Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Die goldene Kiste

(1894)

Es war Frühling. – Selig lächelte die Sonne vom durchscheinenden, tiefblauen Himmel, selten aber verirrten sich ihre Strahlen bis zu dem Zwischenstocke jenes Hauses in der schmalen Seitengasse. Wenn einmal ein Lichtschimmer sprühend durch die kleinen Scheiben drang und auf die getünchte Rückwand des bescheidenen Zimmers huschende Kreise warf, so kam er gewiß schon aus zweiter Hand, er ward nämlich zurückgeworfen von irgend einem Fenster des gegenüberliegenden, hohen Hauses. Um so mehr freute sich der Kleine, der an dem Fenster des Zwischenstockes Tag für Tag spielte, über das muntere Treiben der zuckenden, lichten Flecke an der Wand und sprang empor und haschte nach ihnen und lachte dabei so aus voller Seele, daß selbst in das traurige Gesicht seines Mütterchens sich ein Widerschein dieses Lachens stahl.

Ein Jahr kaum war sie Witwe. Mit dem Tode des teuren Gatten brach auch der mäßige Wohlstand zusammen, den er durch seine Arbeit begründet hatte. Sie mußte die geräumige Wohnung mit diesem Zimmer vertauschen, und durch der eigenen Hände Mühen die wenigen früher ersparten Groschen mehren, um sich – und vor allem ihrem Kinde, dem kleinen, fünfjährigen Willy, das Notwendigste nicht versagen zu müssen. Was Wunder, wenn dieses Kind jetzt ihren ganzen Trost ausmachte!

Eben hob sie die matten Augen von der Arbeit und betrachtete mit liebevollem, innigem Blick den Kleinen, wie er, das frische Gesichtchen auf die fleischigen Fäustchen gestützt, am Fenster lehnte. –

Heute war es indessen nicht das Spiel der Sonne, das ihn so sehr beschäftigte, daß er sogar sein Pferdchen, welches auf dem Fensterbrett umgestürzt war, nicht beachtete. – Heute ging da draußen etwas Ungewöhnliches vor. Drüben im Hause war neulich ein Gewölbe leer geworden. Ein Tuchhändler hatte seinen Verkaufsraum in eine andere Straße verlegt, und seither hatte man dort geputzt, gescheuert, und hatte zum großen Vergnügen des Knaben die Bretter, welche die beiden Schaufenster des Nachts und Sonntags verdecken sollten, erst abgeschalt, dann schmutzig gelb und endlich mit tiefschwarzer, schöner Farbe bestrichen. – Hatte schon das das Interesse Willy's wachgerufen, so kannte heute sein Entzücken keine Grenzen mehr, als hinter den glänzenden Scheiben dort drüben goldene und silberne Kästchen und Kästen, – alle mit sechs Kanten, nicht sehr hoch und bald länger, bald kürzer, auftauchten. – Und nun als die Männer gar einen kleinen ganz goldenen Kasten, auf dem zwei schöne, wunderschöne Englein knieten, in das eine Auslagefenster emporgehoben, – da konnte er sich nicht enthalten, in die Händchen zu klatschen.

»Mutter, Mutter – sieh doch, sieh! Was ist das? dieses liebe, kleine Kästchen mit den zwei Englein drauf?«

Und er war nicht wenig erstaunt, als die Mutter, die aufgestanden war, gar nicht lachte, als sie die hübschen glänzenden Kistchen erblickte.

Nein, eine Träne trat sogar unter den geröteten Liderrändern hervor.

»Was ist das?« wiederholte zaghaft und in kleinlautem Tone das Kind.

»Siehst du, Willy«, sagte die Mutter ernst und fuhr mit dem Taschentuch leicht über die Augen, »da hinein in diese Truhen, da legen die Leute die Menschen, die der liebe Gott wieder zu sich nimmt von der Erde – Große und Kleine.«

»Dahinein?« flüsterte der Knabe, während seine Blicke noch immer mit Wohlgefallen auf dem Schaufenster ruhten. –

»Ja«, – fuhr die Mutter fort, – »auch den Papa haben sie in solch eine Truhe . . .«

»Aber«, unterbrach sie der Kleine, dessen Gedanken noch bei der ersten Erklärung weilten, »warum nimmt denn der liebe Gott kleine auch zu sich. Die müssen wohl sehr brav sein, wenn sie so bald in diese schöne Kiste kommen und dann im Himmel gleich Englein sein dürfen? Nichtwahr?«

Die Mutter umfaßte ihr Kind innig und herzlich.

Sie kniete nieder und schloß mit einem langen Kusse die frischen Lippen. – Der Kleine fragte nicht mehr. – Er wandte sich rasch wieder dem Fenster zu und blickte auf die großen Auslagescheiben. Ein glückliches vergnügtes Lächeln strahlte auf seinem Gesichtchen. –

Die Mutter aber saß wieder über ihre Arbeit gebeugt.

Plötzlich aber schaute sie auf.

