenden Totenparkes, ist ein unfestliches Gedränge von Menschen, von verweinten Menschen, die, ein paar halbwelke Blumen in der Hand, in dunkler Sehnsucht sich ihrem Ziele entgegendrängen, von erzürnten Menschen, welche die Hast des Schmerzes nicht begreifen, von teilnahmslosen, von feiernden, von lachenden und beobachtenden Menschen und von vielen anderen. Die Pfade sind durch die vorlauten lauernden Verkaufsbuden verengt, und die Kinder des langen Zuges hängen sich wie Widerhaken an die aushängenden Lampen und Lebkuchen und Spielsachen, so daß immer neue Stockungen geschehen. Mit der Menge aber und über ihr wälzt sich dieser dicke schwere Dunst von traurigen, müde duftenden Blüten, welken Blättern, durchregnetem Erdreich und feuchten Kleidern, in welchem die Worte gleichsam hängen blieben, zu dem weiten leuchtenden Garten. Dort verteilen sich die Massen zwar in die einzelnen Alleen, aber eigentlich sind die wenigsten bestrebt, schnell zu dem Grabe zu kommen, welches sie beschenken wollen. Sie wollen erst auch die anderen Seligen im Festkleid gesehen haben und finden es zu unterhaltsam, an den Steingrüften der Vornehmen hinzuschlendern, die fremden langen Namen zu lesen und sich an den Blumen zu freuen, welche den kostbaren Marmor ganz verdecken. Dann hineinzulugen in die dämmerigen Grabkapellen mit den hellen glänzenden Altären, vor welchen ein verwittertes altes Mütterchen schon den zweiten Tag bemüht ist, den ihr ganz unbekannten Verewigten die gutbezahlten Vaterunser und Gegrüßetseistdu der hinterbliebenen Familienmitglieder begreiflich zu machen. Und aus diesem Schauen von Licht und Glanz schleicht sich eine unbewußte, lebendige Fröhlichkeit in die Gesichter der Menge, welche seltsam absticht von den paar wunden dunklen Menschen, die sich scheu und schwarz am Wegrand hindrücken. In blinder Ungeduld schieben sie da und dort einen Schaufrohen zur Seite, und der denkt hinter ihnen her: Totenvögel, was wollen denn die hier?
Auf dem VII. Friedhof ist es etwas freier und einsamer. Es ist mehr Raum hier; denn nur ein Teil des umzäunten Landes ist mit Gräbern und Grüften erfüllt, weiterhin ist ahnungsloser, gesunder, gutgewässerter Boden, dem man noch die früheren Ernten ansieht und der aus seiner müßig gewordenen Kraft ratlos einen üppigen, wilden, sinnlosen Garten gezeugt hat. Das war eine gute Nachbarschaft für den armen Zdenko Wanka, der immer noch die Reihe der Gräber an der linken Mauer hin abschloß, als wagte niemand zu sterben seither in der großen, abgrundvollen Stadt. Die beiden vereinsamten Frauen, Mutter und Tochter, leisteten ihm nun schon den zweiten Tag Gesellschaft, und die alte Rosalka kam ab und zu und erzählte dem tauben Schmerz der beiden von der Pracht und dem Glanze anderer Grüfte. Daß der Hügel des Zdenko nicht so recht festlich werden wollte, trotz der vielen Levkoien, Astern und Vergißmeinnicht, kam daher, daß durch allen Schmuck irgendwo immer wieder das nasse, neue Erdreich durchdrang, in welchem der Grassamen noch nicht Zeit gehabt hatte, aufzugehen. Etwas scheu schien das frische Grab sich zurückzuziehen – wie einer, der zum erstenmal in einer Gesellschaft ist, deren Art und Anstand er noch nicht kennt. Auch die beiden Gäste fanden nicht recht die Sprache des Verkehrs mit dem Verlorenen, und so mag des toten Zdenko erster Feiertag recht trübe gewesen sein. Frau Josephine weinte nicht mehr. Sie saß auf einem der Holzbänkchen, wie sie sich am Fußende der Grabstätten finden, und hatte gewiß vergessen, daß der fremde, feuchte Herbstabend immer dichter über ihr hereinsank. Die Tochter, die in dem Kleidchen von schwarzem Kaschmir noch kleiner und blasser aussah wie sonst, beobachtete, ohne daß sie davon wußte, die Szene, die an einem Grabe gegenüber geschah. Ein hagerer, verhärmter Mann hatte eben eine kleine, blaue Lampe und einen Maiglöckchenstrauß auf die Stätte niedergelegt, und es war eine zaghafte, rührende Zärtlichkeit in seiner Bewegung gewesen, etwas von jener unbeholfenen Anmut junger, verliebter Menschen. Aber wie er nun wieder aufrecht stand und sein weinendes, dreijähriges Kind an den schwarzen verschnittenen Sonntagsrock preßte, da brach diese Geste hart ab, und eine zitternde, hoffnungslose Wehmut begann ihn zu beugen. Er kämpfte mit ihr und suchte immer wieder die Augen des Kindes, vielleicht um zu wissen, wie die Augen der Mutter waren, oder um sich daraus ein wenig Glanz und Hoffnung zu holen. Das Kind aber weinte . . .
Da schob sich eine Gruppe von schwarzgekleideten, jungen Männern in dem Nationalrock, der Tschamara, zwischen Luisa und jene beiden Mutterlosen. Es waren größtenteils Studenten, Freunde und Genossen des Wanka, welche an diesem Tage mit politischen Ovationen und Liedern an die Gräber ihrer Großen und Genossen kamen, um sie über das Gesetz der Gleichheit, welches in diesen stillen Mauern herrschte, zu erheben. Der Widerstand, der ihrem Beginnen jedes Jahr aufs neue von den vorsichtigen Behörden entgegengesetzt wurde, war Schuld daran, daß diese Kundgebungen einen über alle Herzlichkeit lauten prahlerischen Charakter bekamen und das jugendliche Ungestüm sich nicht mit dem leisen Niederlegen seiner blühenden Liebe begnügen wollte. So ordneten sich auch jetzt die Reihen, um an Wankas Grab eines der scharfen Kampflieder anzustimmen, welches den mit allem Versöhnten an die Tage des Sturmes erinnern sollte. Es mußte dem getreuen Genossen – und Wanka war in Treuen gestorben – doch auch lieb sein, von dem Ausharren der Brüder zu vernehmen, er mußte gleichsam einen Augenblick wieder mitten unter sie treten, wenn seine eigenen Worte und Wünsche über seinem Hügel erwachten. Allein als schon das Zeichen des Anfangs gegeben werden sollte, traten die jungen Leute mit einem dumpfen Gemurmel auseinander. Sie schämten sich plötzlich, ihr rohes Streitlied in den tiefen, geweihten Schmerz dieser schwarzen Frauen hineinzuschreien, und die Besten unter ihnen ahnten die Ewigkeit. Sie senkten den großen Kranz, in dessen Immergrün Karten mit ihren Namen staken, ganz an das Ende des Grabes nieder, als empfänden sie unbestimmt, daß der, welcher bis an diesen Platz Hand in Hand mit ihnen gewandert war, doch nicht mehr voll zu ihnen gehörte, wenigstens in seiner eigensten Sehnsucht nicht.
Und aus ihnen blieb Rezek zurück. Ernst und hoch, die Arme auf der Brust verschränkt, stand er da und hatte nur das blasse harte Gesicht, wie sinnend, gesenkt. Vielleicht war er der einzige, welcher dachte, daß Zdenko an der zerstörten Freude gestorben sei, wenngleich er selbst es am wenigsten verstehen konnte. Er war eine strenge Savonarola-Natur, welche da und dort im Land Scheiterhaufen entzündete; und es kamen junge, gläubige Menschen, welche ihren ganzen Reichtum in die Flammen legten: die Freude und das Lachen und die Sehnsucht. Denn der Fanatiker wollte ein verarmtes und entsagendes Heer hinter sich, weil er wußte, daß es keine wildere Waffe giebt, als die Verzweiflung. Und sein Gesetz fand Anhänger auch in diesem weichen, slavischen Volke, welches mit den Schätzen seines Gemütes sich selbst verliert und verleugnet.
Auch Luisa hatte zaghaft alles vor ihm niedergelegt, was sie aus ihrer traumdunklen Kindheit besaß; er hatte es nicht bemerkt, denn sie schien ihm kein Mitstreiter zu sein, dessen Gewinnung wertvoll wäre. Und dann hatte Luisa noch etwas hinzugelegt, etwas Unklares, Schmerzlich-seliges, wofür sie keinen Namen wußte: das aber hatte Rezek nicht erkannt, weil es ihre erste, bebende Liebe war. – Wie er jetzt näher zu dem Mädchen trat, fühlte er vielleicht zum erstenmal, daß er sich nicht über ein Kind neigte, und unwillkürlich grüßte sein Auge das Weib. Aber Luisa verstand ihn nicht, er war ihr weit und vergangen wie alles. Kaum eine Erinnerung war er ihr. Und da nahm sein Auge zugleich Abschied von ihr, und er verneigte sich einmal tief, wie Luisa es nie bei ihm gesehen hatte, und ging. Es war schon fast Nacht, und Luisa konnte ihn mit ihren wunden Augen nicht begleiten über die nächsten Kreuze hinaus.