Tränen rollten über ihre bleichen Wangen.

Sie ließ den Stoff sinken, faltete die Hände und sprach leise mit bebender Stimme: »Lieber Gott, erhalte mir ihn!« –

*

Eine dunkle, sternenlose Septembernacht. – In den Zimmern des Zwischenstockes war es still. Nur das Ticken der Wanduhr vernahm man und das Ächzen des Kindes, das dort vom Fieber gerüttelt im kleinen Bettchen sich wälzte. Die Mutter beugte sich über den armen Willy. – Der rötliche Schein der müden Nachtlampe huschte über ihr abgezehrtes Gesicht.

»Willy! Mein Kind, mein Herz, – willst du etwas?« Nur unzusammenhängende wirre Laute. »Hast du Schmerzen?« –

Keine Antwort.

»Gott, mein Gott, wie kam denn das nur alles!« Rasch und verworren hastet es durch die Erinnerung der gequälten Frau. – Ja, jener Abend. Nach dem Spiel. Kaum eine Woche ist es. – Wie erhitzt er war, – und der Herbstnebel, sagt der Doktor. – Und jetzt, jetzt – er gibt keine Hoffnung mehr. Wenn nicht die gesunde Natur . . . sie konnte es nicht begreifen. Hat er nicht gerufen? –

Da, wieder, ganz leise: »Mutter!«

»Was ist denn, mein Kind?«

»Das war . . . das war schön«, stammelte der Kleine, während er sich mühsam aufsetzte und das fieberrote Gesichtchen an den Arm der Mutter lehnte.

»Der liebe Himmelvater hat mir gesagt, ich soll zu ihm kommen. Nicht wahr, ich darf, Mamachen!

Erlaub . . . bitte«, und er faltete die kleinen, heißen Hände.

Da erfaßte ihn das Fieber von neuem. Er sank zurück. Die arme Mutter breitete sorgfältig die Decke über ihn. – Dann, von ihrem Schmerze übermannt, glitt sie auf die Kniee und, beide Hände krampfhaft an den Rand des Eisenbettchens gekrallt, betete sie leise . . . wirr, unzusammenhängend.

Die Uhr schlug acht mal. Durch das Fenster drang spärlich das fahle Licht des Herbsttages. Die Dielen erschienen grau, und die Gegenstände warfen schwere, schwarze Schatten. – Die Frau dort erhob sich von den Knieen, setzte sich wieder zur Seite des Bettchens hin und starrte mit tränenlosen, brennenden Augen ins Leere. Der Kleine schlief jetzt etwas ruhiger. Sein Atem aber ging sehr schnell, die Stirne war heiß und die Wangen gerötet. – Die Mutter legte die Hand leise auf die blonden, zerzausten Locken, und saß still. Nur wenn zu laute Stimmen auf der Treppe widerhallten oder eine Tür im Hause jäh zuschlug – zuckte sie zusammen.

»Papa, Papa!« schrie das Kind auf einmal und warf sich auf die andere Seite. Die Witwe erschrak. Willy aber lag wieder ruhig. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorüber. Das Rasseln verhallte allmählig. Das Rauschen der Besen klang über den Gangsteig.

»Lieber Gott, – lieber Gott, bitte!« stöhnte der Kleine. »Ich . . . ich . . . war brav . . . Du kannst die Mutter fragen!« – Die Mutter faltete zitternd die Hände. Jetzt öffnete Willy langsam die Augen. Erstaunt schaute er umher. »Ich war im Himmel, Mutter«, flüsterte das Kind – »im Himmel . . . aber nicht wahr . . . nicht wahr«, sprach das Kind lebhaft, »du wirst mich auch in die schöne, goldene Kiste legen, Mama weißt du, die dort drüben.« Er lächelte beglückt: »In die, wo die zwei Englein daraufsind.« Die Mutter schluchzte laut auf. – »In die, versprich mir . . .« In entsetzlicher Angst faßte die Witwe die beiden Händchen ihres Lieblings fest. – »Gott! Gott!« betete sie. Mehr konnte sie nicht sagen. Da empfand sie, wie ein kalter Schauer durch die Hände des Kindes ging, – ein Zucken – sie schrie auf.

Alle Röte war aus den Wangen des Kindes gewichen. Die Lippen bewegten sich noch – dann ward es ganz still.

Sie starrte das kleine Körperchen an. –

Eiseskälte schien davon auszugehen. –

Sie umfaßte die kleinen Glieder und drückte sie an sich. Umsonst!

Nur das Lächeln blieb um die starren Lippen der kleinen Leiche, – dieses glückselige Lächeln! –

. . . Und die farblose Herbstsonne glitzerte drüben auf den Särgen und auch auf dem schönen, kleinen, goldenen. – Die große Spiegelscheibe warf den Strahl zurück in das Zimmer im Zwischenstocke, und der fahle Schein huschte ängstlich über das bleiche Gesichtchen des armen kleinen Willy – und verlor sich allmählich auf der weißen Fläche der Wand . . .


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