In der Nacht nach diesem Allerseelentage war kein Weinen in dem Hause, gegenüber der Malteserkirche. Noch ehe es ganz licht war, stand Frau Josephine auf, zog sich sorgfältiger als sonst an und teilte der Tochter mit, daß sie heute, da sie so viele Montage versäumt hätte, zu Oberstens ginge. Luisa sah mit schwachem Erstaunen auf. Die Stimme der Mutter erschien ihr ganz unbekannt, als sie nun noch anfügte, sie hätte durchaus nicht die Absicht, dieses gute und vornehme Haus zu verlieren. Auch würde sie es gern sehen, wenn Luisa sie abholen wollte, um sich bei Meerings in Erinnerung zu bringen. Dann ging Frau Wanka. Und das ganze Haus sah wie ein einziges steinernes Staunen hinter ihren Schritten her, welche fast ganz dieselbe energische Rüstigkeit wieder zeigten, welche sie vor dem Unglück besaß. Dieses rasche, ruckweise Sich-aufrichten nach Wochen des haltlosesten Hingegebenseins hatte in der Tat etwas Überraschendes und Unheimliches. Frau Josephine mußte in den beiden Tagen am Grabe des Sohnes irgend ein Ersparnis an Kraft und Energie, dessen Vorhandensein sie während mancher Jahre vergessen hatte, in sich entdeckt haben, und daß sie es nun wohl anzuwenden wußte, beweist der Umstand, daß Frau von Meering den Schmerz der Mutter als nicht tief und herzlich genug bezeichnen konnte. Sie erwartete eine gebrochene Frau zu sehen und fand sie fast steif vor Aufgerichtetsein, sie war so gerne bereit gewesen, gerührt und gefühlvoll zu werden vor dem beredten Schmerze, und sah nun etwas, was man im besten Fall stumme Trauer nennen durfte, und welchem gegenüber sie eine starke, unbehagliche Verlegenheit empfand. Dazu kam noch die Neugierde, aus dieser treuesten Quelle zu entnehmen, wie viel an dem, »was man sich so erzählt«, Wahrheit sei. Der Oberst hatte vom Stammtisch im ›Hecht‹, wo man gerne kannegießerte, ganz eigentümliche Gerüchte heimgebracht, Geschichten, in denen alle politischen Schlagworte der letzten Zeit vorkamen, und zwar in solchem Sinne, daß es dem Herrn von Meering und seiner Gemahlin mit einemmale bedenklich erschien, Mitglieder einer so anrüchigen tschechischen Familie in ihrem Hause zu sehen, und ein ernstlicher Familienrat abgehalten wurde, in welchem Für und Wider, gerechtermaßen abgewogen, keine eigentliche Entscheidung ergab. Der Tod des jungen, auf Abwege geratenen Menschen stimmte den alten Militär etwas nachsichtiger, und den Ausschlag gab endlich die kluge Überlegung, daß ja zunächst nur die an und für sich anständige Mutter, Witwe eines fürstlichen Försters, im Hause Meering von Meerhelm Zutritt hätte und daß obbesagte tüchtige Wittib nur mit der Putzwäsche in nähere Berührung träte, welche ihrerseits wieder, dadurch daß sie aus Rumburg stammte, gegen Tschechisierung, und durch die fünfzackige Adelskrone derer von Meerhelm (seit zehn Jahren) auch vor allen demokratischen Einflüssen gesichert war. So kam es, daß Frau Josephine eine ganz freundliche Aufnahme gefunden hatte und daß man es für selbstverständlich hielt, daß die alten Wäschemontage fortab wieder eingehalten würden. Frau von Meering gab die stille Zuversicht nicht auf, bei einem der künftigen Male Näheres zu erfahren; daß dies nicht schon beim ersten Wiedersehen sich gefügt hatte, empfand sie als Kränkung und konnte denn auch nicht umhin, der Witwe im allerunschuldigsten Tone ihre tiefe Teilnahme an dem Unglück, »welches durch seine besonderen Umstände noch so viel schmerzlicher sei«, zu versichern. Diese Zwischenbemerkung, welche sie als Eingeweihte und Wissende erscheinen ließ, imponierte ihr sehr, und sie hielt dieselbe für einen feinen Angriff gegen die »undankbare Verschlossenheit dieser Leute«.
Frau Wanka aber hatte gar nichts, weder von der Enttäuschung der Oberstin, noch von dem Hieb bemerkt, in welchem diese sich rächte; sie mußte in diesen Tagen so manches mit sich überlegen, und die Folgen ihrer Versonnenheit traten jetzt Schlag um Schlag in rascher Reihe ins Leben. Da war zunächst in einer böhmischen und in einer deutschen Tageszeitung je ein kleines Inserat erschienen, welches einem anständigen, jungen Mann ein stilles, gutmöbliertes Zimmer in ruhiger Gegend versprach, und wer den Spuren dieser Verheißung nachgegangen wäre, hätte sich unversehens auf der Kleinseite gefunden, hätte die Hökin unter den Steinlauben nach »Nummer 87 neu« gefragt und die breite, ausführliche Antwort erhalten, daß dies drei Treppen hoch bei Wankas sei und daß Wankas jetzt an Herren abmieten wollten, wahrscheinlich weil sie gar so unglaublich viel Unglück gehabt hätten. Es kommt nun darauf an, ob der junge, anständige Mann mehr jung oder mehr anständig ist, um hier im lauschigen Plauderdunkel der Steinlauben mehr oder wenig von dem Schicksal der Förstersfamilie zu vernehmen. Es ist ungewiß, inwieweit Ernst Land unterrichtet war, als er an einem Novembertag auf der bekannten Wendeltreppe von »87 neu« zweimal in Gefahr kam, Hals und Beine zu brechen, und nachdem unterschiedliche Türen vor seiner deutschen Frage entrüstet ins Schloß gefallen waren, endlich vor der alten Rosalka stand, welche ihn mit großem Mißtrauen betrachtete. Er gefiel ihr nicht, das wußte sie im Augenblick. Er war ihr »zu deutsch«. Das empfand sie dann und wann einem Menschen gegenüber, obwohl sie nicht wußte, was diesen Eindruck hervorrief, kaum, ob es ein Zuviel oder ein Mangel war. Sie starrte in die Gläser seines angelaufenen Kneifers, konnte die Augen dahinter nicht finden und ließ sich die deutsche Frage zweimal wiederholen, obwohl sie dieselbe verstanden hatte. Es versöhnte sie erst ein wenig, als der junge Herr in einem sehr seltsamen Böhmisch unter großen Anstrengungen die Geschichte eines Zimmers erzählte, welches irgendwo zu vermieten sein sollte. Seit fünf Tagen wiederholte Land diese Behauptung vor allen Türen und war ganz satt und matt von den Speisedünsten und Verwünschungen, welche er dafür mitbekommen hatte. Da Frau Wanka, mit welcher er sich deutsch verständigen konnte, keine unverhältnismäßigen Ansprüche machte, und das Hinterzimmer ihm ruhig und erträglich schien, beschloß er zu bleiben. »Lärm mache ich keinen«, sagte er mit seiner etwas ängstlichen Stimme am Ende ihrer Unterredung, »und gestört werden Sie durch mich nicht sein. Unter Tags bin ich ja viel im Geschäft, und abends, – Gott, da liest man ein wenig und . . .« »Bitte, bitte«, erwiderte Frau Wanka auch etwas verlegen. Und in der Türe wandte sie sich etwas zurück: »Verzeihen Sie, Herr, vielleicht darf ich fragen, was Sie sind?« Pause. – »Apotheker«, sagte der junge Mensch traurig und sah dabei in die Mauern der Malteserkirche hinein. – Sie störten einander wirklich nicht, Wankas und der junge Provisor. Sie sahen einander kaum. Luisa vermied es, ihm zu begegnen; es schmerzte sie zu sehr, einen fremden Menschen in das Zimmer des Zdenko eintreten zu sehen, und sie konnte nicht fassen, wie die Mutter das hatte über sich bringen können. Sie verstand die Mutter überhaupt nicht mehr, seit sie ihr eines Abends eine lange Rede gehalten hatte, drin viel von dem ewigen Nichtstun, mehr noch von Pflicht und Arbeit handelte. Und als sich Luisa zage bereit gefunden hatte, in die Häuser zu gehen oder für ein Geschäft zu arbeiten, geschah etwas sehr Erstaunliches. »Du mußt höher hinauf, das ist nichts für dich«, so etwa war die Erwiderung der Witwe, »ich hätte gleich von vornherein daran denken sollen. Wozu hast du denn in Krummau Klavierstunden genommen; da kamst du doch ziemlich weit. Und im Französischen. Wenn du es nach unserem Umzug nach Prag nicht vernachlässigt hättest, könntest du heute schon Stunden geben.«
Luisa lauschte: »Stunden geben?«
»Freilich. Erst neulich sagte mir die Frau Oberstin, sie wüßte eine schöne Stelle für dich, wenn du nur ein bißchen mit Kindern umzugehen verständest und die Anfangsgründe im Französischen . . .« Das Weitere vernahm Luisa gar nicht, es war ihr zu neu und fremd, was die Mutter erzählte. Aber abends oft, wenn die Mutter mit Rosalka in der Küche abrechnete, und Luisa, schon halb entkleidet, am Rande ihres Bettes saß und sich so recht müde und klein fühlte, faltete sie die Hände und sprach ihr erstes Kindergebet und glaubte seinen lieben, verblaßten Worten, daß sie wirklich noch ein Kind, ein kleines, blondes Kind sei, und sie sehnte etwas über sich wie einen treuen, traulichen Schutz und träumte dann von Engeln mit breiten, goldenen Flügeln.
Aber trotz alledem war es wirklich nach dem Willen der Mutter geschehen. Luisa nahm Unterricht in Musik und im Französischen, täglich mehrere Stunden, und ihre Lehrerinnen versicherten, daß sie gute Fortschritte mache. Sie selbst wußte nichts davon. Sie begriff allmählich, daß sie einmal andere prächtige und märchenhafte Dinge besessen hätte – es war lange her – und daß der Ersatz, den man ihr nun gab, arm und kalt und ohne alle Schönheit war. Und sie lebte einen Winter in stumpfer, williger Ergebenheit hin, ohne daß irgend etwas sich veränderte, als daß sie blasser, kleiner und leiser wurde. Ihr Schritt war kaum mehr zu vernehmen, und wie oft erschrak eines von den Nachbarskindern, wenn sie, ohne daß die Treppe geknarrt hatte, mitten im Gange stand, und es lief meist schreiend davon, wenn das Mädchen die bleichen Hände ihm mit zaghafter Zärtlichkeit entgegenhielt. – So schienen es äußerlich ganz ruhige Zeiten zu sein, in welchen jeder seine Pflicht tat ohne Erregung oder Störung, und doch bestand ein stiller und unerbittlicher Kampf zwischen der tüchtigen, tätigen Witwe, die mit jedem Tag rüstiger wurde, und dem duldenden Mädchen, welches vor Erstaunen noch nicht wußte, wie ihm geschah, und gegen die rücksichtslose Entschlossenheit der Mutter keine andere Waffe fand, als dieses unmerkliche, stumme Verwelken, das seinem Gesichtchen eine so rührende, wehmütige Schönheit verlieh.
Vielleicht sah Ernst Land diese Schönheit, aber er erkannte sie nicht. Er fürchtete sich vor den Frauen, und doch dachte er manchen Abend an sie, an irgend ein unbestimmtes Bild von Anmut und Güte, welches bald die hütenden Hände über ihm hielt, bald bang und zaghaft von seinem Schutz und seiner Hilfe lebte. Er war in engen Verhältnissen mitten in der Stadt herangewachsen, ohne Geschwister, ohne Freunde, förmlich großgehetzt von seinem alten, verbitterten Vater, der nicht erwarten konnte, bis der Sohn zu verdienen begann. Er riß ihn endlich aus den Studien, gerade als der Jüngling Gefallen gefunden hatte an der Wissenschaft, und hielt seine Pflicht für erfüllt von dem Augenblicke an, da Ernst in einer Apotheke untergebracht und versorgt war. Nun konnte er machen, was er wollte. »Nun steht dir die Welt offen«, pflegte der alte Land mit dem letzten Pathos, dessen er fähig war, zu erklären. Der junge Mann aber schien keine Sehnsucht zu haben nach dieser »offenen Welt«. Seine Gedanken pilgerten nicht hinaus in das Neue und Unbestimmte; wenn er sie nicht beobachtete, kehrten sie auf tausend heimlichen Pfaden zu der einzigen, erloschenen Schönheit seiner Kindheit zurück und knieten hin vor einer kleinen, traurigen Frau, von der er nichts wußte, als daß sie weiche, slavische Lieder sang und zur Zeit, da er begann in die Schule zu gehen, im dunklen Hinterzimmer auf dem Bette lag und, ohne jemandem davon zu sagen, ganz langsam und lautlos, vielleicht ein Jahr lang, starb. Damals fürchtete er sich fast vor ihr, aber als sie so früh fortgegangen war, vermißte er sie überall und gewöhnte sich, alles Gute, was ihm geschah, immer wieder ihrer zarten Liebe zuzuschreiben, von welcher er glaubte, daß sie über seinen Tagen wach geblieben sei. Es geht frühverwaisten Kindern so: Alle Freuden, die ihre Gespielen sorglos und selig untereinander teilen, wollen sie nicht antasten und winden sie in stiller Treue immer wieder um das eine dunkle Bild ihrer Sehnsucht, das in diesem Rahmen rührender Opfer mählich klarer, glücklicher, teilnehmender scheint. Und weil sie arm bleiben, bleiben sie einsam, und weil sie ihre Freuden nicht verraten, gewinnen sie keine Genossen dafür. Überhaupt: wem die Mutter nicht den Weg in die Welt gezeigt hat, der sucht und sucht und kann keine Türe finden.
Erst seit der Provisor bei Wankas wohnte, konnte es geschehen, daß er manchmal das Gefühl hatte, zu Hause zu sein. Er war gerne in seinem Stübchen und brachte die freien Sonntage damit zu, vor dem großen Schreibtische, in den schweren Rauchwolken seiner Pfeife verloren, in alten Büchern zu lesen, über deren vergilbten Blättern er Heut und Morgen vergaß. Was Wunder, daß er ein leises Pochen an seiner Türe überhörte und erst erschreckt auffuhr, als Luisa eintrat und hinter dem dichten Tabaksqualm zag und unschlüssig stehen blieb. Sie war wie ein Traum in ihrem verblaßten, schmucklosen, blauen Kleid, mit den großen, schweigsamen Augen, und weil sie Blumen in der Hand trug, drei kleine, weiße Rosen, die sich scheu an sie anzuschmiegen schienen.
»Oh bitte, entschuldigen Sie«, sagte sie jetzt deutsch mit ein wenig slavischem Tonfall, »ich habe gedacht, Sie sind schon fort zum Essen . . . Ich will nur . . .«, und jetzt ging sie an ihm vorbei und steckte die drei weißen Rosen hinter ein kleines Brustbild Zdenkos, welches an der Fensterwand hing. Land hatte es oft betrachtet. Er sah jetzt, wie ihre Hände zitterten vor schmerzlicher Zärtlichkeit und, ganz in Anspruch genommen von diesem Schauen, war er nicht imstande, etwas zu sagen oder zu tun oder zu denken. Er hörte noch das Mädchen: »Sein erster Geburtstag, den er nicht mehr bei uns ist«, – und dann war alles wie vordem, er stand allein in dem sonntagstillen Stübchen, und hätte nun wohl weiterlesen können. Allein das gelang ihm nicht. Er mußte immer wieder nach der Türe hinsehen, als ob er irgendwen erwartete, und endlich begann der Rauch ihn zu ärgern und er öffnete das Fenster, so daß die Luft des klaren Februartages frisch und licht hereinfloß. Da war ihm einen Augenblick sehr festlich zu Mute und er dachte: »ich habe hohe Gäste bekommen: drei weiße Rosen«, und lächelte wie im Traum.
* * *
Im September kommen viele aus den Waldsommern und von der See in die Stadt zurück. Sie sind des Gehens in den Gassen nicht mehr gewohnt und halten plötzlich, ehe sie sich dessen versehen, ihren Hut in der Hand wie im Walde, oder sie singen ganz laut vor sich hin. Das macht: die Erinnerungen schlafen noch nicht in ihnen. Und wenn sie einander begegnen, sind sie redselig und mitteilsam. Sie fühlen, wie aus dem Erzählen etwas, wie der Glanz der letzten lauschenden Tage, aufsteigt und sich tröstend über die schwülen Straßen und Plätze breitet. Und vielleicht sagen sich die beiden beim Abschiednehmen: »Sie sehen sehr gut aus« – und »wie Sie sich verändert haben.« Und sie lächeln sich einen Augenblick verlegen und dankbar an.
So war auch Luisa zurückgekehrt. Seit dem frühen Frühling war sie fortgewesen: Es giebt da ein heißes, heimliches Land. Glühende Blumen sehen sich in schwarze Teiche, über denen Vögel und Wolken rauschen. Weiße Wege drängen sich zwischen die Stämme hoher und dunkler Bäume, und finden in diesen Wäldern ein lautloses, wogendes Leben. Gestalten kommen in unbegreiflichen Gewanden, und es können Menschen sein mit traurigen Mienen oder mit kühlen, lächelnden Lippen. Erst geschieht dir, du hättest von ihnen sagen hören und du mußt sinnen, wann und was. Aber sie küssen dich, und da erkennst du Freunde in ihnen, welche du geliebt und vergessen hast. Und du willst sie reuig wieder küssen. Vor deinem Gruße aber entfremden ihre Züge, und sie weichen zurück in den weiten, wogenden Wald, oder sie fallen dich an mit grausamen, blutenden Worten und wollen, du sollst ihnen dein Herz schenken dafür. Und es ist ein Land der Jugend: Kinder und Jünglinge, Jungfrauen und junge Mütter mit ihrem wehen Glück tanzen und tasten die leuchtenden Gelände hin, und ihre Wangen sind heiß von einer fremden Freude. Aber sie sehen einander nicht; denn in ihren Augen hat nichts Raum neben dem Staunen. Wenn sie die anderen Pilger klagen oder lachen hören, lauschen sie hin und glauben, daß das die Vögel sind oder die Wipfel oder die Winde. Sie haben alle ein Ziel: den Flammenberg, mitten im Lande. Und von dort findet manch einer nicht mehr heim.
Luisa aber kam aus dem Lande, welches Fieber heißt, langsam und lächelnd durch die Gärten der Genesung zurück. Zögernd erkannte sie sich selbst und die Mutter, welche ihr weinend die Hände küßte, und die Stube, die wie geschmückt war mit dem goldenen, vollen Septemberlicht. Es war eine festliche Wiederkehr.
Und was waren das für Tage seit dem ersten Ausgehen. Dieses fortwährende Wiedersehen und Begrüßen mit allen Dingen und mit allen Leuten. Und die Menschen lächelten, und die Dinge glänzten so. Sie ging wie an lauter schimmernden Spiegeln hin, welche ihr verraten wollten, wie breit und groß sie geworden sei. Sie wußte das auch. Sie fühlte sich stark und ausgeruht. Ohne davon zu erzählen, begann sie ihre Stunden zu besuchen. Sie hatte nichts vergessen, und noch vor Weihnachten konnte sie selbst einem kleinen Mädchen Klavierunterricht geben. Die Kleine hatte einen großen Respekt vor ihrer Lehrerin, und doch waren ihre Rollen in Wirklichkeit umgekehrt. Die Liebe dieses kleinen Wesens und seine Anhänglichkeit riefen täglich in Luisa eine Menge neuer freudiger Empfindungen wach, und in ihr war ein Hinhorchen, welchem des Kindes Fragen wie schöne, segnende Antworten klangen. Und ihr geschah mit einemmale so Vieles in diesen heitern und ereignislosen Tagen, daß sie nicht Zeit fand, über das Gestern hinauszublicken; was dahinter war, schien eine einzige, große Vergangenheit und Versöhnung zu sein, aus welcher kein Schatten mehr in dieses neue, reiche Leben hineinragte.
Am Weihnachtstage trat Luisa bei dem Provisor ein.
»Ich wollte Sie nur bitten, Herr Land, kommen Sie doch heute abend zu uns, wenn Sie sonst nichts vorhaben.«
Ernst Land lächelte dankbar. Dann folgte er dem Blicke des Mädchens und wurde verlegen. Über Zdenkos kleinem Brustbild waren drei frische, weiße Rosen.
Luisa streckte ihm beide Hände hin: »Das haben Sie getan?«
»Immer . . .«, und Land ärgerte sich über sein Rotwerden und versprach schnell, zu kommen.
In der Tür blieb das Mädchen nochmals stehen: »Sie sind immer so traurig, Herr Land.«
Land schwieg.
»Woran denken Sie?« und der Blick, mit welchem sie das fragte, ergriff ihn so, daß er mit einem Weinen in der Stimme gestand:
»An meine Mutter.«
Am Weihnachtsabend war über diese Menschen eine seltsame feierliche Stimmung gekommen. Und sie wollte auch nachher nicht mehr aus den Stuben. Sie blieb, wie der leise Tannenduft, über allen Dingen, selbst als Frau Josephine, von einer jähen Schwäche befallen, die langen Tage im Bette zubrachte. Luisa nahm ihr leise alle die kleinen häuslichen Mühen aus den Händen, eine nach der anderen, so daß sie endlich nichts kannte, als diesen lautlosen, dämmernden Feiertag hinter halbgesenkten Gardinen mit dem Ofensingen und dem silbernen Uhrenschlagen. Und am Abend gab es sanfte und schweigsame Gespräche zwischen den beiden Frauen, und es kam kein Gestern darin vor; nur im Klange der Stimmen bebte es noch: in der der Mutter als eine leise, zaghafte Bitte und in den Worten des Mädchens als ein lichtes, tröstendes Verzeihen. Und dieses war auch noch in dem tiefen Weinen wach, mit welchem Luisa sich eines Morgens über die Mutter beugte, die ohne Kampf und Schmerz in einem versöhnten Frieden von ihr gegangen war.
Schon eine Woche später nahm Luisa ihre Stunden wieder auf. Ihre Tage waren alle randvoll von der Menge freudiger Pflichten, und wenn auch die Nächte leer und bange über sie hereinbrachen, sie fühlte, daß ihr auch aus dem Dunkel des Leides keine feindlichen Gefahren mehr entgegenkamen. In jener Stille ihrer Genesung hatte sie sich zum erstenmal selbst gefunden und hatte sich so reich und weit erkannt, daß ihr Heiligstes durch diesen Verlust nicht einsamer geworden war. Der Gram lag nur wie eine feine Begrenzung auf ihrem Lächeln und auf ihrem Bewegen und konnte nicht mehr das Erwachen ihres Wesens hemmen.
Im Februar dieses Jahres war noch viel Winter gewesen; allein im März gab es einen Feiertag – es war das Josephifest –, der alle Welt toll machte. Nicht nur daß der Schnee nur da und dort noch an Hügeln und Bahndämmen, vergessen und verachtet, lag, – ein Grünen war über die befreiten Wiesen gekommen, und über Nacht wiegten sich in dem lauen, lichterjagenden Wind gelbe Kätzchen an den langen, kahlen Ruten.
Da war Luisa ausgegangen, um in der Kirche von Loretto bei dem großen Mittagshochamt zu beten. Aber sie war dann – kaum konnte sie sagen wie – an dem lockenden Glockenspiel der Kapuziner vorübergewandert und hatte erst aufgesehen, als sie hinter dem Baumgarten in einer der weiten einsamen Alleen stand und die Arme ausbreitete. Sie empfand, wie sehr sie alles um sich liebte, wie sehr das alles zu ihr gehörte, und daß dieses leise, freudige Werden mit seinem heimlichen Glück und seiner süßen Sehnsucht ihr Schicksal sei, nicht aber das, was Menschen in dunklem Drange wollten und irrten.
Auf dem Heimwege kamen ihr die lichten Schwärme fröhlicher Menschen entgegen, und da blieb sie lächelnd stehen und schaute über die helle, lebende Landschaft: Man konnte nicht glauben, daß alle diese lachenden Scharen wieder Raum finden würden in den engen Häusern drüben. Das macht: jeder von ihnen ist über sich selbst hinausgewachsen in den schimmernden Tag, den er kaum auf den Schultern spürt. Und der leuchtende Himmel wirft seinen goldenen Glanz so reich und rasch über die Menschen und Dinge, daß sie vergessen, ihre alltäglichen Schatten zu haben, und selber Licht sind in dem flimmernden Land. –
Bei diesem Bild mußte Luisa, sie wußte nicht warum, an Zdenko denken, und ob es ihm einmal geschehen sei in seinem dunklen Leben, daß Menschen so, licht und glücklich, ihm entgegenkamen.
Dann wandte sie sich heimwärts. Die Schatten der Menschen lagen grau in den kalten, verlassenen Gassen aufgeschichtet wie vergessene Alltagskleider, und ein dumpfer Wintergeruch schien von ihnen auszugehen. Luisa fröstelte, und auf den ersten tückischen Vorschlag der schiefen Bürgersteige, zu laufen, ging sie lustig ein und trabte nun recht kindisch bergab an den uralten Palästen vorbei, deren mürrische Tor-Riesen zürnend auf sie niedersahen. Vor denen aber hatte sie keine Furcht mehr.
In der Tür stand Rosalka und erzählte mit vielen Gesten den Nachbarinnen, welche sie umdrängten, eine wichtige Neuigkeit, an welcher die Frauen eifrig nickend Anteil nahmen. Sobald eine von ihnen Luisa erblickt hatte, begannen sie alle in ungeduldigem Ungestüm zu winken und zu rufen. Einige Kinder schrieen mit, und Luisa begriff von allem endlich nur das Wort: Besuch. Das genügte für ihr größtes Erstaunen. Während sie die finstere Stiege hinaufjagte, gab es in ihren Gedanken nur ein einziges, riesiges »Wer?«. Mit dieser Neugierde in den Augen sprang sie in die Stube, wo Frau von Meering mit unverhehlter Gekränktheit, steif und stramm, auf dem Sofa wartete. Aber das größere Erstaunen war doch auf der Seite der Oberstin, welche eben erst ihr Beileid für den letzten Unglücksfall mitgebracht hatte und außerstande war, diesem strahlenden, atemlosen Kind eines von ihren schönen, gnädigen Trauerworten zu zeigen. Sie fühlte eine mächtige, gerechte Entrüstung dieser lachenden Gesundheit gegenüber und kam sich ebenso überflüssig vor wie bei jenem früheren Fall. »Diese Leute«, dachte sie, »das muß in der Familie liegen.«
Inzwischen hatte Luisa sich zu einigen Entschuldigungen erholt und fragte die Dame artig nach dem Grunde ihres Besuches. Frau von Meering drückte hastig ihr Taschentuch vor das Gesicht und schluchzte aus einer Falte heraus: »Ihre arme, arme Mutter.«
Als auf diese ergreifende Bemerkung keine Antwort kam, sah die Oberstin auf und betonte mit strengen Augen: »Sie war eine sehr achtbare, brave Frau.«
Luisa saß mit gesenktem Blicke da und betrachtete – so schien es – die Spitze ihres zierlichen Fußes. Die Dame wartete noch eine Weile, und da Luisa immer noch nicht zu weinen begann, erkannte sie, daß diesem verstockten Mädchen gegenüber doch alle Milde und Anteilnahme erfolglos sein würde. Und indem sie gleichsam in ihrer Miene schon anfing, sich zu erheben, fügte sie in bitterem Tone hinzu:
»Ich wollte Ihnen nur das Eine sagen, mein Kind. Sie haben doch wohl schon die Veränderungen überlegt, welche seit dem Tode Ihrer braven Mutter nötig geworden sind?«
»Ich weiß nicht« – zögerte Luisa verlegen.
»Es versteht sich doch von selbst, daß Sie diesem jungen Mann augenblicklich kündigen müssen, der, wie ich mit Erstaunen vernehme, immer noch bei Ihnen wohnt.«
»Aber –« machte Luisa mit großen, erstaunten Augen. Dann zuckte ein Lächeln über ihr Gesicht, welches fast schelmisch war.
Frau von Meering stand schon an der Tür.
»Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Sie darauf aufmerksam zu machen. Sie können ja tun, wie es Ihnen beliebt.«
»Ja, gnädige Frau«, erwiderte Luisa in plötzlichem Übermut und stellte sich auf die Fußspitzen, um die Oberstin, welche immer größer zu werden schien, zu erreichen. Dann fragte sie lächelnd: »Wollen Sie nicht noch einen Augenblick ausruhen, gnädige Frau?«
Die Dame aber entfloh aus diesem gräßlichen Hause. Sie war schon in der Küche, wo sich ihr die alte Magd Rosalka ungestüm entgegenwarf, um ihr dann ganz behutsam den Ärmel der Seidenmantille in der Nähe des Ellbogens zu küssen. Die Beleidigte entriß sich mit einem knappen »Adieu« der sklavischen Verehrung und fand in dem Gaffen der Hausgenossen auf Stiegen und Gängen und in ihrer tuschelnden Bewunderung nur ein kleines Entgelt für diese »erlittene Mißhandlung«.
Luisa blieb eine Weile nachdenklich stehen. Rosalka war nach vorn ans Fenster gelaufen, um noch etwas von der vornehmen Dame zu sehen, welche, wie sie betonte, »bei uns« zu Besuch war.
Als sie wieder zurückkam, hatte sie sehr neugierige Augen.
Luisa bemerkte es nicht. Sie sagte während des Auf- und Niederschreitens: »Ich glaube, wir bleiben in dieser Wohnung. Und darüber hab ich ganz vergessen, mit Ihnen zu sprechen, Rosalka. Sie sind also jetzt bei mir im Dienst und unter den alten Bedingungen. Sie wollen doch?«
Die Alte verschwor ihre zeitliche und ewige Glückseligkeit dafür, und dabei passierte es, daß sie unter Tränen mit einemmal, statt wie von Kindheit her: Loisinka, »Fräulein« zu ihrer Herrin gesagt hatte.
Dann pochte Luisa an Lands Türe.
Er kam ihr lächelnd entgegen. »Sie Maulwurf«, rief sie ihn scherzend an, »immer in der Stube. Heute müssen Sie mal hinaus aus der Stadt. Frühling! Ich war draußen weit, weit«, und sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihm zeigen, wo der Frühling liegt. Ihre Augen glänzten so verheißend. Dann fuhr sie fort in wichtigem, geschäftlichem Ton: »Ich will Sie nicht stören, Herr Land. Nur das wollte ich Ihnen mitteilen. Ich behalte die Wohnung; es bleibt also alles beim alten, das heißt wenn sie mit dem Zimmer sonst zufrieden sind?«
Er suchte ihre Augen und sah dann rasch zu Boden: »Oh«, sagte er weich, »ich bin sehr gerne hier, ich glaube . . .« Er begann die Handflächen aneinander zu reiben . . .
Luisa hatte die Klinke in der Hand behalten: »Das ist schön«, half sie ihm und wurde auch etwas ratlos.
Er sah aus, als hätte er etwas auf dem Herzen.
Die beiden jungen Menschen schwiegen.
Dann begann das Mädchen: »Ich möchte so gern etwas besser deutsch lernen, vielleicht können Sie ein wenig böhmisch brauchen dafür.«
»Ja«, atmete Land auf, »ich liebe Ihre Sprache.«
»Also«, bat Luisa heiter, »dann kommen Sie doch, wenn Sie Zeit haben, eine Weile nach vorn. Es giebt ein paar Bücher da, auch deutsche.«
Und in der Türe fügte sie an: »Kommen Sie so oft Sie wollen«, und leiser: »Sie müssen mir viel von Ihrer Mutter erzählen.«